Den Gläubigen ein Vorbild
„Wahre Liebe kann das Leben und das Wesen eines Menschen verändern.”
Das war eine schöne und lohnende Versammlung. Ich bekräftige den Rat, den Präsident Howard W. Hunter gegeben hat, und ebenso den Rat der Schwestern, die zu uns gesprochen haben. Wenn ich mir die große Zuhörerschaft betrachte, die heute Abend hier versammelt ist, fällt mir etwas ein, was Präsident Heber J. Grant einmal gesagt hat, nämlich: „Ich denke oft, daß ein Foto von unseren lieben Schwestern mit ihrem intelligenten, gottähnlichen Gesicht aller Welt ein Zeugnis für die Redlichkeit unseres Volkes sein müßte.” (Gospel Standards, Hg. G. Homer Durham, Salt Lake City, 1941, Seite 150.)
Gewiß brauchten wir das größte Weitwinkelobjektiv, um Sie alle auf ein Foto zu bringen. Das steht uns nicht zur Verfügung, doch Gott ist alles möglich. Sein Blickfeld ist unbegrenzt, er kann uns buchstäblich alle sehen und segnen. Wir brauchen nur so zu leben, daß wir die Segnungen verdienen, die auf unserer Treue gegenüber seinen Geboten beruhen.
Wie Präsident George Albert Smith sagte: „Ich möchte Ihnen, den Töchtern Gottes, dies einprägen: … wenn die Welt bestehen bleiben soll, dann müssen Sie den Glauben bewahren. Wenn die Welt glücklich sein soll, dann müssen Sie vorangehen. … Wenn wir unsere körperliche und geistige Kraft und unsere spirituelle Freude bewahren wollen, dann muß das nach den Bedingungen des Herrn geschehen.” Vielleicht hatte eine junge Frau dies im Sinn, als sie ihre innersten Gefühle zum Ausdruck brachte: „Was wir wirklich brauchen, sind weniger Kritik und mehr Vorbilder, denen wir nacheifern können.” (Relief Society Magazine, Dezember 1945, Seite 71 f.)
Oft sind wir zu schnell dabei zu kritisieren, zu voreilig mit unserem Urteil, allzu bereit, eine Gelegenheit, zu helfen, zu erbauen, ja, sogar zu erretten, vorübergehen zu lassen. Manche zeigen mit dem Finger auf die Abgeirrten oder vom Unglück Verfolgten und spotten: „Oh, sie wird sich niemals ändern. Sie war schon immer verdorben.” Einige wenige sehen hinter die äußere Erscheinung und bemerken den wahren Wert einer Menschenseele. Wenn sie es tun, geschehen Wunder. Die Unterdrückten, die Entmutigten, die Hilflosen werden „nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes” (Epheser 2:19). Wahre Liebe kann das Leben und das Wesen eines Menschen verändern.
Diese Wahrheit wird auf der Bühne in My Fair Lady auf wunderbare Weise dargestellt. Eliza Doolittle, das Blumenmädchen, sagt zu jemandem, den sie gernhat: „Weißt du, abgesehen von dem, was jeder lernen kann - sich richtig zu kleiden und in angemessener Weise zu sprechen —, besteht der wahre Unterschied zwischen einer Dame und einem Blumenmädchen nicht darin, wie sie sich benimmt, sondern darin, wie sie behandelt wird. Für Professor Higgins werde ich immer ein Blumenmädchen bleiben, weil er mich wie ein Blumenmädchen behandelt und immer behandeln wird, aber ich weiß, daß ich für dich eine Dame sein kann, weil du mich immer wie eine Dame behandelst und immer so behandeln wirst.”
Der Apostel Paulus hat seinem geliebten Mitarbeiter Timotheus einen Brief geschrieben, in dem er inspirierten Rat erteilt hat, der heute für Sie und mich ebenso anwendbar ist wie damals für Timotheus. Hören Sie seinen Worten zu: „Vernachlässige die Gnade nicht, die in dir ist. … Sei den Gläubigen ein Vorbild in deinen Worten, in deinem Lebenswandel, in der Liebe, im Glauben, in der Lauterkeit.” (l Timotheus 4:14,12.) Wir brauchen nicht auf ein umwälzendes Ereignis zu warten, ein dramatisches Geschehen in der Welt oder auf eine besondere Einladung, um ein Vorbild zu sein - ein Vorbild, dem man nacheifern kann. Jetzt und hier stehen uns alle Möglichkeiten offen. Doch sie sind vergänglich. Wahrscheinlich sind sie bei uns zu Hause und im täglichen Leben zu finden. Unser Herr und Meister hat den Weg gezeigt: Er zog umher und tat Gutes. (Siehe Apostelgeschichte 10:38.) Er war in der Tat den Gläubigen ein Vorbild ein Vorbild, dem wir nacheifern können. Sind wir es auch?
Glücklich sind die Menschen, die einander aufrichtig achten. Dadurch kommt die Frau dem Mann näher, der Mann schätzt seine Frau mehr, und die Kinder sind glücklich, wie Kinder es sein sollen. Wo die Mitglieder einer Familie einander achten, werden die Kinder nicht vernachlässigt und brauchen sich nicht ins „Nimmerland” zu flüchten, wo sie auf sich allein gestellt sind und ihre Eltern sie nicht erziehen, wie es sich gehört.
Denen, die noch nicht verheiratet sind, rate ich: Wer in der Hoffnung heiratet, eine dauerhafte Partnerschaft aufzubauen, der braucht bestimmte Fähigkeiten und eine bestimmte Einstellung. Beide müssen sich aneinander anpassen können. Sie müssen Probleme gemeinsam bewältigen können. Sie müssen bereit sein, zu geben und zu nehmen, um in Harmonie leben zu können. Sie müssen in höchstem Maße selbstlos sein und zuerst an den Partner denken anstatt an die eigenen Wünsche.
Vor vielen Jahren war ich eingeladen, vor einer Abschlußklasse zu sprechen. Ich holte Präsident Hugh B. Brown zu Hause ab, um mit ihm zur Universität zu fahren, wo er die Feierlichkeiten leiten und ich sprechen sollte. Als Präsident Brown zu mir ins Auto stieg, sagte er: „Einen Moment bitte.” Er sah hinüber zu dem großen Erkerfenster seines schönen Hauses, und da bemerkte ich, wonach er Ausschau hielt. Der Vorhang teilte sich, und ich sah Schwester Zina Brown, seine geliebte Gefährtin seit über fünfzig Jahren, hinter dem Fenster. Sie saß im Rollstuhl und winkte mit einem kleinen weißen Taschentuch. Präsident Brown nahm ein weißes Taschentuch aus seiner Anzugtasche und winkte zurück. Dann sagte er mit einem Lächeln zu mir: „Jetzt können wir fahren.”
Unterwegs bat ich Präsident Brown, mir etwas über die Bedeutung der weißen Taschentücher zu sagen. Da erzählte er mir folgendes: „Am ersten Tag nach unserer Hochzeit, als ich zur Arbeit gehen wollte, hörte ich ein Klopfen am Fenster, und da stand Zina und winkte mit einem weißen Taschentuch. Ich suchte meines und winkte zurück. Von diesem Tag an bis heute bin ich nie von zu Hause weggegangen, ohne meine Frau auf diese Weise zu grüßen. Es ist ein Symbol unserer Liebe. Damit zeigen wir dem anderen, daß alles gut sein wird, bis wir uns am Abend wiedersehen.” Ja, ein Beispiel, dem man nacheifern kann.
Euch Jungen Damen, die heute Abend hier sind, möchte ich sagen: auch ihr könnt ein Vorbild sein. Wir wissen alle, daß wir in einer Zeit leben, in der Tugend verspottet, Pornographie als Kunst oder Kultur dargestellt wird und in der manche für die Lehren Jesu und die Regeln des Anstands blind, taub und gefühllos sind. Viele unserer jungen Leute werden in die falsche Richtung gezerrt und dazu verführt, an den Sünden der Welt teilzuhaben. Sehnsüchtig suchen sie dann nach der Stärke derjenigen, die es schaffen, fest für die Wahrheit einzustehen. Durch ein rechtschaffenes Leben und indem ihr ihnen helfend die Hand reicht und ein verständnisvolles Herz habt, könnt ihr retten und erretten. Wie groß wird dann eure Freude sein. Und der Segen, der von euch ausgeht, währt ewig.
Manche Frauen sind schwer krank oder können sich nicht mehr uneingeschränkt bewegen, sind vielleicht sogar bettlägerig. Dennoch haben sie die Möglichkeit, sich über ihre Bedrängnisse zu erheben und ein wahres Vorbild an Glauben, Liebe und Dienst am Nächsten zu sein. So war es auch mit Virginia und ihrem Ehemann, Eugene Jelesnik. Viele Jahre lang arbeiteten sie zusammen, um in aller Welt Tausenden von Militärangehörigen und anderem Publikum auf der Bühne durch Lieder und Musik Freude zu schaffen. Dann war Virginia wegen einer Krankheit und ihres fortgeschrittenen Alters gezwungen, im Bett zu liegen und zu Hause zu bleiben. Doch ihr Geist ließ sich von ihrem beeinträchtigten Körper nicht einsperren. Sie ermutigte weiterhin ihren Ehemann und blieb seine Inspiration und Stütze. Alle, denen Eugenes Konzerte sowie sein Dienst im Gemeinwesen zugute kommen, staunen über seine Energie, seine Begeisterung und seine Freundlichkeit. In seinen vielen Aufgaben ist Virginia für ihn immer eine Quelle der Kraft gewesen.
Der Apostel Paulus hat uns zwar aufgefordert, den Gläubigen ein Vorbild zu sein, hat unserem Dienst und unserem Einfluß damit jedoch keine Grenzen gesetzt.
Im Juli dieses Jahres haben meine Frau und ich an einem Bankett teilgenommen, mit dem Menschen geehrt wurden, die anderen durch ihren stillen Dienst, ihr selbstloses Opfer, ihre unsagbare Hingabe ein besseres Leben ermöglicht haben, ohne dabei an eine Beförderung oder Belohnung zu denken. Eine Amerikanerin indianischer Herkunft hatte buchstäblich die meiste Zeit ihres Lebens gegeben, um Jungen und Mädchen ihrer Rasse zu lehren, wie man
lebt, wie man liebt und wie man anderen dient. Ihre Reaktion auf die Anerkennung ihrer Dienste zeugte von ihrer Demut. Ruhig und aufrichtig sagte sie nur ein Wort: „Danke.”
Eine andere Frau wurde für ihre Fürsorge, ihren Dienst und ihre Führungsqualitäten geehrt. Als Krankenschwester tröstete sie im Zweiten Weltkrieg die Verwundeten. Als Frau und Partner ihres Ehemannes baute sie ein weltweites Unternehmen auf, das vielen zum Segen gereicht hat. Und heute, als Witwe, dient sie immer noch jeden Tag dem Staat und dem Gemeinwesen. Sie scheint immer zu lächeln. Vielleicht, weil sie den Schlüssel zum Glücklichsein gefunden hat. Sie war immer eine Missionarin. Sie war immer da, wenn sie gebraucht wurde.
Wieder eine andere Frau, so erfuhren wir, hatte sich liebevoll und in aller Stille, jedoch sehr erfolgreich, dafür eingesetzt, daß die Rechte von mißhandelten Kindern nicht vernachlässigt oder mißachtet werden.
Es gab noch weitere, die man alle als Pioniere bezeichnen kann, nämlich als „Bahnbrecher und Wegbereiter”.
Während des Banketts und des Programms saß ich neben einer bekannten Persönlichkeit, Flip Harmon, und seiner Frau Lois. Flip Harmon ist seit dreiundvierzig Jahren an der Planung der „Days of 47”-Feier beteiligt, die jedes Jahr am 24. Juli in Salt Lake City stattfindet. Da Flip mit der Erfüllung seiner Pflichten beschäftigt war, konnte ich mich mit Lois unterhalten. Sie erwähnte, daß sie und andere Familienmitglieder bei jeder Vorführung des berühmten Rodeos dabeiwaren, das zu den Höhepunkten der Feierlichkeiten zählt. Nun ist ja ein Rodeo ab und zu ganz schön, aber jeden Abend? Ich fragte Lois, wie sie das durchhielt. Ihre Antwort kam aus dem Herzen. „Es ist Flips Leben, und ich möchte daran teilhaben. Er verläßt sich auf mich.” Ich war an diesem Abend mit meiner Frau, meiner Tante Blanche (sie ist fünfundneunzig) und unseren Enkeln dabeigewesen. Lois war von Kindern und Enkelkindern umringt. Sie war das Glück in Person. Als wir uns nun beim Essen unterhielten, erzählte mir Lois etwas über ihren Mann. Sie sagte, Flips Mutter sei ein Engel gewesen. Sie habe inbrünstig für ihre Söhne gebetet, als sie während des Krieges ihrem Land dienten. Als Flip zurückgekehrt war, heiratete er Lois. Ein ausgefülltes Leben und willkommene Kinder folgten. Jedes Jahr vor dem Hochzeitstag fragte Flip seine Frau Lois: „Was soll ich dir zum Hochzeitstag schenken?” Jedes Jahr bekam er dieselbe Antwort: „Die Siegelung im Tempel.” Aber dieses Geschenk blieb ihr verwehrt.
Doch dann, als die Jahr für Jahr wiederkehrende Frage wieder einmal gestellt wurde: „Lois, was möchtest du zum Hochzeitstag?” und die übliche Antwort gegeben wurde: „Mit dir in den Tempel Gottes gehen”, kam Flips Antwort völlig unerwartet: „Gut, ich werde mich dafür bereitmachen.” An ihrem neunundzwanzigsten Hochzeitstag wurden sie im heiligen Haus Gottes für Zeit und alle Ewigkeit aneinander gesiegelt. Später diente Flip als Bischof. Beide sind einander und dem Herrn treu geblieben.
Als Lois weitersprach, merkte ich, daß sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie sagte: „Wissen Sie, Flip trägt immer Cowboystiefel. Am Abend sitzt er neben dem Kamin, zieht die Stiefel aus und liest Zeitung. Er räumt die Stiefel nie weg, obwohl ich ihn unzählige Male darauf angesprochen habe. Vor Jahren hat mich das gestört. Doch jetzt nicht mehr. Inzwischen liebe ich seine Stiefel. Mit einem Gefühl der Zärtlichkeit und dankbarem Herzen stelle ich die Stiefel jeden Abend gern weg.”
Nun füllten sich meine Augen mit Tränen. Überraschenderweise wurde Lois Harmon aufgefordert, nach vorn zu kommen, wo sie für ihren stillen Dienst geehrt wurde. Ein herrlicher Rosenstrauß wurde ihr überreicht. Flip wurde gebeten, etwas dazu zu sagen. Seine Worte kamen aus dem Herzen. Es war, als ob die beiden in dem großen Hotelsaal ganz allein wären. „Lois ist das Licht meines Lebens. Sie ist mein ewiger Partner.” (Das Wort Partner schien zu den Cowboystiefeln zu passen.) „Wir werden für immer vereint sein.” Geduld war belohnt worden. Liebe war zum Ausdruck gebracht worden. Der Himmel war nicht fern.
Meine lieben Schwestern, ob jung oder ein klein wenig älter, wenn sich Ihre Lebensumstände und Möglichkeiten auch unterscheiden, Sie können doch alle ein Vorbild sein, dem man nacheifern kann.
Im heiligen Tempel östlich des Tabernakels auf dem Tempelplatz in Salt Lake City wurde zwei unserer Schwestern, die dort im Kinderzimmer arbeiten, ein wunderschönes Kompliment gemacht. Sie waren natürlich ganz in weiß gekleidet, ebenso die Kinder, die an diesem Abend an ihre Eltern gesiegelt worden waren. Als sich die Schwestern von den Kindern verabschiedeten, sagte ein kleines Mädchen, voller Glauben, zu ihnen: „Gute Nacht, Engel.” Darf ich mit seinen Worten Ihnen, den Schwestern in aller Welt sagen: „Gute Nacht, Engel.” Im Namen Jesu Christi. Amen. D