1990–1999
Vertrauen durch Bekehrung
Oktober 1992


Vertrauen durch Bekehrung

„Wir müssen, so meine ich, unseren Verstand erweitern und versuchen den Widerspruch in dem zu verstehen, was Mose gezeigt wurde, nämlich daß man gleichzeitig gering und bedeutend sein kann.”

Ich freue mich, gemeinsam mit Ihnen an dieser Versammlung von FHV-Frauen, Jungen Damen und Führerinnen der PV-Kinder teilnehmen zu können. Es ist gut, daß Präsident Hinckley, Präsident Monson, Präsident Hunter und andere Priestertumsführer heute Abend hier sind.

Ich meine, wir leben in einer wunderbaren Zeit, und ich nenne sie wunderbar, weil jeder einzelnen von uns die Erkenntnis zur Verfügung steht, die wir brauchen, um vertrauensvoll, rechtschaffen und sogar glücklich zu leben. Wir leben heute - wie es mit Männern und Frauen zu jeder Zeit war - unter schwierigen, wechselvollen und manchmal schändlichen Umständen. Durch das wiederhergestellte Evangelium jedoch kann jede von uns über eine Art von Erkenntnis verfügen, die unser Überleben, sogar triumphales Überleben der beunruhigenden Umstände gewährleistet, die unsere Ausgeglichenheit und unseren Fortschritt bedrohen.

Vor langer Zeit stand Mose auf einem Berg und sprach mit Gott. Gott zeigte ihm die Welt, in der wir leben. Es war eine seltene Vision, ganz anders als alle, die ich aufgezeichnet gesehen habe: „Mose sah die Welt und ihre Enden sowie alle Menschenkinder, die es gibt und die erschaffen worden sind.” Die Schrift sagt: „Darüber staunte er und wunderte sich sehr.” (Mose 1:8.) Können Sie sich auch nur im Ansatz vorstellen, wie es wäre, alle und alles zu sehen, was jemals war und jemals sein wird? Es erfüllte Mose mit Ehrfurcht, und er sagte sich: „Nun weiß ich also, daß der Mensch nichts ist, und das hätte ich nie gedacht.” (Mose 1:10.) Dann lehrte ihn der Herr eine äußerst wichtige und grundlegende Wahrheit. Er sagte: „Es ist mein Werk und meine Herrlichkeit, die Unsterblichkeit und das ewige Leben des Menschen zustande zu bringen.” (Mose 1:39.) Ich möchte hinzusetzen: jedes Mannes und jeder Frau. Welch ein Wunder für Mose wie für uns, daß wir, die wir uns gemessen an der Weite des Universums für nichts erachten mögen, tatsächlich der Anlaß zu seiner Erschaffung und der Erschaffung der Erde sind.

Wir müssen, so meine ich, unseren Verstand erweitern und versuchen den Widerspruch in dem zu verstehen, was Mose gezeigt wurde, nämlich daß man gleichzeitig gering und bedeutend sein kann. Die Schriften tragen dazu bei, daß wir uns stets unerer einzigartigen und ewigen Identität bewußt bleiben. Wir haben schon lange vor diesem Leben als Einzelwesen existiert. Damals konnten wir Entscheidungen treffen, und wir entschieden uns dafür, auf die Welt zu kommen, obwohl wir wußten, daß es dort Gefahren und Schwierigkeiten geben würde. Wir hatten damals genug Vertrauen, daß wir beschlossen, dem Plan Jesu Christi zu folgen. Wir wußten, er würde uns helfen, indem er uns zeigte, wie wir rechtschaffen leben, wie wir lieben und einander dienen und wie wir das Schlechte meiden und nach dem Guten trachten können.

Dann kam ein Übergang, und wir fanden uns hier wieder - einer bzw. eine von denen, die Mose gesehen hat —, Teil eines großen Panoramas, aber doch als Individuum ringend um unsere alte Identität und das Bewußtsein unseres Daseinszwecks und unserer Herkunft. Hier auf der Erde müssen wir alles wieder lernen, und indem wir Kenntnis vom Evangelium gewinnen, erkennen wir eine kostbare Wahrheit, nämlich: Im vorirdischen Dasein übten wir unsere Entscheidungsfreiheit aus und wählten Christus als unseren Führer. Er tut sein Teil, und jeder von uns kann sein Teil dadurch tun, daß wir Bündnisse schließen und eine Partnerschaft mit ihm aufbauen. Wie das geschieht, erklärt König Benjamin im Buch Mormon:

„Und wegen des Bundes, den ihr gemacht habt, sollt ihr nun die Kinder Christi genannt werden, seine Söhne und seine Töchter; denn siehe, heute hat er euch geistig gezeugt; denn ihr sagt, euer Herz habe sich durch festen Glauben an seinen Namen gewandelt; darum seid ihr aus ihm geboren und seine Söhne und Töchter geworden.

Und unter diesem Haupt seid ihr befreit worden, und es gibt kein anderes Haupt, wodurch ihr befreit werden könnt. Es ist kein anderer Name gegeben, wodurch die Errettung kommt; darum möchte ich, daß ihr den Namen Christi auf euch nehmt, ihr alle, die ihr mit Gott den Bund eingegangen seid, daß ihr bis zum Ende eures Lebens gehorsam sein wollt.” (Mosia 5:7,8.)

Wenn ich zu Ihnen über die aus dem Evangelium kommende Erkenntnis spreche, daß jeder Einzelne unserem himmlischen Vater und unserem Erretter wichtig ist, so tue ich das in der Hoffnung, daß dadurch unser Vertrauen in die eigene Fähigkeit, richtige Entscheidungen zu treffen, gestärkt wird, und daß diese Entscheidungen uns helfen, geistig zu wachsen. Manche Menschen wollen, daß man ihnen mit großer Autorität sagt: „Tut dies!” oder „Tut das!” Manche wollen, daß Gott ihnen genau sagt, was sie zu tun haben, damit sie nur kein Risiko eingehen. Elder Dallin Oaks hat kürzlich bei einer Fireside an der BYU gesagt: „Eigene Entscheidungen zu treffen ist eine der Kraftquellen, die wir in der Sterblichkeit kennenlernen sollten. Wer versucht, alle Entscheidungen auf den Herrn zu schieben und in jeder Angelegenheit um Offenbarung bittet, wird schnell in Situationen kommen, wo er um Führung betet, sie aber nicht bekommt. Das geschieht wahrscheinlich in den zahlreichen Situationen, wo es um Nebensächliches geht oder wo mehrere Möglichkeiten akzeptabel sind. So etwas sollen wir mit dem Verstand durcharbeiten und dabei die Vernunft einsetzen, die uns der Schöpfer eingepflanzt hat. Danach sollen wir um Führung beten und uns danach richten, falls wir Führung empfangen; andernfalls sollen wir nach bestem Wissen handeln.” (Dallin H. Oaks, Our Strength Can Become Our Downfa.ll, Fireside der Pfähle an der BYU, 7. Juni 1992.)

Wenn wir zum Evangelium Jesu Christi bekehrt werden, dann werden wir sowohl demütig als auch mutig. Die Bekehrung stärkt unsere Fähigkeit der Entscheidungsfindung sehr. Im Alten Testament, und zwar in dem nur vier Seiten umfassenden Buch Rut, steht ein gutes Beispiel für die Art von Umständen, denen sich gute Menschen im wirklichen Leben gegenübersehen können. Jedesmal, wenn ich das Buch Rut lese, finde ich etwas Neues. In letzter Zeit betrachte ich es als eine Geschichte über Bekehrung, Mut und Entscheidungsfindung. Die Geschichte handelt von einer anderen Zeit, einer anderen Kultur und doch auch von uns.

Noomi und ihr Ehemann, Elimelech, sowie ihre beiden Söhne waren ins feindliche Moab gegangen, weil zu Hause, in Israel, eine große Hungersnot herrschte. Nach einiger Zeit heirateten die Söhne moabitische Frauen, nämlich Orpa und Rut. Innerhalb von 10 Jahren starben der Vater und die beiden Söhne. Noomi hatte gehört, daß die Hungersnot im Land Juda vorüber war, und sie wollte zu ihrem Volk zurückkehren. Ihren Schwiegertöchtern riet sie, zu ihren Müttern zurückzugehen. Noomi nannte sie ihre Töchter und küßte sie, und die Frauen weinten vor Liebe zu ihr. (Ist das nicht erstaunlich? Ich verstehe nicht, daß diese deutliche und wohlbekannte Schilderung nicht mehr Einfluß auf all die unkomischen Schwiegermutterwitze hat, die in der Welt kursieren.) Schließlich beschloß Orpa, in Moab zu bleiben. Noomi sagte wieder zu Rut: „Du siehst, deine Schwägerin kehrt heim zu ihrem Volk und zu ihrem Gott. Folge ihr doch!” (Rut 1:15.)

An dieser Stelle, und zwar in majestätischer hebräischer Poetik, gibt Rut ihren Entschluß bekannt und bekräftigt ihre Bekehrung: „Dränge mich nicht, dich zu verlassen und umzukehren. Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.” (Rut 1:16.)

Noomi war realistisch und weise, und als sie Ruts Standhaftigkeit sah, „redete sie nicht länger auf sie ein” (Rut 1:18). Das bedeutet nicht, daß sie nicht mehr mit ihr sprach, sondern daß sie nicht mehr versuchte, sie von den Schwierigkeiten zu überzeugen, die in Israel kommen würden. Rut, die Moabiterin, würde Bigotterie, Armut und große Unsicherheit zu ertragen haben, doch sie war bekehrt, und sie hatte sich entschieden. Rut und Noomi wurden ein großartiges Team; gemeinsam stellten sie sich nicht nur den Problemen, die vor ihnen lagen, sondern auch den Gelegenheiten, die kommen würden.

Schließlich heiratete Rut Boas, und ein Sohn wurde ihnen geboren. „Da sagten die Frauen zu Noomi: Gepriesen sei der Herr … denn deine Schwiegertochter, die dich liebt, hat ihn geboren, sie, die mehr wert ist, als sieben Söhne.

Noomi nahm das Kind … und wurde seine Wärterin. Die Nachbarinnen wollten ihm einen Namen geben und sagten: Der Noomi ist ein Sohn geboren. Und sie gaben ihm den Namen Obed. Er ist der Vater Isais, des Vaters Davids.” (Rut 4:14-17.)

Hier ist also eine Art von Prophetie, die sehr wichtig für uns ist. In einer Kultur, die der Führung durch Frauen entgegenstand, brachten Noomi und Rut etwas zuwege, was der Schreiber der heiligen Schrift mit Bedacht betont: Obed, und dieser wurde der Vater Isais, des Vaters Davids, durch dessen Linie - im 1. Kapitel des Matthäusevangeliums wird dies sorgsam dargelegt - kam Jesus, den man den Christus nennt. Wer hätte je gedacht, daß das kleine Buch Rut ein so großes Ereignis vorhersagt?

Zuversichtlich trat Rut Schwierigkeiten entgegen, die auch in unserer Zeit nicht unbekannt sind: der Tod eines geliebten Menschen, Einsamkeit in einer neuen Umgebung, schwer für das tägliche Brot arbeiten zu müssen. Ihre bescheidenen Bemühungen, die in bedeutender Weise mit späteren großen Ereignissen verknüpft sind, zeigen mir, daß jeder von uns sein alltägliches Leben und seine Entscheidungen ernst nehmen kann, wenn er beschließt, Gott zu folgen.

Was ich Ihnen heute Abend gesagt habe, ist mein persönliches Zeugnis. Ich bin dankbar für die Entscheidungsfreiheit, wie ich sie verstehe, für das Vertrauen, daß ich in meinen himmlischen Vater setzte, und für seine Führung. Ich bin dankbar für das Sühnopfer meines Erretters, der die Risiken vollkommen verstanden hat. Ich bin dankbar für die Segnungen des Glaubens und der Nächstenliebe, die meine Seele mit Freude und Glück erfüllen und mich sagen lassen: Wir leben tatsächlich in einer wundervollen Zeit.

Im Namen Jesu Christi. Amen.