1990–1999
Ein Erbe von unschätzbarem Wert
Oktober 1992


Ein Erbe von unschätzbarem Wert

„Denen, die gekränkt worden sind oder das Interesse verloren haben oder die sich aus irgendeinem Grund abgewandt haben, sagen wir: wir laden Sie alle ein, wieder mit uns Gemeinschaft zu pflegen.”

Ich möchte gegen Ende dieser Konferenz über ein Erbe von unschätzbarem Wert sprechen. Ich bin dankbar für die treuen Pioniere in allen Ländern der Welt, die mitgeholfen haben, die Kirche in ihrem Land aufzurichten. Die Mitglieder der ersten Generation sind in der Tat Pioniere. Sie sind und waren Männer und Frauen voll Glauben und Hingabe. Heute spreche ich jedoch vor allem von dem kostbaren Vermächtnis, das den Nachkommen aller Pioniere hinterlassen worden ist, vor allem aber denjenigen, die in dieses Tal gekommen sind und sich in Utah und anderen Teilen des amerikanischen Westen niedergelassen haben. Dieses Jahr haben wir den 24. Juli mit den Mitgliedern im Pfahl Riverton in Wyoming gefeiert. Unter der Leitung von Präsident Robert Lorimer und seinen Ratgebern haben die Jugendlichen und Jugendführer des Pfahles einen Teil des Handwagenzuges von 1856 inszeniert. Früh am Morgen starteten wir in einem Kleinbus mit Vierradantrieb und fuhren zunächst nach Independence Rock. Von dort folgten wir dann dem Mormon Trail, dem Weg, den die Pioniere damals gegangen sind. Als wir ein paar Meilen gefahren waren, sahen wir Devil’s Gate. Wir waren zutiefst berührt, als wir auf dem heiligen Boden von Martin’s Cove ankamen, dem Ort, wo der Martin-Handwagenzug halb verhungert und erfroren auf die rettenden Wagen aus Salt Lake City wartete. Etwa sechsundfünfzig dieser Leute erfroren und verhungerten dort.

Es war ein bewegendes Erlebnis, die Stelle zu sehen, wo damals der Sweetwater River überquert worden ist. Drei tapfere junge Männer haben die meisten der fünfhundert Leute des Handwagenzuges über den eisigen Fluß getragen. Später starben die drei Jungen an den Folgen der großen Anstrengung. Als Präsident Brigham Young von ihrer Heldentat erfuhr, weinte er wie ein Kind und erklärte später öffentlich: „Allein durch diese Tat ist C. Allen Huntington, George W. Grant und David P. Kimball die immerwährende Errettung im celestialen Reich Gottes in alle Ewigkeit gewiß.” (Solomon F. Kimball, „Belated Emigrants of 1856”, Improvement Era, Februar 1914.)

Weiter ging es den Mormon Trau entlang bis an den Ort, wo die Pioniere des Willie-Handwagenzuges gerettet worden sind. Wir hatten das Gefühl, auf heiligem Boden zu stehen. Hier sind einundzwanzig Mitglieder dieser Gruppe verhungert und erfroren. Wir fuhren weiter über den Rocky Ridge, siebentausenddreihundert Fuß hoch, den höchsten Punkt auf dem Mormon Trail. Der zwei Meilen lange Anstieg überwindet einen Höhenunterschied von rund zweihundertundfünfzig Metern. Es war für die Pioniere äußerst schwierig, über den Rocky Ridge zu kommen. Besonders qualvoll war es aber für die Pioniere des Willie-Handwagenzuges, die sich im Herbst 1856 in einem heftigen Schneesturm über diesen Bergrücken quälten. Viele hatten abgelaufene Schuhe und bekamen von den scharfen Felskanten blutige Füße, so daß sie im Schnee eine Blutspur zurückließen.

Als wir den Rocky Ridge überquerten, fand jemand zwei vierkantige Nägel und einen alten, aus jener Zeit stammenden Knopf. Zweifellos hatte sie jemand verloren, als er über die kantigen Felsen ging. Mir war ganz feierlich zumute, an so einem historischen Ort zu sein. Einige meiner Vorfahren haben diesen Bergrücken überquert, wenn auch keiner von ihnen bei einem der Handwagenzüge dabei war. Nicht alle meiner Vorfahren, die sich dem großen Zug nach Westen anschlössen, kamen überhaupt bis zum Rocky Ridge. Zwei starben bereits in Winter Quarters.

Auf dem Weg über den Rocky Ridge fragte ich mich, ob ich bereits genug geopfert habe. In meiner Generation habe ich nicht erlebt, daß so viele so große Opfer gebracht haben. Ich frage mich, was ich noch hätte tun können und tun muß, um dieses Werk voranzubringen.

Ein paar Meilen weiter trafen wir bei Radium Springs auf 185 Jugendliche und ihre Führer aus dem Pfahl Riverton, die wie damals die Pioniere Handwagen hinter sich herzogen. Wir gaben Zeugnis vom Glauben und Heldentum derer, die sich 136 Jahre zuvor diesen Weg entlanggequält haben.

Es ging weiter nach Rock Creek Hollow, wo der Willie-Handwagenzug gelagert hat. Dreizehn Pioniere des Willie -Handwagenzuges, die vor Hunger, Kälte und Erschöpfung starben, sind in Rock Creek Hollow in einem gemeinsamen Grab beerdigt. Zwei weitere, die in der Nacht starben, sind ganz in der Nähe beerdigt. Zwei von denen, die in Rock Creek Hollow beerdigt sind, waren heldenhafte Kinder, noch jung an Jahren: Bodil Mortinsen, neun Jahre alt, aus Dänemark, und James Kirkwood, elf Jahre alt, aus Schottland.

Bodil war offenbar beauftragt worden, sich auf dem Weg über den Rocky Ridge um einige kleine Kinder zu kümmern. Als sie im Lager ankamen, war sie wohl zum Holzsammeln geschickt worden. Man fand sie gegen das Rad ihres Handwagens gelehnt, erfroren, mit der Hand hielt sie noch einen Beifußstrauch umklammert.

Nun will ich Ihnen noch von James Kirkwood erzählen. James kam aus Glasgow. Auf seiner Reise nach dem Westen wurde James von seiner verwitweten Mutter und drei Brüdern begleitet, von denen einer, Thomas, der neunzehn Jahre alt und verkrüppelt war, im Handwagen sitzen mußte. James wichtigste Aufgabe war es, für seinen vierjährigen Bruder Joseph zu sorgen, während seine Mutter und sein ältester Bruder Robert den Wagen zogen. Auf dem Weg über den Rocky Ridge schneite es, und es blies ein bitterkalter Wind. Die Gruppe brauchte siebenundzwanzig Stunden, um fünfzehn Meilen zurückzulegen. Als der kleine Joseph vor Erschöpfung nicht mehr laufen konnte, blieb James, dem älteren Bruder, keine andere Wahl, als ihn zu tragen. Sie blieben hinter den anderen zurück und kamen nur langsam vorwärts. Als die beiden dann endlich im Lager ankamen, „brach James, der seine Aufgabe so treu erfüllt hatte, zusammen und starb infolge der Kälte und Überanstrengung”. (Privater Brief von Don H. Smith an Robert Lorimer, 20. Februar 1990, in dem der Bericht von Don Chislett zitiert wird.)

Ebenso heldenhaft waren die Retter, die auf Präsident Brigham Youngs Aufruf auf der Generalkonferenz im Oktober 1856 reagierten. Präsident Young rief die Heiligen auf, innerhalb von ein, zwei Tagen vierzig junge Männer, sechzig bis fünfundsechzig Maultier- bzw. Pferdegespanne sowie Wagen mit vierundzwanzigtausend Pfund Mehl zu stellen, um „diese Leute herzubringen, die jetzt auf der Prärie sind”. (LeRoy R. Hafen, Handcarts to Zion, Glendale, 1960, Seite 121.) Die Retter machten sich sogleich daran, den notleidenden Reisenden zu helfen.

Als sich die Geretteten dem Salzseetal näherten, berief Brigham Young hier in diesem Viertel eine Versammlung ein. Er wies die Heiligen im Salzseetal an, die Leidenden in ihre Häuser aufzunehmen, es ihnen bequem zu machen und ihnen Essen und Kleidung zu geben. Präsident Young sagte: „Manchen von ihnen sind die Füße bis zum Knöchel erfroren, manchen bis zum Knie, und manchen sind die Hände erfroren. … Wir möchten, daß ihr sie aufnehmt wie eure eigenen Kinder und ihnen dasselbe Gefühl entgegenbringt.” (Hafen, Handcarts to Zion, Seite 139.)

Hauptmann Willie berichtet, was geschah, als die Retter die Pioniere des Willie-Handwagenzuges in dieses Tal brachten: „Als wir dort ankamen, brachten die Bischöfe der verschiedenen Gemeinden jeden, der keine Unterkunft hatte, in ein gemütliches Quartier. Manche hatten schwere Erfrierungen an Händen und Füßen; aber es wurde alles getan, um ihr Leiden zu lindern. … Hunderte von Einwohnern umringten die Wagen, als wir die Stadt durchquerten, und hießen ihre Brüder und Schwestern in ihrer Heimat in den Bergen willkommen.” (James G. Willie, Journal History, 9. November 1956.)

Aufgrund ihrer qualvollen Erfahrungen entwickelten die Pioniere einen unerschütterlichen Glauben an Gott. Elizabeth Horrocks Jackson Kingsford schrieb: „Ich glaube aber, daß es von Engeln in den Büchern des Himmels aufgeschrieben worden ist und mein Leiden um des Evangeliums willen mir zur Heiligung geweiht werden wird.” (Leaves from the Life of Elizabeth Horrocks Jackson Kingsford, Dezember 1908, Ogden, Utah.) Die die Prärie überquert haben, haben uns nicht nur ihren Glauben als Vermächtnis hinterlassen, sondern auch ihre große Liebe - ihre Liebe zu Gott und den Menschen. Ihr Vermächtnis umfaßt Ernsthaftigkeit, Unabhängigkeit, harte Arbeit, hohe Ideale und Kameradschaft. Ebenso Gehorsam gegenüber den Geboten Gottes und Treue gegenüber denen, die Gott berufen hat, sein Volk zu führen. Sie haben dem Bösen entsagt. Unkeuschheit, alternative Lebensweisen, Glücksspiel, Selbstsucht, Unehrlichkeit, Unfreundlichkeit, Abhängigkeit von Alkohol oder Drogen sind kein Teil des Evangeliums Jesu Christi.

Hier in Utah werden die Wähler in wenigen Wochen eine Entscheidung zum Thema Glücksspiel treffen. Die Kirche hat ihren Standpunkt dazu nicht geändert. Doch nun, da sich die Kontroverse weiter zuspitzt, raten wir den Mitgliedern der Kirche, tolerant und verständnisvoll zu sein. Jeder hat die Freiheit, sich selbst zu entscheiden, wenn wir aber unklug damit umgehen, müssen wir den Preis bezahlen. Präsident J. Reuben Clark jun. hat gesagt: „Wir können unsere Entscheidungsfreiheit dazu gebrauchen, zu gehorchen oder nicht zu gehorchen, und wenn wir nicht gehorchen, müssen wir die Strafe auf uns nehmen.” (Fundamentals ofthe Church Weifare Plan, Ansprache an Bischöfe, 6. Oktober 1944.)

Ich muß mich einfach fragen, warum die beherzten Pioniere für ihren Glauben einen so schrecklichen Preis an Schmerz und Leid zahlen mußten. Warum wurden die Elemente nicht besänftigt, um ihnen die Qualen zu ersparen? Ich glaube, daß ihr Leben durch ihr Leiden einem höheren Zweck geweiht wurde. Ihre Liebe zum Erretter war tief in ihre Seele eingebrannt, ebenso in die Seele ihrer Kinder und der Kinder ihrer Kinder. Ihre Motivation entsprang ihrer wahren Bekehrung im Innersten ihrer Seele. Wie Präsident Gordon B. Hinckley gesagt hat: „Wenn im Herzen eines Heiligen der Letzten Tage ein starkes und lebendiges Zeugnis von der Wahrheit dieses Werkes schlägt, erfüllt er seine Obliegenheiten in der Kirche.” (Ensign, Mai 1984, Seite 99.)

Die Pioniere hatten nicht nur Anteil an den heroischen historischen Ereignissen dieser Zeit, sondern fanden auch eine Richtschnur für ihr Leben. Sie fanden die Wahrheit und den Sinn ihres Lebens. In den schweren Tagen ihrer Reise trafen die Pioniere des Martin- und des Willie-Handwagenzuges auf einige Abtrünnige, die den Westen wieder verlassen hatten und in den Osten zurückkehrten. Diese Abtrünnigen versuchten manche dazu zu überreden, daß sie umkehrten. Einige wenige kehrten um. Doch die große Mehrzahl der Pioniere ging weiter vorwärts - hin zu einer Heldentat in diesem Leben und zu ewigem Leben im Jenseits. Francis Webster, der zum Martin-Handwagenzug gehörte, hat erklärt: „Jeder von uns hatte am Ende die absolute Gewißheit, daß Gott lebt, denn wir haben ihn in unserer größten Not erfahren.” (David O. McKay, „Pioneer Women”, Relief Society Magazine, Januar 1948.) Hoffentlich inspiriert uns der Glaube, den die Pioniere uns als ihr Erbe hinterlassen haben, dazu, uns noch vollständiger in das Werk des Erretters einzubringen, nämlich die Unsterblichkeit und das ewige Leben seiner Kinder zustande zu bringen.

Mit ihrem Glauben und ihrem Mut haben diese edlen Pioniere Ihnen, die Sie zu ihren Nachkommen gehören, ein Erbe von unschätzbarem Wert hinterlassen. Sollte jemand von Ihnen sich nicht der Gemeinschaft mit uns im Evangelium Jesu Christi erfreuen, dann laden wir Sie ein, herauszufinden, was Ihren Vorfahren einen so starken Glauben eingeflößt und sie dazu bewegt hat, für ihre Mitgliedschaft in der Kirche bereitwillig einen so schrecklichen Preis zu zahlen. Denen, die gekränkt worden sind oder das Interesse verloren haben oder die sich aus irgendeinem Grund abgewandt haben, sagen wir: Wir laden Sie alle ein, wieder mit uns Gemeinschaft zu pflegen. Die treuen Mitglieder mit all ihren Fehlern und Schwächen bemühen sich demütig, Gottes heiliges Werk in der ganzen Welt auszuführen. Wir brauchen in dem großen Kampf gegen die Mächte der Finsternis, die heute in der Welt so vorherrschend sind, Ihre Hilfe. Wenn Sie ein Teil dieses Werkes werden, können Sie die tiefsten Sehnsüchte Ihrer Seele befriedigen. Sie können den Trost kennenlernen, der darin zu finden ist, daß man nach dem trachtet, was heilig und von Gott ist. Sie können die Segnungen und Bündnisse empfangen, die uns in den heiligen Tempeln zuteil werden. Sie können Ihrem Leben einen tiefen Sinn verleihen, selbst in unserer gottlosen Welt. Sie können Charakterstärke entwickeln, so daß Sie Ihr Handeln selbst bestimmen und nicht über Sie bestimmt wird. (Siehe 2 Nephi 2:26.)

Vor einigen Jahren hat die Erste Präsidentschaft der Kirche alle eingeladen, zurückzukommen: „Wir wissen, daß manche inaktiv sind, daß andere kritisch geworden sind und gern nörgeln und daß manchen aufgrund schwerwiegender Übertretungen die Gemeinschaft entzogen wurde oder sie ausgeschlossen wurden.

Ihnen allen reichen wir in Liebe die Hand. Wir wollen gern vergeben - im Sinne dessen, der gesagt hat:, Ich, der Herr, vergebe, wem ich vergeben will, aber von euch wird verlangt, daß ihr allen Menschen vergebt.’ (LuB 64:10.)

Wir fordern die Mitglieder der Kirche auf, denen zu vergeben, die ihnen vielleicht unrecht getan haben. Denen, die sich zurückgezogen haben, und denen, die zu Kritikern geworden sind, sagen wir:, Kommen Sie zurück. Kommen Sie zurück, und laben Sie sich am Tisch des Herrn, und genießen Sie erneut die süßen und sättigenden Früchte der Gemeinschaft mit den Heiligen.

Wir sind überzeugt, daß viele zurückkehren wollten, sich aber davor fürchten. Wir versichern Ihnen, Sie werden mit offenen Armen empfangen und es wird Ihnen bereitwillig geholfen.” (Church News, 22. Dezember 1985.)

Zum Schluß dieser großartigen Konferenz wiederhole ich diese Bitte aufrichtig und demütig im Namen meiner Brüder. Wir wollen Sie mit offenen Armen empfangen. Das versichere ich im Namen Jesu Christi. Amen.