2023
Christliche Gelassenheit
Mai 2023


11:17

Christliche Gelassenheit

„Da stand er auf, drohte dem Wind und sagte zu dem See: Schweig, sei still! Und der Wind legte sich und es trat völlige Stille ein.“ (Markus 4:39)

Als ich das letzte Mal bei der Generalkonferenz sprach, zeigte mir mein Schwiegersohn Ryan einen Tweet. Da stand: „Echt jetzt? Der Typ heißt Bragg“ (was auf Englisch „prahlen“ bedeutet) „und spricht nicht über Demut? Eine vertane Chance!“ Leider sorge ich heute wieder für eine Enttäuschung.

Don Bragg als Basketballspieler

Mein wunderbarer Vater gehörte zu den besten Amateur-Basketballspielern und spielte unter dem legendären Trainer John Wooden für die University of California. Er blieb sein ganzes Leben lang mit ihm befreundet, und gelegentlich kam Trainer Wooden mit seiner Frau zum Abendessen zu uns nach Hause. Er unterhielt sich immer gern mit mir über Basketball und anderes, was mich gerade beschäftigte. Kurz vor meinem letzten Jahr an der Highschool fragte ich ihn, welchen Rat er für mich habe. Ganz der Lehrer erwiderte er: „Dein Vater hat mir erzählt, dass du dich der Kirche Jesu Christi angeschlossen hast, also weiß ich, dass du Glauben an den Herrn hast. Stütz dich auf diesen Glauben und wahre in jeder Situation Gelassenheit. Sei inmitten des Sturms ein guter Mensch.“

Dieses Gespräch blieb mir über die Jahre in Erinnerung. Der Rat, in allen Lebenslagen gelassen und gefasst zu sein, besonders in widrigen Zeiten und unter Druck, hinterließ einen tiefen Eindruck. Ich konnte sehen, dass die Mannschaften von Trainer Wooden mit selbstsicherer Gelassenheit spielten und große Erfolge erzielten. Sie gewannen zehn Meistertitel.

Doch über Gelassenheit wird heutzutage kaum gesprochen und bei all der Unruhe und der Spaltung wird sie noch weniger praktiziert. Im Sport hören wir davon, dass sich ein gelassener Spieler in einem knappen Spiel durch nichts aus der Fassung bringen lässt oder eine Mannschaft, der es an Gelassenheit fehlt, völlig aufgelöst agiert. Gelassenheit ist jedoch nicht nur im Sport eine wunderbare Eigenschaft. Sie ist in vielen Lebensbereichen nötig und kann Eltern, Führungsverantwortlichen, Missionaren, Lehrern, Schülern und allen anderen, die den Stürmen des Lebens ausgesetzt sind, ein Segen sein.

Im geistigen Sinne hilft uns selbstsichere Gelassenheit, ruhig zu bleiben und uns auf das zu konzentrieren, was am wichtigsten ist, vor allem wenn wir unter Druck stehen. Präsident Hugh B. Brown hat gesagt: „Der Glaube an Gott und daran, dass letztlich das Gute siegt, trägt dazu bei, dass man auch angesichts von Schwierigkeiten geistig und seelisch selbstsicher und gelassen bleibt.“1

Präsident Russell M. Nelson ist ein wunderbares Beispiel für solch selbstsichere geistige Gelassenheit. Als er in seiner Zeit als Chirurg einmal eine vierfache Bypass-Operation durchführte, sank der Blutdruck des Patienten plötzlich ab. Dr. Nelson beurteilte die Situation besonnen und stellte fest, dass ein Teammitglied versehentlich eine Klemme entfernt hatte. Die Klemme wurde sofort ersetzt, und Dr. Nelson tröstete das Teammitglied mit den Worten: „Ich mag Sie immer noch.“ Dann fügte er scherzhaft hinzu: „An manchen Tagen mag ich Sie aber mehr als an anderen!“ Er zeigte, wie man in einem Notfall handelt – selbstsicher und gelassen konzentrierte er sich auf das Wichtigste, nämlich auf den Notfall zu reagieren. Präsident Nelson sagte dazu: „Es geht um höchste Selbstdisziplin. Die ganz natürliche Reaktion wäre: ‚Trainer, wechsle mich aus! Ich will nach Hause.‘ Doch das geht natürlich nicht. Ein Leben hängt gänzlich vom gesamten OP-Team ab. Man muss also genauso ruhig, entspannt und scharfsinnig bleiben wie sonst auch.“2

Natürlich ist der Erretter das größte Vorbild an selbstsicherer Gelassenheit.

Im Garten Getsemani, als er unbeschreibliche Qual litt und „gleichsam große Tropfen Blut schwitzte“3, zeigte der Erretter göttliche Gelassenheit mit der einfachen, doch erhabenen Aussage: „Nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen.“4 Jesus, der unter dem gewaltigen Druck stand, die Errettung aller Menschen zu ermöglichen, lässt hier drei wichtige Voraussetzungen erkennen, die uns seine innere Haltung verständlich machen. Erstens wusste er, wer er war, und er war seiner göttlichen Mission treu. Zudem wusste er um den großen Plan des Glücklichseins. Und schließlich wusste er, dass durch sein unbegrenztes Sühnopfer alle errettet werden, die sich voll Glauben mit ihm unter ein Joch begeben, indem sie heilige Bündnisse schließen und halten, die sie durch die Verordnungen des Priestertums empfangen, was Elder Dale G. Renlund heute ja ganz wunderbar dargelegt hat.

Was es heißt, Gelassenheit zu wahren oder die Fassung zu verlieren, zeigt sich an den Geschehnissen, als Christus und seine Apostel den Garten Getsemani verließen. Als die Soldaten Jesus verhaften wollten, geriet Petrus aus der Fassung, ging auf den Diener des Hohepriesters, Malchus, los und schlug ihm das Ohr ab. Jesus Christus hingegen blieb gelassen und sorgte in der angespannten Lage für Beruhigung, indem er Malchus heilte.5

Diejenigen unter uns, denen es schwerfällt, Gelassenheit zu wahren, und die vielleicht den Mut verloren haben, sollten beachten, wie die Geschichte des Petrus weitergeht. Kurz nach diesem Vorfall und dem Kummer, weil er geleugnet hatte, Christus zu kennen,6 stand Petrus vor genau denselben religiösen Führern, die den Erretter verurteilt hatten, und gab im strengen Verhör mit selbstsicherer Gelassenheit redegewandt Zeugnis für die Göttlichkeit Jesu Christi.7

Wissen, wer man ist, und seiner göttlichen Identität treu bleiben

Betrachten wir doch einmal einige Elemente christlicher Gelassenheit. Zunächst einmal bringt die Erkenntnis, wer wir sind, und dass wir unserer göttlichen Identität treu bleiben, innere Ruhe. Christliche Gelassenheit erfordert, dass wir uns nicht mit anderen vergleichen oder so tun, als seien wir jemand, der wir nicht sind.8 Joseph Smith hat gesagt: „Wenn der Mensch das Wesen Gottes nicht begreift, dann begreift er auch sich selbst nicht.“9 Es ist einfach nicht möglich, göttliche Gelassenheit zu besitzen, ohne zu wissen, dass wir Söhne und Töchter eines liebevollen Vaters im Himmel sind.

In seiner Ansprache „Entscheidungen für die Ewigkeit“ hat Präsident Nelson ewige Wahrheiten angesprochen, wer wir sind: Wir sind Kinder Gottes, wir sind Kinder des Bundes und wir sind Jünger Christi. Er sprach dann die Verheißung aus: „Wer diese Wahrheiten annimmt, dem hilft der Vater im Himmel, das höchste Ziel zu erreichen und auf ewig in seiner heiligen Gegenwart zu leben.“10 Wir alle sind Geistwesen göttlicher Herkunft, die irdische Erfahrungen machen. Die Erkenntnis, wer wir sind, und dass wir dieser göttlichen Identität treu bleiben, ist die Grundlage dafür, sich christliche Gelassenheit anzueignen.

Wissen, dass es einen göttlichen Plan gibt

Wenn man sich dann vor Augen hält, dass es einen großen Plan gibt, erzeugt dies selbst unter schwierigen Bedingungen Mut und selbstsichere Gelassenheit. Nephi konnte „hingehen und das tun“11, was der Herr gebot, obwohl er „nicht im Voraus“ wusste, was er tun sollte12. Er wusste nämlich, dass er vom Heiligen Geist geführt werden würde, um den ewigen Plan eines liebevollen Vaters im Himmel zu erfüllen. Eine solche Gelassenheit entsteht dadurch, dass man die Sache aus ewiger Perspektive betrachtet. Der Herr hat seinen Jüngern geraten, ihre Augen zu erheben13 und „das Feierliche der Ewigkeit“ in ihrem Sinn verweilen zu lassen14. Wenn wir schwierige Zeiten im Rahmen des ewigen Plans sehen, wird aus Druck der Vorzug, Nächstenliebe zu zeigen, zu dienen, Wissen weiterzugeben und anderen Gutes zu tun. Eine ewige Perspektive ermöglicht christliche Gelassenheit.

Die helfende Macht Jesu Christi und seines Sühnopfers kennen

Schließlich gibt uns die helfende Macht Christi, die durch sein Sühnopfer möglich wurde, die Kraft, durchzuhalten und zu siegen. Dank Jesus Christus können wir einen Bund mit Gott schließen und werden gestärkt, wenn wir diesen Bund halten. Wir können in Freude und Ruhe an den Erretter gebunden sein, unabhängig von unseren Lebensumständen.15 In Alma 7 wird die helfende Macht Christi wunderbar erläutert. Der Erretter kann uns nicht nur von Sünde erlösen, sondern kann uns auch im Umgang mit all unseren Schwächen, Ängsten und irdischen Herausforderungen Kraft geben.

Wenn wir auf Christus blicken, können wir unsere Furcht zum Schweigen bringen, wie es Almas Volk im Land Helam getan hat.16 Als sich ein bedrohliches Heer sammelte, bewiesen diese treuen Jünger Christi Gelassenheit. Elder David A. Bednar hat gesagt: „Alma [hielt] die Gläubigen dazu an, sich des Herrn zu erinnern und an die Befreiung zu denken, die nur durch ihn möglich war (siehe 2 Nephi 2:8). Die Erkenntnis, dass der Heiland seine schützende Hand über sie hielt, versetzte die Menschen in die Lage, ihre Furcht zum Schweigen zu bringen.“17 Auch hier zeigt sich Gelassenheit.

Der große Mann im Sturm

Noach hat uns viel über Geduld inmitten des Sturms beigebracht, doch der Erretter ist der beste Lehrer dafür, wie man einen Sturm übersteht. Er ist der große Mann im Sturm. Nachdem der Erretter einen ganzen Tag lang gepredigt und mit seinen Aposteln gesprochen hatte, brauchte er etwas Ruhe und hatte den Wunsch, dass sie gemeinsam mit dem Boot zum anderen Ufer des Sees Gennesaret hinüberfuhren. Als der Erretter sich ausruhte, erhob sich ein heftiger Sturm. Als der Wind und die Wellen das Boot schon fast zum Kentern brachten, fürchteten die Apostel um ihr Leben. Bedenken Sie, dass einige dieser Apostel Fischer waren, die die Stürme auf diesem See sehr gut kannten! Dennoch weckten sie voller Sorge18 den Herrn und fragten ihn: „[Herr], kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen?“ Mit beispielhafter Gelassenheit stand der Erretter auf, „drohte dem Wind und sagte zu dem See: Schweig, sei still! Und der Wind legte sich und es trat völlige Stille ein.“19

Daraufhin brachte er seinen Aposteln etwas Wichtiges über die innere Haltung bei. Er fragte: „Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?“20 Er erinnerte sie daran, dass er der Erretter der Welt war und dass er vom Vater gesandt worden war, die Unsterblichkeit und das ewige Leben der Kinder Gottes zustande zu bringen. Gewiss würde der Sohn Gottes nicht auf einem Boot umkommen. Er verkörperte göttliche Gelassenheit, weil er um seine Göttlichkeit wusste, und er wusste, dass es den Plan der Errettung und Erhöhung gibt und wie entscheidend sein Sühnopfer für den ewigen Erfolg dieses Plans sein werde.

Durch Christus und sein Sühnopfer kommt alles Gute in unser Leben. Wenn wir daran denken, wer wir sind, wissen, dass es einen göttlichen Plan der Barmherzigkeit gibt, und in der Kraft des Herrn Mut schöpfen, können wir alles tun. Wir finden innere Ruhe. Wir sind in jedem Sturm gute Frauen und gute Männer.

Mögen wir uns um die Segnungen christlicher Gelassenheit bemühen, nicht nur, um selbst schwierige Zeiten zu meistern, sondern auch um anderen beizustehen und ihnen durch die Stürme ihres Lebens hindurchzuhelfen. An diesem Abend vor dem Palmsonntag gebe ich voll Freude Zeugnis für Jesus Christus. Er ist auferstanden. Ich gebe Zeugnis für den Frieden, die innere Ruhe und die himmlische Gelassenheit, die nur er in unser Leben bringen kann – im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.

Anmerkungen

  1. Hugh B. Brown, Generalkonferenz 1969

  2. Siehe Sheri Dew, Insights from a Prophet’s Life: Russell M. Nelson, 2019, Seite 66f.

  3. Joseph Smith Translation, Lukas 22:44; siehe auch Lukas 22:44

  4. Lukas 22:42

  5. Siehe Lukas 22:50,51; Johannes 18:10,11

  6. Siehe Matthäus 26:34,35,57-75

  7. Siehe Apostelgeschichte 4:8-10; Neal A. Maxwell, „Content with the Things Allotted unto Us“, Ensign, Mai 2000, Seite 74, sowie Liahona, Juli 2000, Seite 89: „Wenn wir uns geistig richtig ausrichten, kann uns Gelassenheit zuteilwerden, auch wenn wir nicht ‚die Bedeutung von allem‘ wissen [1 Nephi 11:17].“

  8. Siehe John R. Wooden, Wooden on Leadership, 2005, Seite 50: „Ich definiere Gelassenheit als sich selbst treu zu sein, sich nicht verunsichern zu lassen und nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten, ganz ungeachtet der Umstände oder der Situation. Das klingt vielleicht einfach, aber in schwierigen Zeiten kann Gelassenheit eine Eigenschaft sein, die fast unerreichbar zu sein scheint. Führungskräfte, denen es an Gelassenheit mangelt, geraten in Panik, wenn sie unter Druck stehen.

    Gelassenheit bedeutet, dass man an seiner Überzeugung festhält und entsprechend handelt, ganz gleich wie schlecht oder gut die Situation auch aussieht. Gelassenheit bedeutet, Verstellung oder Vortäuschung zu meiden, dass man sich nicht mit anderen vergleicht und nicht vorgibt, jemand zu sein, der man nicht ist. Gelassenheit bedeutet, unter allen Umständen ein tapferes Herz zu haben.“

  9. Lehren der Präsidenten der Kirche: Joseph Smith, Seite 44

  10. Russell M. Nelson, „Entscheidungen für die Ewigkeit“, Andacht für junge Erwachsene in aller Welt, 15. Mai 2022, broadcasts.churchofJesusChrist.org

  11. 1 Nephi 3:7

  12. Siehe 1 Nephi 4:6

  13. Siehe Johannes 4:35

  14. Lehre und Bündnisse 43:34; siehe auch James E. Faust, „The Dignity of Self“, Ensign, Mai 1981, Seite 10: „Man gewinnt erheblich an innerer Würde, wenn man in seinem Streben nach Heiligkeit aufwärts blickt. Wie die hohen Bäume müssen wir uns nach oben, zum Licht hin, strecken. Die wichtigste Lichtquelle, die wir entdecken können, ist die Gabe des Heiligen Geistes. Sie ist die Quelle innerer Kraft und inneren Friedens.“

  15. Siehe Russell M. Nelson, „Freude und geistiges Überleben“, Liahona, November 2016, Seite 82: „Meine lieben Brüder und Schwestern, die Freude, die wir empfinden, hat wenig mit unseren Lebensumständen und vielmehr damit zu tun, worauf wir im Leben den Blick richten.“

  16. Siehe Mosia 23:27,28

  17. David A. Bednar, „Darum brachten sie ihre Furcht zum Schweigen“, Liahona, Mai 2015, Seite 47

  18. Siehe Jeffrey R. Holland, Our Day Star Rising: Exploring the New Testament with Jeffrey R. Holland, 2022, Seite 61f.: „Außerdem waren dies erfahrene Männer, die mit ihm an Bord sind – elf der ursprünglichen Zwölf waren Galiläer (nur Judas Iskariot war Judäer). Sechs von diesen elf waren Fischer. Sie hatten ihr Leben auf diesem See verbracht. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt damit, dass sie dort fischten. Sie lebten seit ihrer Kindheit dort. Ihre Väter hatten sie, als sie noch klein waren, Netze flicken und Reparaturen am Boot vornehmen lassen. Sie kennen diesen See; sie kennen den Wind und die Wellen. Sie sind erfahrene Männer – und doch haben sie Angst. Und wenn sie Angst haben, muss dies ein gewaltiger Sturm sein.“

  19. Siehe Markus 4:35-39

  20. Markus 4:40