Wie die Tauben zum Fenster
Mögen wir mit den Segnungen, die uns zuteil werden, so viel tun, wie [unsere Vorfahren] aus der Entbehrung heraus getan haben. Mögen wir in unserem überfluss nie den Herrn vergessen.
Elder Maxwell, wir sind dem Vater im Himmel dankbar, dass er Ihr apostolisches Wirken auf so wunderbare Weise verlängert hat. Wir sind dankbar, dass Sie auch in diesem neuen Gebäude noch Ihr Zeugnis verkünden. Wir lieben Sie und wir beten für Sie.
Und Präsident Hinckley, stellvertretend für die elf Millionen Mitglieder der Kirche möchten wir dem Herrn danken, dass er Ihren Dienst verlängert. Ich erinnere mich noch genau an den ersten Spatenstich für dieses Gebäude, den Sie vor fast drei Jahren vornahmen. Präsident Boyd K. Packer bat in seinem Schlussgebet darum, dass beim Bau nichts passieren möge, dass es ein schönes Gebäude werde und dann bat er den Himmel um noch etwas. Er bat darum, Präsident, dass es Ihnen gestattet werde, dieses Gebäude zu sehen, an diesem Pult zu präsidieren und hier Ihr Zeugnis zu geben. Wir alle danken dem Himmel für Sie und für die Erhörung dieses Gebets.
Dies sind gewiss Tage, die unsere gläubigen und weitblickenden Vorfahren bereits in den Anfangsjahren der Wiederherstellung gesehen haben. Bei einer Generalkonferenz der Kirche im April 1844 dachten die Brüder an jene ersten Versammlungen im Jahr 1830 zurück. Einer von ihnen sagte: „Wir [sprachen] über das Gottesreich, als stünde uns die Welt zur Verfügung; wir sprachen mit großem Selbstvertrauen, wir sprachen über Großes, obwohl wir nicht viele waren; ... wir schauten, [und] wenn wir nicht [die Versammelten] hier erblickten, sahen wir in einer Vision die Kirche Gottes tausend Mal größer [als sie damals war], obwohl wir [damals] nicht genug Männer hatten, um eine Farm zu bearbeiten oder einer Frau mit einem Melkkübel gegenüberzutreten....Alle Mitglieder [der Kirche] hatten in einem Konferenzzimmer von etwa 37 Quadratmetern Platz.... [Damals] sprachen wir darüber, ... dass Menschen wie Tauben zum Fenster kommen werden; ... dass alle Nationen [zur Kirche] kommen werden.... Hätten wir gesagt, was unsere Augen damals erblickten, hätte es uns keiner geglaubt.“1
Wenn sie damals--in jenem schicksalsschweren Jahr 1844, kurz vor dem Märtyrertod Joseph Smiths--so empfanden, was müssen diese Brüder und Schwestern an einem Tag wie heute von ihrer ewigen Wohnstätte aus erblicken! So vieles ist seitdem geschehen, wofür sie und wir dankbar sein müssen. Und natürlich ist das noch nicht alles. Wir haben noch viel zu tun, sowohl, was unsere Qualität als auch was unsere Quantität an Glaubenstreue und Dienen angeht. George A. Smith, der als Ratgeber BrighamYoungs in der Ersten Präsidentschaft diente, sagte einmal warnend: „Wir können zu Ehren unserer Religion Tempel bauen, stattliche Dome, herrliche Turmspitzen [und] große Türme errichten, doch wenn wir nicht nach den Grundsätzen dieser Religion leben ... und Gott in all unseren Gedanken anerkennen, verlieren wir die Segnungen, die uns sicher wären, wenn wir danach leben würden.“2 Wir müssen demütig und gewissenhaft bleiben. Die Ehre und der Ruhm all dessen, was gut ist, gehören doch Gott, und es liegt immer noch vieles vor uns, was uns läutern wird, was schwer sein wird, während Gott uns zu immer größerer Stärke führt.
Bei all dem wandern meine Gedanken zurück zu den Mitgliedern in der Anfangszeit der Kirche– zu jenen, die allzu oft in der Geschichte unerwähnt bleiben, die still und gläubig das Gottesreich durch weit schwierigere Tage vorangetrieben haben. Viele Namen kennen wir heute fast gar nicht mehr. Die meisten sind gestorben--oft schon sehr früh--, ohne viel Erwähnung zu finden. Einige wenige werden in der Geschichte der Kirche mit ein, zwei Zeilen erwähnt, doch die meisten sind gekommen und gegangen, ohne je ein hohes Amt bekleidet zu haben oder in den Geschichtsberichten erwähnt zu werden. Diese Leute, unsere gemeinsamen Vorfahren, sind so still und leise in die Ewigkeit hinübergegangen, wie sie nach ihrer Religion gelebt haben. Dies sind die stillen Mitglieder, von denen Präsident J. Reuben Clark einmal gesprochen hat, als er ihnen allen gedankt hat, und zwar vor allem „den sanftmütigsten und bescheidensten unter ihnen, die [größtenteils] unbekannt [und] vergessen sind, [außer] bei ihren Kindern und Kindeskindern, die die Geschichte ihres Glaubens von Generation zu Generation weitergeben.“3
Ob wir nun schon lange der Kirche angehören oder gerade eben erst bekehrt worden sind: Wir sind doch alle Nutznießer dieser glaubenstreuen Vorfahren. In diesem schönen neuen Gebäude und bei dieser historischen Konferenz habe ich erneut empfunden, wie viel ich denen verdanke, die so viel weniger hatten als ich, die damit aber immer und überall mehr zum Aufbau des Gottesreiches beigetragen haben als ich.
Vielleicht ist das in jeder Evangeliumszeit so gewesen. Jesus hat einmal seine Jünger daran erinnert, dass sie auf Feldern ernteten, in die sie keine Arbeit investiert hatten.4 Schon Mose hat zu seinem Volk gesagt:
„Und ... der Herr, dein Gott, [führt] dich in das Land, von dem du weißt: er hat deinen Vätern ... geschworen, es dir zu geben--große und schöne Städte, die du nicht gebaut hast,
mit Gütern gefüllte Häuser, die du nicht gefüllt hast, in den Felsen gehauene Zisternen, die du nicht gehauen hast, Weinberge und ölbäume, die du nicht gepflanzt hast.“5
Ich denke da zurück an eine Handvoll Frauen, ältere Männer und Kinder im arbeitsfähigen Alter, die vor 167 Jahren allein übrig geblieben waren, um weiter am Kirtland-Tempel zu bauen, als sich praktisch jeder taugliche Mann jenem 1600 Kilometer langen Marsch angeschlossen hatte, um die Mitglieder in Missouri zu unterstützen. Den Berichten zufolge war praktisch jede Frau in Kirtland damit beschäftigt, zu stricken und zu spinnen, damit die Männer und Jungen, die den Tempel errichteten, etwas anzuziehen hatten.
Elder Heber C. Kimball hat geschrieben: „Der Herr allein kennt jene Szenen der Armut, der Prüfung und der Not, durch die wir hindurch mussten, um dies zustande zu bringen.“ Es heißt, einer der damaligen Führer, der das Leid und die Armut der Kirche kannte, sei häufig bei Tag oder Nacht auf die Tempelmauern gestiegen und habe geweint und zum Allmächtigen geschrien, er möge doch die Mittel bereitstellen, damit sie den Bau vollenden konnten.6
Es wurde auch dann nicht leichter, als die Mitglieder in den Westen zogen und sich in diesen Tälern hier niederließen. Als ich zur Primarvereinigung und zum Aaronischen Priestertum gehörte, ging ich im wunderschönen alten Tabernakel von St. George zur Kirche, mit dessen Bau 1863 begonnen worden war. Während manch sehr langer Predigt beschäftigte ich mich damit, mich im Gebäude umzusehen und die wunderschöne Handwerkskunst der Pioniere zu bestaunen, die dieses bemerkenswerte Gebäude errichtet hatten. Haben Sie übrigens gewusst, dass 184 Weintrauben in das Deckensims eingeschnitzt sind? (Manche Predigten waren wirklich lang!) Aber am liebsten zählte ich die 2244 Fensterscheiben, denn ich hatte schon als Kind die Geschichte von Peter Nielsen gehört, einem der wenig bekannten und nun vergessenen Mitglieder, über die wir heute sprechen.
Für den Bau des Tabernakels hatten die Brüder Glas für die Fensterscheiben aus New York bestellt und hatten es um Kap Horn nach Kalifornien verschiffen lassen. Doch bevor die Scheiben nun abgeholt und nach St. George gebracht werden konnten, musste erst die Rechnung über 800 Dollar beglichen werden. Bruder David H. Cannon, der spätere Präsident des Tempels in St. George, welcher ebenfalls damals erbaut wurde, erhielt den Auftrag, die erforderlichen Mittel aufzutreiben. Nach mühevoller Suche im ganzen Gemeinwesen--die Leute hatten ja bereits praktisch alles, was sie besaßen, für den Bau dieser beiden großen Vorhaben gespendet-- hatten sie allerdings nur 200 Dollar in bar aufgetrieben. Einfach aus Glauben heraus bestellte Bruder Cannon ein paar Fuhrleute, die nach Kalifornien fahren und das Glas abholen sollten. Er betete weiterhin darum, dass die riesige Summe von 600 Dollar irgendwie vor der Abfahrt der Fuhrleute zusammenkommen werde.
In der nahe gelegenen Ortschaft Washington in Utah lebte der dänische Immigrant Peter Neilson, der schon jahrelang für einen Anbau an sein schlichtes Lehmhaus aus zwei Zimmern gespart hatte. Bevor die Fuhrleute nach Kalifornien fahren sollten, verbrachte Peter eine schlaflose Nacht in seinem kleinen Häuschen. Er dachte an seine Bekehrung in Dänemark, an die Reise zu den Mitgliedern in Amerika. Im Westen hatte er sich in Sanpete niedergelassen und schwer für seinen Lebensunterhalt gearbeitet. Und dann, als endlich die Möglichkeit bestand, er könne zu ein wenig Wohlstand kommen, wurde er berufen, von dort wegzuziehen und sich der Baumwoll-Mission anzuschließen, wo die Siedler größte Mühe hatten, in dem alkalischen Boden eines malariaverseuchten und von überschwemmungen heimgesuchten Gebiets im Süden Utahs Baumwolle zu ziehen. Peter Neilson lag in jener Nacht im Bett und dachte an seine Jahre in derKirche; er bedachte, welche Opfer er hatte bringen müssen, aber wie reich gesegnet er doch war. Irgendwannin diesen stillen Stunden fasste ereinen Entschluss.
Manche sagen, es sei ein Traum gewesen, andere, eine Eingebung, andere nennen es einfach den Ruf der Pflicht. Die Inspiration wurde Peter Neilson jedenfalls zuteil, und er stand an jenem Morgen, als die Fuhrleute losfahren wollten, vor Tagesanbruch auf. Mit einer kleinen Kerze und dem Licht des Evangeliums im Herzen holte er aus einem Versteck 600 Dollar in Gold hervor-- Fünf-, Zehn- und Zwanzigdollarmünzen. Seine Frau, Karen, die er durch seine nächtliche Suche geweckt hatte, fragte, weshalb er denn so früh auf den Beinen sei.Er sagte, er müsse nur rasch die 11Kilometer nach St. George gehen.
Als die Morgendämmerung über die schönen roten Felsen Süd-Utahs fiel, klopfte es an David H. Cannons Tür. Draußen stand Peter Neilson mit einem roten Halstuch in der Hand, das unter dem Gewicht darin durchhing. „Guten Morgen, David“, sagte Peter. „Ich hoffe, ich bin nicht zu spät dran. Du wirst schon wissen, was du mit diesem Geld machen sollst.“
Mit diesen Worte drehte er sich um und ging zurück nach Washington, zurück zu seiner gläubigen Frau, die keine Fragen stellte, und zurück in sein kleines Häuschen, das für den Rest seines Lebens nur aus zwei Zimmern bestand.7
Noch eine Begebenheit aus diesen Anfangstagen der gläubigen Erbauer des heutigen Zions. John R. Moyle lebte in Alpine in Utah, etwa 35 Kilometer Luftlinie vom Salt-Lake-Tempel entfernt, wo er während dessen Bauzeit die Oberaufsicht über die Steinmetzarbeiten hatte. Um auch ganz bestimmt um 8 Uhr morgens bei der Arbeit zu sein, ging Bruder Moyle montags stets um 2 Uhr morgens von zu Hause los. Seine Arbeitswoche endete freitags um 17 Uhr, danach machte er sich zu Fuß auf den Heimweg. Kurz vor Mitternacht war er dann zu Hause. Das tat er jede Woche, solange er beim Bau des Tempels diente.
An einem Wochenende schlug eine Kuh beim Melken aus und zerschmetterte Bruder Moyle das Schienbein. Da es damals auf dem Land keinerlei medizinische Versorgung gab, hoben seine Familie und seine Freunde eine Tür aus den Angeln und zurrten Bruder Moyle auf diesem provisorischen Operationstisch fest. Dann nahmen sie die Säge, mit der sie zuvor einige äste eines Baumes weggeschnitten hatten, und amputierten ihm das Bein unterhalb des Knies. Als das Bein entgegen aller medizinischen Erwartungen endlich zu heilen begann, nahm Bruder Moyle ein Stück Holz und schnitzte daraus ein Holzbein. Zuerst humpelte er damit im Haus umher. Später ging er in den Garten. Danach wagte er sich auf sein Grundstück. Als er meinte, er könne nun den Schmerz ertragen, zog er sein Holzbein an, ging die 35 Kilometer zum Salt-Lake-Tempel, kletterte auf das Gerüst und meißelte dort die Worte ein: „Heilig dem Herrn.“8
Da uns der Glaube unserer Väter und Mütter heute allenthalben so deutlich vor Augen steht, möchte ich meine Ausführungen mit dem zweiten Teil jener Schriftstelle beenden, die ich eingangs zitiert habe. Sie scheint zu unseren heutigen günstigen Umständen besonders gut zu passen. Nachdem Mose den Menschen erklärt hatte, dass ihnen ihre Segnungen wegen der Glaubenstreue derer, die ihnen vorangegangen waren, zuteil wurden, sagte er:
„Nimm dich in acht, dass du nicht den Herrn vergisst, der dich ... [heraus]geführt hat....
Ihr sollt nicht anderen Göttern nachfolgen, keinem Gott eines Volkes, das in eurer Nachbarschaft wohnt....
Denn du bist ein Volk, das dem Herrn, deinem Gott, heilig ist. Dich hat der Herr, dein Gott, auserwählt, damit du ... das Volk wirst, das ihm persönlich gehört.
Nicht weil ihr zahlreicher als die anderen Völker wäret, hat [er] euch ... erwählt; ihr seid das kleinste unter allen Völkern.
[Sondern] weil der Herr euch liebt und weil er auf den Schwur achtet, den er euren Vätern geleistet hat....
Daran sollst du erkennen: ... dein Gott ist der Gott, er ist der treue Gott; noch nach tausend Generationen achtet er auf den Bund und erweist denen seine Huld, die ihn lieben und auf seine Gebote achten.“9
Wir werden immer noch gesegnet aufgrund jener Liebe Gottes und der Glaubenstreue unserer geistigen und buchstäblichen Vorfahren--Tausende Generationen hindurch. Mögen wir mit den Segnungen, die uns zuteil werden, so viel tun, wie sie aus ihren Entbehrung heraus getan haben. Mögen wir in unserem überfluss nie „den Herrn [vergessen]“ oder „anderen Göttern nachfolgen“, sondern immer ein Volk sein, das dem Herrn „heilig ist“. Wenn wir das tun, werden diejenigen, die nach dem Wort Gottes hungern und dürsten, weiterhin „wie Tauben zu [unseren] Fenstern“ kommen. Sie kommen, um hier Frieden, Wachstum und Errettung zu finden. Wenn wir nach unserer Religion leben, finden sie all das und noch mehr.
Wir sind ein gesegnetes Volk, und in einer solch wunderbaren Zeit wie dieser fühle ich mich zu großem Dank verpflichtet. Ich danke meinem Vater im Himmel für unzählige und unvorhersehbare Segnungen, zuerst und vor allem für die Gabe seines Einziggezeugten Sohnes, nämlich Jesus von Nazaret, unser Erretter und König. Ich bezeuge, dass das vollkommene Leben Christi und sein aus Liebe vollbrachtes Sühnopfer buchstäblich das Lösegeld eines Königs darstellt, ein Sühnopfer, das aus freien Stücken dargebracht wurde, um uns nicht nur aus dem Gefängnis des Todes zu befreien, sondern auch aus dem Gefängnis der Sorgen, der Sünde und der Zügellosigkeit.
Ich weiß, dass Joseph Smith den Vater und den Sohn gesehen hat und dass dieser Tag eine direkte Fortsetzung jenes Tages ist. Ich bin für dieses kostbare Wissen, von dem ich hier Zeugnis gebe, und dieses unschätzbare Erbe, das mir gegeben ist, zu großem Dank verpflichtet. Und ich werde den Rest meines Lebens dafür einsetzen, alles zu geben, um den Dank, den ich schulde, zu zeigen. Im Namen Jesu Christi, amen.