Kapitel 20
Auf des Heilands Weg der Nächstenliebe wandeln
Barmherzigkeit ist der Prüfstein, der zeigt, was für Jünger wir sind; er macht deutlich, wie sehr wir Gott und unsere Mitmenschen lieben.
Aus dem Leben von Howard W. Hunter
Präsident Howard W. Hunter hat gesagt: „Der Erretter hat uns seine Liebe, seine Dienste und sein Leben gegeben. … Bemühen wir uns doch, so zu geben, wie er gegeben hat.“1 Insbesondere hat Präsident Hunter die Mitglieder der Kirche aufgefordert, dem Beispiel, das der Erretter für Nächstenliebe gegeben hat, im Alltag zu folgen.
Es war bezeichnend für Howard W. Hunters juristische Laufbahn, dass er stets Nächstenliebe an den Tag legte. Einer seiner Anwaltskollegen hat erklärt:
„Er brachte viel Zeit damit zu, andere kostenlos rechtlich zu beraten, … weil er es einfach nicht übers Herz brachte, ihnen eine Rechnung zu schicken. … Er wurde als Freund und Führungsperson, als Ratgeber und Fachmann angesehen, dem es wichtiger war, dass andere die Hilfe erhielten, die sie benötigten, als dass er dafür entschädigt wurde.“2
Präsident Hunter zeichnete sich auch bei seinem Dienst in der Kirche durch Nächstenliebe aus. Eine Frau, die von ihm sagte, er sei ihr einflussreichster Lehrer gewesen, nannte dafür einige Gründe:
„Ich konnte bei ihm immer beobachten, dass er andere sehr schätzte, weil er ihnen hohe Priorität einräumte. Er hörte zu, um zu verstehen, und er sprach mit anderen über seine Erfahrungen – was zu seinen größten Freuden gehörte. Durch ihn verstand ich, wie wichtig diese Tugenden sind, und ich verspürte die Freude, die damit einhergeht, sie zu leben.“3
Eine andere Frau aus Präsident Hunters Pfahl in Kalifornien sprach diese anerkennenden Worte:
„Präsident Howard W. Hunter war vor Jahren unser Pfahlpräsident, als wir im Pfahl Pasadena lebten. Mein Vater war gestorben und meine Mutter musste sich nun allein um meine ältere Schwester und mich kümmern. Obwohl wir in diesem Pfahl, der ein riesiges Gebiet abdeckte, keine weithin bekannte Familie waren, kannte Präsident Hunter einen jeden von uns persönlich.
Ich erinnere mich am besten daran, dass er mir geholfen hat, mein Selbstwertgefühl zu steigern. Nach jeder Pfahlkonferenz standen wir Schlange, um ihm die Hand zu geben. Jedes Mal nahm er meine Mutter bei der Hand und fragte: ‚Schwester Sessions, wie geht es Ihnen und wie geht es Betty und Carolyn?‘ Ich war so begeistert, dass er uns beim Namen nannte. Ich wusste, dass er uns kannte und sich um unser Wohlergehen sorgte. Wenn ich daran zurückdenke, wird mir immer noch warm ums Herz.“4
Präsident Hunter hat einmal gesagt: „Ich empfinde es als unsere Aufgabe, zu dienen und zu erretten, aufzubauen und zu erhöhen.“5 Äußerungen seiner Amtsbrüder von den Zwölf Aposteln zeigen, wie gut er diese Aufgabe erfüllt hat. „Er schafft es, dass sich die Menschen wohlfühlen“, berichtete einer, „er erhebt sich über niemanden. Er ist ein guter Zuhörer.“ Ein anderer sagte: „Wenn man mit ihm unterwegs ist, merkt man, dass er immer sehr rücksichtsvoll ist und darauf achtet, dass jeder versorgt ist und dass niemandem Umstände gemacht werden und er niemandem zur Last fällt.“ Ein weiterer berichtete: „Er macht sich Gedanken um andere und ist sehr einfühlsam. Er hat Nächstenliebe und ein Herz, das vergibt. Er befasst sich mit dem Evangelium, der Menschheit und der menschlichen Natur.“6
Lehren von Howard W. Hunter
1
Die zwei großen Gebote sind der Prüfstein des Herrn für unsere Jüngerschaft
In alter Zeit prüfte man den Reinheitsgrad von Gold mit einem glatten, schwarzen, kieselhaltigen Stein, dem sogenannten Prüfstein. Rieb man ein Goldstück daran, so hinterließ es an der Oberfläche eine Spur. Die Farbe dieser Spur verglich der Goldschmied an einer Farbskala. Je mehr Kupfer die Legierung enthielt, desto röter wurde sie, während ein stärkerer Gelbton einen höheren Goldanteil anzeigte. Damit konnte man relativ präzise die Reinheit von Gold prüfen.
Es war eine schnelle und einfache Methode und ausreichend für die meisten Zwecke. Hatte der Goldschmied aber immer noch Zweifel am Reinheitsgehalt des Goldes, so unterzog er das Metall einer Feuerprobe.
Ich möchte Ihnen ans Herz legen, dass der Herr für Sie und mich einen Prüfstein bereitet hat, einen äußeren Maßstab für die innere Jüngerschaft, wodurch unsere Treue gemessen wird und der die bevorstehenden Feuer überstehen wird.
Als Jesus einmal das Volk belehrte, kam ein Gesetzeslehrer zu ihm und stellte ihm die Frage: „Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“
Jesus, der größte aller Lehrer, antwortete dem Mann, der sich offensichtlich gut im Gesetz auskannte, mit einer Gegenfrage: „Was steht im Gesetz? Was liest du dort?“
Der Mann nannte ohne Umschweife und zusammenfassend zwei Gebote: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst.“
Christus erwiderte zustimmend: „Handle danach, und du wirst leben.“ (Lukas 10:25-28.)
Ewiges Leben, das Leben Gottes, das Leben, worum wir uns bemühen, liegt in zwei Geboten verwurzelt. In der heiligen Schrift heißt es: „An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.“ (Matthäus 22:40.) Liebe Gott, und liebe deinen Nächsten. Das eine geht mit dem anderen Hand in Hand, sie sind untrennbar. Im allerhöchsten Sinne könnte man sie als synonym auffassen. Und es sind Gebote, nach denen ein jeder von uns leben kann.
Die Antwort, die Jesus dem Gesetzeslehrer gab, könnte man als unseren Prüfstein betrachten. Ein andermal sagte er: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25:40.) Unsere Liebe zu ihm wird er daran messen, wie sehr wir unsere Mitmenschen lieben und ihnen Gutes tun. Was für eine Spur hinterlassen wir auf dem Prüfstein des Herrn? Sind wir wahrhaft gute Mitmenschen? Ergibt die Prüfung, dass wir 24-karätig sind, oder zeigen sich Spuren von wertlosen Legierungen?7
2
Der Heiland hat uns gelehrt, jeden zu lieben, auch diejenigen, bei denen es uns vielleicht schwerfällt
Als ob er sich für eine so simple Frage entschuldigen wollte, fragte der Gesetzeslehrer weiter: „Und wer ist mein Nächster?” (Lukas 10:29.)
Für diese Frage sollten wir auf ewig dankbar sein, denn die Antwort, die der Erretter darauf gab, ist eins der bedeutungsvollsten und beliebtesten Gleichnisse, ein Gleichnis, das jeder gelesen oder gehört hat:
„Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen.
Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter.
Auch ein Levit kam zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter.
Dann kam ein Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie.
Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn.
Am andern Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.“ (Lukas 10:30-35.)
Dann fragte Jesus den Gesetzeslehrer: „Was meinst du: Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde?“ (Lukas 10:36.) Hier wendet der Herr den Prüfstein für Christlichkeit an. Damit soll festgestellt werden, was für eine Spur wir hinterlassen.
Sowohl der Priester als auch der Levit hätten an die Forderungen des Gesetzes denken sollen: „Du sollst nicht untätig zusehen, wie ein Esel oder ein Ochse deines Bruders auf dem Weg zusammenbricht. Du sollst dann nicht so tun, als gingen sie dich nichts an, sondern ihm helfen, sie wieder aufzurichten.“ (Deuteronomium 22:4.) Wenn das für einen Ochsen gilt, wie viel mehr muss man dann bereit sein, einem Bruder aus der Not zu helfen. Es ist so, wie Elder James E. Talmage geschrieben hat: „Ausreden [es nicht zu tun] sind leicht zu finden, sie schießen so schnell und reichlich in die Höhe wie das Unkraut am Wegesrand.“ (Jesus der Christus, Seite 354.)
Der Samariter hat uns ein Beispiel für reine, christliche Liebe gegeben. Er war barmherzig; er ging zu dem Mann, den die Räuber verletzt hatten, und verband ihm die Wunden. Er brachte ihn in eine Herberge, sorgte für ihn, zahlte für ihn und bot an, nötigenfalls mehr zu zahlen. Diese Geschichte zeigt die Liebe eines Nächsten für seinen Nächsten.
Ein altes Sprichwort besagt: Wer nur an sich selbst denkt, denkt nicht weit. Liebe hingegen erweitert den Horizont. Es kommt darauf an, dass wir unseren Nächsten lieben – auch den, den zu lieben uns schwerfällt. Bedenken wir, dass alle Menschen von Gott erschaffen sind, nicht nur die, die wir uns als Freunde aussuchen. Liebe sollte keine Grenzen kennen; genausowenig sollten wir unsere Treue auf wenige beschränken. Jesus hat gesagt: „Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner?“ (Matthäus 5:46.)8
3
Wir sollen die Bedrängten lieben und ihnen Gutes tun
Joseph Smith schrieb einen Brief an die Heiligen, der in der Zeitschrift Messenger and Advocate veröffentlicht wurde und davon handelt, dass wir einander lieben sollen, um vor Gott gerechtfertigt zu sein. Er schrieb:
„Liebe Brüder! Es ist eine Pflicht, die jeder Heilige seinen Brüdern gern und vorbehaltlos erweisen soll – sie immer zu lieben und ihnen jederzeit beizustehen. Um vor Gott gerechtfertigt zu sein, müssen wir einander lieben, wir müssen das Böse überwinden, wir müssen für die Vaterlosen und Witwen in ihrer Not sorgen und uns vor jeder Befleckung durch die Welt bewahren, denn diese Tugenden entspringen der erhabenen Quelle reiner Frömmigkeit. Wir müssen unseren Glauben stärken, indem wir jede gute Eigenschaft erwerben, die die Kinder des gesegneten Jesus ziert. Wir können beten, wenn es Zeit zum Beten ist, wir können unseren Nächsten lieben wie uns selbst und wir können in Drangsal treu bleiben, weil wir wissen, dass der Lohn dafür im Himmelreich umso größer ist. Welch ein Trost! Welche Freude! Oh, lasst mich das Leben der Rechtschaffenen leben, und lasst meinen Lohn dem gleich sein!“ (History of the Church, 2:229.)
Diese beiden Tugenden, nämlich Liebe und Dienstbereitschaft, müssen wir besitzen, wenn wir gute Mitmenschen sein und Frieden finden wollen. Diese Tugenden trug Elder Willard Richards wahrlich im Herzen. Im Gefängnis zu Carthage, am Nachmittag vor dem Märtyrertod von Joseph und Hyrum Smith, meinte der Gefängniswärter, die Zellen böten mehr Sicherheit. Joseph Smith wandte sich an Elder Richards und fragte: „Wenn wir in die Zelle gehen, kommst du dann mit uns?“
Aus Elder Richards Antwort sprach Liebe: „Bruder Joseph, du hast mich nicht gebeten, mit dir den Fluss zu überqueren, du hast mich nicht gebeten, nach Carthage mitzukommen, du hast mich nicht gebeten, mit dir ins Gefängnis zu gehen – glaubst du etwa, ich lasse dich jetzt im Stich? Ich sage dir aber, was ich tun werde: Wenn sie dich wegen Hochverrats zum Tode durch den Strang verurteilen, werde ich mich an deiner Stelle hängen lassen, und du kommst frei.“
Joseph muss sehr ergriffen gewesen sein, als er antwortete: „Aber das kannst du nicht.“
Darauf erwiderte Elder Richard felsenfest: „Ich werde es aber tun.“ (Siehe B. H. Roberts, A Comprehensive History of The Church, 2:283.)
Die Prüfung, die Elder Richards zu bestehen hatte, war wahrscheinlich schwieriger als die meisten unserer Prüfungen – eher eine Feuerprobe als ein Prüfstein. Aber wenn man uns aufforderte, für unsere Familie das Leben niederzulegen – würden wir es tun?
Barmherzigkeit ist der Prüfstein, der zeigt, was für Jünger wir sind; er macht deutlich, wie sehr wir Gott und unsere Mitmenschen lieben. Hinterlassen wir eine reine Goldspur oder gehen wir vorüber wie der Priester und der Levit?9
4
Wir müssen den Weg der Nächstenliebe, den Christus uns gewiesen hat, mit mehr Entschlossenheit gehen
Nur ein Jahr vor seinem tragischen Märtyrertod sagte der Prophet Joseph Smith in Nauvoo in einer wichtigen Botschaft an die Heiligen der Letzten Tage:
„Wenn wir Wert darauf legen, dass andere Menschen uns lieben, und wenn wir ihre Liebe gewinnen wollen, müssen wir die anderen Menschen lieben, sogar die Feinde, nicht nur die Freunde. … Die Christen sollen aufhören, miteinander zu zanken und zu streiten; sie sollen vielmehr untereinander Einigkeit und Freundschaft pflegen.“ (History of the Church, 5:498f.)
Dieser Rat ist heute ebenso von Bedeutung wie [damals]. Die Welt, in der wir leben, sei es zu Hause oder in der Ferne, benötigt das Evangelium Jesu Christi. Nur durch das Evangelium wird die Welt je Frieden erfahren. Wir müssen freundlicher zueinander sein, liebevoller und vergebungsbereiter. Wir müssen langmütiger und hilfsbereiter sein. Wir müssen allen Menschen freundschaftlich die Hand entgegenstrecken und müssen dem Drang nach Vergeltung widerstehen. Kurz gesagt: Wir müssen einander mit der reinen Christusliebe und mit unverfälschter Nächstenliebe lieben, einander mit Mitgefühl begegnen und, wenn es nötig ist, miteinander leiden, denn auf diese Weise liebt Gott uns.
In unseren Versammlungen singen wir oft ein schönes Lied, zu dem Susan Evans McCloud den Text geschrieben hat. Ich möchte Ihnen gern ein paar Zeilen daraus vorlesen.
O mein Heiland, dich zu lieben,
dir zu folgen, wünsch ich mir,
dich durch keine Sünd betrüben,
sondern treulich dienen dir. …
Warum meinen Nächsten richten,
bin doch selbst nicht ohne Fehl;
kann ich denn den Kummer sehen,
tief versteckt in seiner Seel? …
Ich will meinem Nächsten dienen,
heilend, tröstend bei ihm sein;
wenn er mutlos wird und müde,
neue Hoffnung ihm verleihn.
Ich will meinem Nächsten dienen,
Herr, ich will folgen dir.
(Gesangbuch, Nr. 148.)
Wir müssen den Weg, den Christus uns gewiesen hat, mit mehr Entschlossenheit und größerer Nächstenliebe gehen. Wir müssen innehalten und unserem Nächsten tröstend beiseite stehen. Dann erhalten wir sicherlich Kraft, die über unsere eigene hinausgeht. Wenn wir dem Beispiel Christi besser folgten, könnten wir viel öfter denen beistehen, die mutlos und müde sind, und ihnen gegenüber gütiger sein. Ja, Herr, wir wollen dir folgen!10
5
Nächstenliebe ist die reine Christusliebe, und sie hört niemals auf
[Jesus] hat gesagt: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! … Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“ (Johannes 13:34,35.) Diese Liebe, die wir für unsere Brüder und Schwestern der großen Menschheitsfamilie empfinden sollen und die Christus für jeden von uns empfindet, heißt Nächstenliebe oder „die reine Christusliebe“ (Moroni 7:47). Diese Liebe war die Triebfeder für das Leiden und die Opferbereitschaft, die mit dem Sühnopfer Christi verknüpft sind. Sie ist die höchste Stufe, die der Mensch erreichen kann, und der innigste Ausdruck des Herzens. …
Sie schließt alle anderen göttlichen Tugenden ein. Sie ist sowohl am Anfang als auch am Ende des Erlösungsplans zu finden. Wenn auch alles andere aufhört, so hört doch die Liebe, die Christusliebe, niemals auf. Sie ist die größte aller göttlichen Eigenschaften.
Aus seiner übergroßen Liebe sprach Jesus zu den Armen, den Unterdrückten, den Witwen, den kleinen Kindern; er sprach zu Bauern und Fischern und zu denen, die die Ziegen und Schafe hüteten; zu Fremden ohne Bürgerrecht, er wandte sich an die Reichen, die politisch Mächtigen sowie an die unfreundlichen Pharisäer und Schriftgelehrten. Er diente den Armen und den Hungernden, den Benachteiligten und den Kranken. Er segnete die Lahmen und die Blinden, die Tauben und andere mit körperlichen Gebrechen. Er trieb Dämonen und böse Geister aus, die geistige oder seelische Leiden verursachten. Er reinigte diejenigen, die unter der Last der Sünde litten. Er lehrte Liebe und lebte immer wieder selbstlosen Dienst am Nächsten vor. Jedem wurde seine Liebe zuteil. Jeder genoss „diesen Vorzug, der eine so wie der andere, und keinem [war] es verwehrt“ (2 Nephi 26:28). All das ist Ausdruck und Beispiel seiner grenzenlosen Nächstenliebe.
Es würde der Welt, in der wir leben, großen Nutzen bringen, wenn sich die Menschen auf der ganzen Welt in reiner Christusliebe übten – eine Liebe, die gütig, sanftmütig und demütig ist. Sie neidet nicht und ist nicht stolz. Sie ist selbstlos, denn sie sucht nicht ihren Vorteil. Sie billigt nicht Böswilligkeit, freut sich nicht an Schlechtigkeit und lässt blindem Eifer, Hass und Gewalt keinen Raum. Sie entschuldigt nicht Spott, vulgäres Verhalten, Missbrauch oder Ausgrenzung. Sie lässt Menschen unterschiedlicher Herkunft in christlicher Liebe zusammen leben, ungeachtet ihres Glaubens, ihrer Rasse, ihrer Staatsbürgerschaft, ihrer finanziellen Lage, ihres Bildungsstandes oder ihrer Kultur.
Der Erretter hat uns geboten, einander zu lieben, wie er uns geliebt hat, und uns mit der bindenden Kraft der Nächstenliebe zu bekleiden, wie er sich bekleidet hat (siehe LuB 88:125). Wir sind gefordert, unsere innersten Gefühle zu reinigen, unser Herz zu ändern und unser äußeres Verhalten und Erscheinungsbild dem anzupassen, was wir – wie wir behaupten – innerlich glauben und empfinden. Wir müssen wahre Jünger Christi sein.11
6
Den Nächsten zu lieben ist „ein vortrefflicherer Weg“
Als Junge lernte Bruder Vern Crowley etwas ganz Wesentliches, etwas von der Lektion, die der Prophet Joseph Smith die Heiligen in Nauvoo gelehrt hatte, als er ihnen auftrug, „die anderen Menschen [zu] lieben, sogar die Feinde, nicht nur die Freunde“. Diese Lektion gilt auch für jeden von uns.
Als sein Vater krank wurde, übernahm Vern Crowley die Verantwortung für den Schrotthandel der Familie, obwohl er erst 15 Jahre alt war. Gelegentlich wurde der Junge von einem Kunden übervorteilt, und über Nacht verschwanden auch manchmal Autoteile vom Platz. Vern war verärgert und schwor sich, den Dieb zu erwischen und ein Exempel zu statuieren. Er würde sich rächen.
Gerade als sein Vater sich langsam erholte, machte Vern nach Geschäftsschluss seine Runde. Es war fast dunkel. In einer entfernten Ecke des Platzes fiel ihm auf, dass jemand ein großes Maschinenteil zum hinteren Zaun schleppte. Er rannte wie ein Spitzenathlet und stellte den jungen Dieb. Er wollte seinem Ärger schon mit Fäusten Luft machen, den Jungen dann zum Büro zerren und die Polizei rufen. Sein Herz war von Zorn und Rache erfüllt. Er hatte den Dieb gefangen und wollte es ihm nun heimzahlen.
Plötzlich tauchte Verns Vater auf, legte seinem Sohn die schwache Hand auf die Schulter und sagte: „Ich sehe, du bist außer dir, Vern. Lass mich das machen.“ Dann ging er auf den ertappten Dieb zu, legte ihm den Arm um die Schulter und fragte: „Warum tust du das, mein Junge? Warum hast du versucht, das Getriebe zu stehlen?“ Dann ging er mit seinem Arm um den Jungen auf das Büro zu und stellte ihm dabei Fragen über dessen Schwierigkeiten mit seinem Auto. Als sie beim Büro angekommen waren, sagte der Vater: „Ich glaube, deine Kupplung ist fällig, und darum hast du wohl den Ärger damit.“
Unterdessen war Vern außer sich vor Wut. „Was geht mich seine Kupplung an?“, dachte er. „Holen wir die Polizei, dann haben wirʼs hinter uns.“ Aber sein Vater redete weiter: „Vern, hol ihm eine Kupplung und ein Ausrücklager. Und bring auch gleich eine Druckplatte mit. Das müsste reichen.“ Der Vater gab dem jungen Mann die Teile und sagte: „Nimm das und auch das Getriebe. Du brauchst nicht zu stehlen. Bitte einfach darum. Für jedes Problem gibt es auch eine Lösung. Die Leute helfen gern.“
Bruder Vern Crowley sagte, damals habe er eine Lektion fürs Leben über Liebe gelernt. Der junge Mann kehrte noch oft zum Schrottplatz zurück. Von sich aus zahlte er Monat für Monat alle Teile ab, die Verns Vater ihm gegeben hatte, auch das Getriebe. Dabei fragte er Vern, warum sein Vater so war und das getan hatte. Vern erzählte ihm von ihrem Glauben als Heilige der Letzten Tage und wie sehr sein Vater Gott und die Menschen liebte. Der junge Mann, der damals fast zum Dieb geworden wäre, ließ sich schließlich taufen. Vern sagte später: „Es fällt mir schwer zu schildern, was ich damals empfand und durchmachte. Auch ich war jung. Ich hatte den Dieb gefangen, und ich wollte die schwerste Strafe für ihn. Aber mein Vater lehrte mich einen vortrefflicheren Weg.“
Eine anderer Weg? Ein besserer Weg? Ein höherer Weg? Ein vortrefflicherer Weg? Wie viel die Welt doch daraus lernen könnte! Moroni hat gesagt:
„Darum, wer an Gott glaubt, der darf mit Gewissheit auf eine bessere Welt hoffen. …
Indem Gott seinen Sohn gab, hat er einen noch vortrefflicheren Weg bereitet.“ (Ether 12:4,11.)12
Anregungen für Studium und Unterricht
Fragen
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Warum bezeichnet Präsident Hunter die beiden größten Gebote als den „Prüfstein des Herrn“? (Siehe Abschnitt 1.) Denken Sie darüber nach, was Sie auf die Fragen von Präsident Hunter am Ende von Abschnitt 1 antworten würden.
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Denken Sie darüber nach, was Präsident Hunter über das Gleichnis des barmherzigen Samariters gesagt hat (siehe Abschnitt 2). Was lernen wir daraus über Nächstenliebe? Wie können wir unsere Liebe für diejenigen vergrößern, bei denen es uns vielleicht schwerfällt?
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In Abschnitt 3 spricht Präsident Hunter darüber, dass wir andere lieben und ihnen in schweren Zeiten beistehen sollen. Wie haben Sie sich gefühlt, als jemand Ihnen in schweren Zeit beigestanden und Ihnen Gutes getan hat?
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Denken Sie über Präsident Hunters Aussage nach, des Herrn Beispiel an Nächstenliebe nachzufolgen (Abschnitt 4). Wie können wir mehr Liebe für andere entwickeln? Wie können wir ihnen diese Liebe deutlicher zeigen?
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In Abschnitt 5 erinnert Präsident Hunter daran, wie Jesus seine Liebe gezeigt hat. Wann haben Sie schon einmal die Liebe des Erretters gespürt? Welche Segnungen haben sich ergeben, als Sie sich in reiner Christusliebe geübt haben?
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Was kann man aus der Erfahrung von Vern Crowley lernen? (Siehe Abschnitt 6.) Wie können wir Nächstenliebe an die Stelle von Zorn und Rachegelüsten treten lassen? Durch welche Erfahrungen haben Sie gelernt, dass Nächstenliebe ein vortrefflicherer Weg ist?
Einschlägige Schriftstellen
Matthäus 25:31-46; 1 Korinther 13; Epheser 4:29-32; 1 Johannes 4:20; Mosia 4:13-27; Alma 34:28,29; Ether 12:33,34; Moroni 7:45-48; LuB 121:45,46
Studienhilfe
„Wenn Sie gemäß dem handeln, was Sie gelernt haben, vertieft und erweitert sich Ihr Verständnis (siehe Johannes 7:17).“ (Verkündet mein Evangelium!, Seite 21.) Überlegen Sie, wie Sie zu Hause, bei der Arbeit und bei Ihren Aufgaben in der Kirche diese Lehren anwenden können.