Auf das Kreuz emporgehoben
Um ein Nachfolger Jesu Christi zu sein, muss man zuweilen eine Last tragen und dort hingehen, wo Opfer verlangt werden und Leid unvermeidlich ist
Vor Jahren an der Hochschule, nach einer Diskussion über amerikanische Religionsgeschichte, fragte mich ein Kommilitone: „Warum haben die Heiligen der Letzten Tage nicht wie andere Christen das Kreuz als Symbol für ihren Glauben angenommen?“
Da solche Fragen zum Kreuz häufig auf unser Bekenntnis zu Christus abzielen, sagte ich ihm sofort, dass die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage das Sühnopfer Jesu Christi als zentrale Tatsache, entscheidende Grundlage, wichtigste Lehre und höchsten Ausdruck der göttlichen Liebe im großartigen Plan Gottes für die Errettung seiner Kinder betrachtet.1 Ich erklärte, dass alle Menschen – von Adam und Eva bis zum Ende der Welt – auf die errettende Gnade, die dieser Tat innewohnt, angewiesen sind und sie ihnen allen geschenkt worden ist.2 Ich zitierte den Propheten Joseph Smith, der erklärt hat, dass „alles andere, was mit unserer Religion zu tun hat, … nur eine Beigabe“ zum Sühnopfer Christi ist.3
Dann las ich ihm vor, was Nephi 600 Jahre vor der Geburt Jesu geschrieben hatte: „Und … der Engel [sprach zu mir], nämlich: Schau! Und ich schaute und sah das Lamm Gottes, [das] auf das Kreuz emporgehoben und für die Sünden der Welt getötet wurde.“4
Mein Eifer für das Prinzip „Lieben, weitergeben und einladen“ war nun voll entfacht, also las ich weiter! Zu den Nephiten in der Neuen Welt sagte der auferstandene Christus: „Mein Vater hat mich gesandt, damit ich auf das Kreuz emporgehoben würde und damit ich … alle Menschen zu mir zöge, … und aus diesem Grund bin ich emporgehoben worden.“5
Als ich gerade den Apostel Paulus zitieren wollte, fiel mir auf, dass mein Kommilitone allmählich glasige Augen bekam. Ein kurzer Blick auf seine Armbanduhr erinnerte ihn wohl daran, dass er eigentlich woanders – irgendwo – sein müsste, und schon eilte er fort zu seinem fiktiven Termin. So endete unser Gespräch.
Heute Vormittag, um die 50 Jahre später, bin ich entschlossen, diese Ausführungen zu Ende bringen – selbst wenn jeder Einzelne von Ihnen auf seine Armbanduhr schaut. Ich will versuchen, zu erläutern, weshalb wir das Kreuz normalerweise nicht als Symbol nutzen. Zugleich bekunde ich aber unsere Hochachtung und tiefe Bewunderung für die von Glauben geprägten Beweggründe und das gottgeweihte Leben derer, die es tun.
Ein Grund, weshalb wir nicht das Kreuz als Symbol hervorheben, ist auf unsere biblischen Wurzeln zurückzuführen. Da die Kreuzigung zur Zeit des Römischen Reichs eine der qualvollsten Formen der Hinrichtung war, entschieden sich viele der frühen Nachfolger Jesu, dieses brutale Instrument des Leidens nicht zu betonen. Die Bedeutung von Christi Tod war sicherlich ein bedeutender Bestandteil ihres Glaubens, dennoch versuchten sie etwa 300 Jahre lang, ihre christliche Identität meist auf andere Weise zu vermitteln.6
Im Laufe des 4. und des 5. Jahrhunderts wurde das Kreuz als Symbol des allgemeinen Christentums eingeführt. Doch unser Christentum ist nicht allgemeiner Art. Wir sind weder katholisch noch protestantisch, sondern vielmehr eine wiederhergestellte Kirche, nämlich die wiederhergestellte Kirche aus der Zeit des Neuen Testaments. Unser Ursprung und unsere Vollmacht gehen zurück auf die Zeit vor den Konzilen, den Glaubensbekenntnissen und der Ikonografie.7 In diesem Sinne ist die Abwesenheit eines Symbols, das erst viel später eingeführt wurde, ein weiterer Beleg dafür, dass die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage eine Wiederherstellung der wahren christlichen Anfänge ist.
Ein weiterer Grund, weshalb wir das Symbol des Kreuzes nicht nutzen, ist, dass wir das gesamte Wunder der Mission Christi betonen: seine herrliche Auferstehung ebenso wie sein Opferleiden und seinen Opfertod. Um diesen Zusammenhang zu unterstreichen, erwähne ich zwei Kunstwerke,8 die bei der heiligen Zusammenkunft der Ersten Präsidentschaft und des Kollegiums der Zwölf Apostel jeden Donnerstag im Tempel in Salt Lake City als Hintergrund dienen. Die Gemälde erinnern uns stets an den Preis, der gezahlt wurde, und den Sieg, der errungen wurde, durch ihn, dessen Diener wir sind.
Ein von uns genutztes Symbol des zweifachen Sieges Christi, das in der Öffentlichkeit sichtbarer ist, ist diese kleine Abbildung der Thorvaldsen-Skulptur des auferstandenen Christus, der in Herrlichkeit aus dem Grab hervorkommt, die Wunden seiner Kreuzigung noch sichtbar.9
Und schließlich behalten wir im Kopf, dass Präsident Gordon B. Hinckley einmal gesagt hat: „Das Symbol unseres [Glaubens] … muss die Art und Weise sein, wie unser Volk lebt.“10 Diese Überlegungen – vor allem die zuletzt genannte – führen mich zu dem wohl bedeutendsten Verweis auf das Kreuz in den heiligen Schriften. Hier geht es nicht um Anhänger oder Schmuck, Kirchtürme oder Schilder. Vielmehr geht es um die felsenfeste Lauterkeit und das unbeugsame moralische Rückgrat eines Christen, der dem Ruf Jesu an jeden seiner Jünger folgt. In jedem Land und zu jeder Zeit sagt er uns allen: „Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“11
Es geht hier um das Kreuz, das wir tragen, nicht um eines, das wir uns umhängen. Um ein Nachfolger Jesu Christi zu sein, muss man zuweilen eine Last tragen – die eigene oder die eines anderen – und dort hingehen, wo Opfer verlangt werden und Leid unvermeidlich ist. Ein wahrer Christ darf dem Meister nicht nur in den Angelegenheiten nachfolgen, denen er zustimmt. Nein. Wir folgen ihm überall hin nach, falls notwendig auch in mit Tränen und Sorgen gefüllte Arenen, in denen wir manchmal ganz allein dastehen.
Ich kenne Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche, die Christus mit ebendieser Treue nachfolgen. Ich kenne Kinder mit schweren körperlichen Behinderungen und die Eltern, die für sie sorgen. Ich sehe, wie sie alle manchmal bis zur völligen Erschöpfung arbeiten und Kraft, Sicherheit und einige wenige Momente der Freude suchen, die auf keine andere Weise möglich sind. Ich kenne viele Alleinstehende, die sich nach einem liebevollen Partner, einer wunderbaren Ehe und einem Zuhause voll eigener Kinder sehnen und dies auch verdient hätten. Kein Wunsch könnte gerechter sein. Und doch bleibt solches Glück Jahr für Jahr noch aus. Ich kenne Menschen, die gegen psychische Krankheiten verschiedenster Art ankämpfen, die im Gebet um Hilfe flehen und sich nach dem verheißenen Land seelischer Stabilität sehnen und alles daran setzen, es zu erreichen. Ich kenne Menschen, die in lähmender Armut leben, aber – der Verzweiflung trotzend – um nichts weiter bitten als die Chance, ihren Lieben und anderen notleidenden Menschen in ihrer Umgebung ein besseres Leben zu ermöglichen. Ich kenne viele, die mit komplexen Fragen der Identität, des Geschlechts und der Sexualität ringen. Ich weine um sie und weine mit ihnen, weil ich weiß, wie weitreichend die Folgen ihrer Entscheidungen sein werden.
Dies sind nur einige von den vielen beschwerlichen Umständen, die uns im Leben begegnen mögen – sie erinnern uns mit großem Ernst daran, dass Nachfolge ihren Preis hat. König David erwiderte Arauna, der ihm kostenlos Rinder und Brennholz für sein Brandopfer geben wollte: „Nein, ich will es dir gegen Bezahlung abkaufen; ich will dem Herrn, meinem Gott, keine unbezahlten Brandopfer darbringen.“12 Das sind auch unsere Worte.
Wenn wir unser Kreuz auf uns nehmen und Christus nachfolgen, wäre es tatsächlich tragisch, wenn uns das Gewicht unserer Herausforderungen nicht empathischer und aufmerksamer für die Last anderer machen würde. Ein besonders augenfälliges Paradox der Kreuzigung ist, dass die Arme des Erretters weit ausgestreckt festgenagelt wurden, wodurch unbeabsichtigt, aber zutreffend verdeutlicht wurde: Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind der gesamten Menschheitsfamilie ist willkommen, ja, sogar eingeladen, seine erlösende, erhöhende Umarmung zu erfahren.13
Wie auf die qualvolle Kreuzigung die herrliche Auferstehung folgte, so werden Segnungen jeder Art auf diejenigen ausgeschüttet, die willens sind, wie es der Prophet Jakob im Buch Mormon ausdrückt, „an Christus [zu] glauben und seinen Tod vor Augen [zu] haben und sein Kreuz [zu] erleiden“. Manchmal stellen sich diese Segnungen bald ein, manchmal später; doch der wundersame Abschluss unserer persönlichen Via Dolorosa14 ist die Verheißung des Meisters selbst, dass sie gewiss kommen werden. Mögen wir, um solche Segnungen zu erlangen, ihm nachfolgen – unermüdlich und ohne zu wanken, ohne vor Aufgaben zu fliehen oder zurückzuweichen, weder wenn unser Kreuz schwer sein mag noch wenn unser Weg eine Zeit lang finster wird. Ich möchte Ihnen persönlich für Ihre Kraft, Treue und Liebe von Herzen danken. Als Apostel lege ich heute Zeugnis ab für ihn, der emporgehoben wurde,15 und für die ewigen Segnungen, die er denen verleiht, die mit ihm emporgehoben werden – ja, für den Herrn Jesus Christus. Amen.