Kapitel 1
Wo und wann
„Sag ihm, er soll die Kirche zurückschicken.“
Die leise, eindringliche Stimme überraschte und verwirrte die sechzehnjährige Nora Siu Yuen Koot. „Wie bitte?“, fragte sie.
„Sag ihm, er soll die Kirche zurückschicken.“
Wieder hörte Nora diese Botschaft deutlich. Es war, als hätte sie ihr jemand ins rechte Ohr geflüstert. Doch da war niemand. Sie stand an diesem Septembertag im Jahr 1954 ganz allein vor einem Hotel in Hongkong. Einige wenige Besucher aus den Vereinigten Staaten waren gerade in den Bus zum Flughafen gestiegen, und nun winkte sie ihnen zum Abschied zu.
Die Besucher waren Führer in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und bereisten derzeit Ostasien. In diesem Teil der Welt lebte mehr als eine Milliarde Menschen, aber nur etwa eintausend von ihnen hatten das wiederhergestellte Evangelium Jesu Christi angenommen. Die Kirche war schon seit mehreren Jahren nicht mehr offiziell in Hongkong vertreten, nachdem soziale Unruhen in China und der Krieg im nahegelegenen Korea die Leitung der Kirche 1951 veranlasst hatten, die Mission zu schließen. Doch nun war der Konflikt beendet, und die Besucher waren gekommen, um nach Nora und den achtzehn weiteren Heiligen in der Stadt zu sehen.
Angeführt wurde die Gruppe von Elder Harold B. Lee, einem der dienstälteren Mitglieder des Kollegiums der Zwölf Apostel der Kirche. Offenkundig bekleidete er eine wichtige Position, doch Nora wusste nicht genug über die Hierarchie in der Kirche, um sagen zu können, welche. Eines war ihr jedoch klar: Die geflüsterte Botschaft war für ihn bestimmt.
Ohne weiter zu überlegen, streckte sie die Hand nach dem Bus aus in der Hoffnung, er werde nicht gleich abfahren. „Apostel Lee!“, rief sie.
Elder Lee streckte seine Hand durch ein offenes Fenster, und Nora ergriff sie. „Bitte schicken Sie die Kirche zurück“, flehte sie. „Ohne die Kirche sind wir Heilige hier wie Menschen ohne Speise. Wir brauchen geistige Nahrung.“
Die Augen des Apostels füllten sich mit Tränen. „Das habe nicht ich zu entscheiden“, erwiderte er, „aber ich werde es den Brüdern weitergeben.“ Er legte Nora ans Herz, zu beten und den Glauben nicht aufzugeben, und versicherte ihr, dass die Kirche durchaus in Hongkong vertreten sei, solange es dort treue Heilige wie sie gebe.
Schließlich legte der Busfahrer den Gang ein und fuhr los.
Monat um Monat verging, ohne dass Nora etwas von der Kirche hörte. Manchmal fragte sie sich, ob sie wohl jemals wieder etwas von ihr hören werde. Die Missionare der Heiligen der Letzten Tage hatten es in Hongkong schon immer schwer gehabt. In den 1850er Jahren hatten Missionare dort zum ersten Mal das Evangelium verkündet, doch Krankheit, religiöse und kulturelle Verschiedenheiten sowie Armut und die Sprachbarriere hatten dazu geführt, dass die Mission nach nur wenigen Monaten und keiner Taufe wieder aufgegeben wurde. Die nächste Gruppe von Missionaren kam 1949, doch die Mission hielt sich nur zwei Jahre.
Damals waren Nora und ihre beiden jüngeren Schwestern die ersten Einheimischen gewesen, die sich in Hongkong der Kirche anschlossen. Ihre Familie gehörte zu den hunderttausenden von Flüchtlingen, die vor den Unruhen auf dem chinesischen Festland in der britischen Kolonie Zuflucht gesucht hatten. Der Hauptsitz der Mission hatte sich in der Straße befunden, wo sie wohnten, und Noras Stiefmutter schickte die Mädchen jeden Vormittag dorthin. Sie sollten Englisch lernen und sich anhören, was die Missionare sonst noch zu sagen hatten.
Nora konnte sich noch gut an den Bibelunterricht mit Schwester Sai Lang Aki, einer hawaiianischen Missionarin chinesischer Abstammung, erinnern. Und sie war es auch, die ihr half, Englisch zu lernen. In dieser Zeit erhielt Nora ein Zeugnis vom wiederhergestellten Evangelium. Ihr Zeugnis half ihr, stark zu bleiben, als die Mission geschlossen wurde und es ihr schien, als sei die Sonne über Hongkong untergegangen. Es gab weder die heiligen Handlungen des Priestertums noch die Abendmahlsversammlung oder Gemeindehäuser und auch kein Material der Kirche auf Chinesisch, doch sie hielt eisern an ihrem Glauben an Jesus Christus fest.
Im August 1955, also fast ein Jahr nach dem Besuch von Elder Lee, sprach ein großer, blonder junger Mann Nora in dem Kino an, in dem sie arbeitete. Sie erkannte in ihm sogleich Grant Heaton, der als Missionar in Hongkong gewesen war, bevor die Mission geschlossen wurde. Er und seine Frau Luana waren soeben in Hongkong eingetroffen, um die neu gegründete Mission Fernost Süd zu eröffnen.
Noras Freude war übergroß. Wie sie es erhofft hatte, hatte Elder Lee mit den Führern der Kirche über die Heiligen in Hongkong gesprochen. Schon bald nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten hatte er empfohlen, die Mission wieder zu öffnen, und Noras Geschichte sogar auf der Generalkonferenz der Kirche erzählt. Der Präsident der Kirche, David O. McKay, hatte sodann Grant berufen, die neue Mission zu leiten, die Hongkong, Taiwan, die Philippinen, Guam und weitere Orte in der Region umfasste.
„Die Sonne geht wieder auf“, dachte Nora. „Für die Heiligen in Hongkong ist ein neuer Morgen angebrochen!“
Fast zwei Monate nach der Eröffnung der Mission Fernost Süd kehrte Präsident David O. McKay am 22. September 1955 nach einer fünfwöchigen Tour unter den Heiligen in Europa nach Salt Lake City zurück. Obwohl er und seine Frau Emma Ray den ganzen Tag im Flugzeug gesessen hatten, begrüßten sie fröhlich die Führer der Kirche sowie Verwandte und Freunde, die sie vom Flughafen abholten.
Noch auf dem Rollfeld unterhielt sich Präsident McKay mit Reportern und Fotografen und erzählte vom Höhepunkt seiner Reise – der Weihung des Schweizer Tempels bei Bern. Er war einer von sieben Tempeln, die nun weltweit in Betrieb waren, und der erste in Europa. Die Weihung war in sieben Sprachen und insgesamt zehn Sessionen vorgenommen worden. Hunderte von europäischen Heiligen hatten dort bereits das Endowment erhalten.
Die Anwohner waren von dem heiligen Gebäude angetan. „Sie bezeichnen ihn als ‚ihren‘ Tempel“, erzählte Präsident McKay einem Reporter, „und die Mitglieder werden nunmehr als Christen angesehen.“
Der Schweizer Tempel stand für das Bestreben der Kirche, starke Gemeinden in aller Welt zu etablieren, nachdem ja die Heiligen jahrzehntelang ermuntert worden waren, sich in Utah zu sammeln. Nun wurde auch in England und in Neuseeland ein Tempel errichtet, denn es war der Kirche ein Anliegen, den Tempel näher zu den weit verstreuten Mitgliedern zu bringen und ihnen die Tempelverordnungen zu ermöglichen.
Präsident McKay wusste, dass diese Tempel erst der Anfang waren. Wie Joseph Smith prophezeit hatte, sollte die Wahrheit Gottes jedes Land überziehen und in jedem Ohr erklingen.
Dieser Tag war noch nicht gekommen, doch die Kirche machte Fortschritte. Obwohl der größte Teil der Weltbevölkerung noch nie etwas vom wiederhergestellten Evangelium Jesu Christi gehört hatte, nahm das Ansehen der Kirche seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu. Es gab auf der Welt etwas mehr als eine Million Heiliger der Letzten Tage, und viele Menschen bewunderten ihren gesunden Lebensstil, ihre christlichen Werte, ihre Fürsorge für die Armen und ihre frohe Botschaft. Der Tabernakelchor der Kirche war durch Radiosendungen in aller Welt zu einer Berühmtheit geworden. Zu Beginn des Jahres, als die Kirche ihr 125-jähriges Bestehen feierte, lobte die New York Times, eine der bekanntesten Zeitungen der Vereinigten Staaten, die Heiligen in den höchsten Tönen.
Als Präsident McKay und seine Ratgeber Stephen L. Richards und J. Reuben Clark über die Bestimmung der Kirche nachdachten, kreisten ihre Gedanken auch um die Hürden, die einem noch größeren Wachstum im Weg standen.
Eine Hürde war der Bau richtiger Gemeindehäuser und weiterer Einrichtungen für die Heiligen. In den 1920er Jahren hatte die Kirche ein System geschaffen, das den Gemeinden standardisierte Baupläne und umfangreiche Finanzmittel zur Verfügung stellte, um die Heiligen vor Ort beim Bau von Gebäuden mit Elektrizität, Sanitäranlagen und neuerdings auch Klimaanlagen zu unterstützen. Wo die Kirche jedoch noch nicht so etabliert war, verfügten viele Zweige weder über die Mittel noch über das Fachwissen, groß angelegte Projekte durchzuführen. Infolgedessen mussten sich die Mitglieder oftmals in gemieteten Räumlichkeiten treffen.
In vielen Teilen der Welt waren die Probleme noch vielschichtiger. Einige Zweige hatten es schwer, da es nur wenige Mitglieder, unerfahrene einheimische Führer, selten Kontakt mit dem Hauptsitz der Kirche und so gut wie gar keine Literatur in der jeweiligen Sprache gab. Einige Orte waren einfach zu weit von einem Pfahl oder Distrikt der Kirche entfernt, als dass man starke Gemeinden hätte bilden können.
Da über neunzig Prozent der Heiligen der Letzten Tage in den Vereinigten Staaten lebten, wurde die Kirche oft mit Amerika in Verbindung gebracht. Diese Wahrnehmung führte zu Problemen in kommunistischen Ländern wie der Sowjetunion, die den Vereinigten Staaten und der Religion generell mit großem Misstrauen begegneten. In den letzten zehn Jahren hatten viele dieser Länder Maßnahmen ergriffen, die es der Kirche schwer – wenn nicht gar unmöglich – machten, dort ihren Betrieb aufrechtzuerhalten.
Die Eröffnung der Mission Fernost Süd bewies, dass die Erste Präsidentschaft und das Kollegium der Zwölf Apostel bestrebt waren, die Missionsarbeit auf neue Regionen auszudehnen, insbesondere in Asien und Südamerika. Afrika stellte jedoch eine ganz eigene Hürde dar. Seit den frühen 1850er Jahren hatte die Kirche Menschen schwarzafrikanischer Abstammung davon ausgenommen, das Priestertum zu tragen und im Tempel das Endowment zu erhalten oder sich siegeln zu lassen. Aus diesem Grund hatte die Kirche auf diesem Kontinent bisher nur wenig Missionsarbeit geleistet. Trotzdem erhielten die Führer der Kirche hin und wieder Briefe von Menschen aus Westafrika, die Interesse am wiederhergestellten Evangelium bekundeten.
Diese Herausforderungen und Erfolge gingen Präsident McKay nicht aus dem Sinn, als er sechs Monate später nach Kalifornien reiste und den Tempel in Los Angeles weihte. Die Planungen für das Gebäude hatten auf Weisung von Präsident Heber J. Grant begonnen, doch die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg hatten die Fertigstellung um fast zwanzig Jahre verzögert. Es war der größte Tempel, den die Kirche je erbaut hatte, und an den intensiv beworbenen Tagen der offenen Tür hatten siebenhunderttausend Menschen die Gelegenheit, ihn zu besichtigen und sich über seinen heiligen Zweck zu informieren.
Bei der Weihungszeremonie blickte Präsident McKay in der Kapelle des Tempels auf die Anwesenden und dankte dem Herrn.
„Wir haben deine Gegenwart verspürt und in Zeiten des Zweifels und der Verwirrung auf deine Stimme gehört“, sagte er im Weihungsgebet. „Hier in deinem heiligen Haus erkennen wir in Demut und tiefer Dankbarkeit deine göttliche Führung, deinen Schutz und deine Inspiration an.“
Zu dieser Zeit begann in São Paulo in Brasilien ein angehender methodistischer Geistlicher namens Hélio da Rocha Camargo sein drittes Jahr an der theologischen Hochschule. Eines Tages erzählte ihm ein Bekannter aus seiner Kirchengemeinde, dass er sich mit Missionaren der Heiligen der Letzten Tage getroffen habe, und lud Hélio ein, beim nächsten Besuch mit dabei zu sein.
Hélio war neugierig auf die Heiligen und ihre Lehre, also nahm er die Einladung an. Die Kirche war in Brasilien schon seit fast dreißig Jahren vertreten, doch es gab insgesamt nur etwa eintausenddreihundert Mitglieder dort, und Hélio hatte noch keines kennengelernt. Leider erschienen die Missionare damals nicht zu dem Termin.
Kurze Zeit später wurde im Unterricht das Wesen Gottes besprochen. Hélio fragte seinen Professor, ob die Heiligen der Letzten Tage an die Dreifaltigkeit glaubten, also der Auffassung seien, dass Gottvater, Jesus Christus und der Heilige Geist ein und dieselbe Person seien.
„Darüber weiß ich nichts“, räumte der Professor ein. Er warf sogar die Frage auf, ob die Heiligen der Letzten Tage überhaupt Christen seien.
„Nun ja“, erklärte Hélio, „ich glaube schon, dass sie sich als Christen betrachten, immerhin lautet der offizielle Name ihrer Kirche doch Kirche Jesu Christi.“
„Finden Sie doch heraus, ob es welche in São Paulo gibt“, bat ihn der Professor. Er schlug Hélio vor, einen Heiligen der Letzten Tage als Redner zum wöchentlichen Forum der Studenten einzuladen.
Hélio wandte sich an den Sitz der Kirche in der Stadt und lud Asael Sorensen, den Präsidenten der Brasilianischen Mission, zum Forum ein. Präsident Sorensen wollte die Einladung eigentlich gern annehmen, hatte jedoch bereits einen anderen Termin und bot daher an, stattdessen zwei junge Missionare zu schicken.
„Ich garantiere Ihnen, dass die jungen Männer gut vorbereitet sein werden“, versprach er Hélio.
Am Tag des Forums kamen zwei Missionare aus den Vereinigten Staaten zur Hochschule – Elder David Richardson und Elder Roger Call. Hélio begrüßte die jungen Männer und stellte sie den Anwesenden – etwa fünfzig Studenten und einem Dutzend Dozenten – vor. Elder Richardson, der besser Portugiesisch sprach, trat ans Rednerpult und sprach über die Kirche. Elder Call hielt das Wichtigste an der Tafel fest.
Hélio war von Elder Richardsons Mut und Gelassenheit beeindruckt. Der junge Mann sprach zunächst über die Gottheit und gab Zeugnis, dass der Vater, der Sohn und der Heilige Geist drei getrennte Wesen sind. Schon bald unterbrachen ihn die Zuhörer und stellten eine Frage nach der anderen. „Lassen Sie mich doch bitte zuerst ausreden“, bat Elder Richardson schließlich. „Hinterher können Sie Fragen stellen.“
Die Zuhörer verstummten, und der Missionar fuhr mit seiner Botschaft fort. Er bezog sich dabei häufig auf die Bibel, und jedes Mal, wenn er einen Vers zitierte, schlugen die Professoren und die Studenten ihre Heilige Schrift auf und prüften die Richtigkeit. Hélio bemerkte, dass seine Kommilitonen nicht mit allem einverstanden waren, was die Missionare vortrugen, aber sie hörten nun respektvoll zu.
Dann sprach Elder Richardson die Themen Priestertumsvollmacht und Taufe an. „Wenn wir Ihnen beweisen können, dass wir die Vollmacht haben zu taufen“, erklärte er, „wie viele von Ihnen würden sich dann taufen lassen?“
Ein Student rief: „Ich!“, woraufhin ihn der Hochschulrektor missbilligend ansah.
Nach Elder Richardsons Vortrag durften die Anwesenden Fragen stellen. Einige Studenten erkundigten sich prompt nach dem Massaker von Mountain Meadows und weiteren strittigen Themen. Offenbar wollten nur wenige Studenten den Anschein erwecken, als seien sie an der Kirche interessiert.
Nach der Präsentation aßen Hélio und drei weitere Studenten mit den Missionaren zu Mittag. Sie stellten den Missionaren weitere Fragen und zeigten aufrichtiges Interesse an ihrer Botschaft. Hélio wollte mehr über die Kirche erfahren, hatte jedoch wenig Zeit. Er und seine Frau Nair hatten vier kleine Kinder und erwarteten gerade das fünfte. Mit Studium und Familie war er vollends ausgelastet.
Schon bald legte er sein Interesse an der Kirche auf Eis und der Kontakt zu den Missionaren ging verloren.
Im Mai 1956 waren Mosese Muti und sein Freund ʻAtonio ʻAmasio, die beide der Kirche angehörten, eines Tages auf einer Straße außerhalb der Stadt Nukuʻalofa im pazifischen Inselstaat Tonga unterwegs. Während sie sich so im Gehen unterhielten, fuhr ein Auto an ihnen vorbei und hielt dann abrupt an. Die beiden Männer kannten den Wagen. Er gehörte Fred Stone, dem Präsidenten der Tongaischen Mission. Präsident Stone war mit seinen etwa fünfzig Jahren nur ein paar Jahre älter als Mosese. Er und seine Frau Sylvia waren seit etwa sechs Monaten im Land tätig.
Mosese und ʻAtonio eilten zu dem Auto, und Präsident Stone begrüßte sie. „Kennen Sie jemanden, der auf Mission gehen möchte?“, fragte er. Überall im südpazifischen Raum berief die Kirche Dutzende von „Arbeitsmissionaren“, um dort den Bau von Versammlungsgebäuden voranzubringen. Präsident McKay hatte kürzlich den Bau von einundzwanzig neuen Gemeindehäusern in Tonga genehmigt, und Präsident Stone war ermächtigt, für die Arbeit einheimische Heilige zu berufen.
Mosese sah ʻAtonio an, der mit den Schultern zuckte. Es gab wohl mehr als viertausend Mitglieder der Kirche in Tonga, aber potenzielle Missionare kamen ihm eigentlich keine in den Sinn. Eine Arbeitsmission verschaffte den Heiligen wertvolle handwerkliche Fähigkeiten, etwa als Maurer, Elektriker, Klempner oder Tischler, was ihnen ja nach der Mission zugutekam und dazu beitragen konnte, dass sie eine Anstellung fanden. Allerdings konnte die Arbeit auch ziemlich zermürbend sein.
„Sie müssen doch irgendjemanden kennen“, hakte Präsident Stone weiter nach. „Was ist mit Ihnen, Muti?“
„Wenn die Berufung vom Herrn kommt, gehe ich gerne“, erklärte Mosese. Er und seine Frau Salavia gehörten seit mehr als zwanzig Jahren der Kirche an. Sie hatten bereits mehrere Missionen hinter sich und im Zuge dessen auch am Bau des Liahona College, einer neuen Highschool der Kirche in Tonga, mitgearbeitet. Doch Mosese arbeitete derzeit für die tongaische Regierung und war in leitender Funktion für die Beschaffung von Baumaterial tätig. Zudem hatte er eine große Familie. Er wollte sein Leben also nicht unbedingt aus den Angeln heben, bloß weil der Präsident einen arbeitswilligen Missionar suchte.
„Der Herr möchte, dass Sie gehen“, versicherte ihm Präsident Stone. „Verfügen Sie über Geld oder Ersparnisse?“
„Gerade deswegen habe ich Ihnen ebendiese Antwort gegeben“, entgegnete Mosese. „Der Herr weiß, wie arm wir sind und womit er uns segnen müsste, damit wir überhaupt auf Mission gehen könnten.“
„Besprechen Sie das doch mit Salavia“, schlug Präsident Stone vor. „Lassen Sie mich wissen, was sie von einer Mission hält.“
„Ich will nur wissen, wo und wann“, sagte Mosese.
Der Präsident teilte ihm mit, dass er auf Niue, einem kleinen Inselstaat mehr als sechshundert Kilometer nordöstlich von Tonga, arbeiten werde. Vier Missionare predigten dort bereits das Evangelium und bereiteten den Bau eines Gemeindehauses vor, doch die Arbeit ging nur schleppend voran.
„Meine Frau und meine Kinder werden gerne gehen“, antwortete Mosese. Er erzählte Präsident Stone von einem Traum, den er kürzlich gehabt hatte. Darin waren er und Salavia gemeinsam auf einer anderen Insel spazieren gegangen. „An diesem Ort befanden sich alle Dörfer entlang der Küste“, fuhr Mosese fort. „Ich habe noch nie eine solche Insel gesehen. Das muss Niue sein!“
„Gut“, entgegnete der Präsident. „Sie haben zweieinhalb Wochen Zeit, sich vorzubereiten. Dann kommt nämlich das Schiff.“
Salavia freute sich, als Mosese ihr von der Missionsberufung erzählte, und gemeinsam dankten sie dem Herrn dafür. Seit ihrer Hochzeit im Jahr 1933 hatte sie nie erlebt, dass er eine Gelegenheit ausgeschlagen hätte, in der Kirche zu dienen. Zudem teilte sie seine Begeisterung für die Missionsarbeit und vertraute darauf, dass Gott sie für die Opfer, die sie in seinem Namen brachten, segnen würde.
Mehr als alles andere sehnten sich die Mutis danach, die Segnungen des Tempels zu erhalten. Doch der nächste Tempel befand sich in Hawaii und war somit nahezu fünftausend Kilometer entfernt, und solcherlei Fahrtkosten waren für die Mutis unerschwinglich. Nach der Fertigstellung des Tempels in Neuseeland wäre der Weg zu ihrem Ziel wesentlich kürzer. Aber selbst dann wären die Kosten höher, als sie es sich leisten könnten – vor allem jetzt, da sie auf eine weitere Mission gingen.
Dennoch hatten sie Grund zur Hoffnung, dass sie eines Tages doch den Tempel betreten könnten. Als Mosese 1938 auf Mission gewesen war, hatte nämlich Apostel George Albert Smith Tonga besucht und Mosese das Melchisedekische Priestertum übertragen. „Wenn Sie Ihre Missionsarbeit fortsetzen“, hatte ihm der Apostel verheißen, „werden Sie durch den Tempel gehen, ohne dafür auch nur einen einzigen Penny aus eigener Tasche dazuzahlen zu müssen.“
Am 29. Mai 1956 gingen Mosese und Salavia mit ihren vier jüngsten Kindern an Bord eines Schiffes nach Niue. Die Familie hatte gerade genug Geld für die Überfahrt. Wie sie auf Mission ihren Lebensunterhalt bestreiten würden, lag in der Hand des Herrn. Als Tonga nun ihrem Blick entschwand und stattdessen nur noch das Auf und Ab der Wellen bis zum endlosen Horizont zu sehen waren, setzten die Mutis ihr Vertrauen voll und ganz auf Gottes Verheißungen.
Einige Monate nachdem Familie Muti nach Niue aufgebrochen war, befielen Hélio da Rocha Camargo Zweifel an der Kleinkindtaufe, wie sie bei den Methodisten und weiteren christlichen Kirchen üblich war. Zunächst wollte er sich einfach nur Klarheit darüber verschaffen. Wozu werden Säuglinge getauft? Was bringt die Taufe dem Baby? In der Bibel schien nichts über diese Praxis zu stehen, also stellte er diese Fragen seinen Professoren und Kommilitonen an der theologischen Hochschule. Keiner konnte sie zufriedenstellend beantworten.
„Als historisch gewachsenen Brauch würde ich sie beibehalten“, meinte einer.
Hélio verstand die Logik dahinter nicht. „Wozu soll das gut sein?“, fragte er. „Sind historisch gewachsene Traditionen denn zwangsläufig wahr?“
Je mehr er über die Kleinkindtaufe nachdachte, desto mehr verunsicherte sie ihn. Seine Frau Nair hatte gerade ihr fünftes Kind zur Welt gebracht – einen Jungen namens Josué. Wieso sollte ein Säugling wie Josué getauft werden müssen? Welche Sünde hatte er denn begangen?
Weitere Studenten der Hochschule schlossen sich Hélio an und stellten die Praxis in Frage. Alarmiert berief die Verwaltung einen Fakultätsrat ein und befragte Hélio und die anderen Studenten. Hélio war zu den Professoren ehrlich. „Ich finde keine ausreichende Rechtfertigung für die Kleinkindtaufe“, erklärte er ihnen. „Diese Praxis wird nicht durch eine Lehre gestützt, die ich nachvollziehen könnte oder die aus dem Neuen Testament hervorgeht.“ Als Geistlicher könne er später nicht guten Gewissens ein Baby taufen, erklärte er weiter.
Nach der Befragung wurden Hélio und drei seiner Freunde ein Semester lang suspendiert, damit sie sich Zeit nehmen und nach Antworten auf ihre Fragen suchen konnten. Als Hélio Nair diese Nachricht überbrachte, war sie bestürzt. Wie Hélios Herz hing auch ihres an Jesus Christus und dem Bibelstudium, und es missfiel ihr, wie die Hochschule ihren Mann behandelte. Sollten Hélios Nachforschungen letzten Endes nicht mit der Lehrmeinung der Hochschule übereinstimmen, könnte ihn der Fakultätsrat einfach vom Studium ausschließen – und damit wahrscheinlich sogar seinem geistlichen Dienst ein Ende setzen.
Noch einmal versuchte Hélio, Grundlage und Sinn der Kleinkindtaufe zu ergründen. Er bat einige seiner Freunde und Professoren, ihm bei der Suche nach Antworten zu helfen. Doch sie lehnten ab. „Wozu soll das gut sein?“, fragten sie. „Du wirst deine Meinung ja doch niemals ändern.“
Hélio blieb beharrlich. „Aber ich will meine Meinung ändern“, meinte er. „Ich möchte einen guten Grund finden, sie zu ändern.“
Ein Professor erklärte sich schließlich bereit, die Sache mit ihm durchzugehen. Sie lasen im Neuen Testament jede Stelle über die Taufe und zogen mitunter Kommentare und den griechischen Originaltext zu Rate, um weitere Erkenntnisse zu gewinnen. „Sie haben Recht“, sagte der Professor nach ein paar Wochen. „Es gibt keine biblische Rechtfertigung für diese Lehre.“
Am Ende seiner Suspendierung trat Hélio erneut vor den Hochschulrat und teilte diesem mit, dass sich seine Haltung zur Kleinkindtaufe nicht geändert habe. Der Rat erkannte, dass er ihn nicht umstimmen könne, und erklärte Hélios Studium an der Hochschule als beendet.
Hélio begann in einer Bank zu arbeiten, aber er las weiterhin über die Taufe und wollte wissen, was andere Kirchen lehrten. Nair unterstützte ihn bei seiner Suche nach mehr Wahrheit, doch seine Verwandten hielten es für seltsam und ein wenig unreif, dass er deswegen sein Studium aufgab. Hélio interessierte das allerdings nicht. Er betete oft um Führung – nicht nur für sich selbst, sondern auch für Nair und die Kinder. Als Vater hielt er es für seine Pflicht, seine Kinder zu Licht und Wahrheit hinzuführen.
Da kamen Hélio eines Tages die Missionare der Heiligen der Letzten Tage in den Sinn, die an der Hochschule einen Vortrag gehalten hatten. Damals hatte er doch ein Buch über ihre Kirche gekauft, das er allerdings erst in groben Zügen durchgeblättert hatte. Es trug den Titel Ein wunderbares Werk, ja, ein Wunder. Er nahm das Buch aus dem Regal und schlug es auf. Der Autor LeGrand Richards war ein Apostel der Heiligen der Letzten Tage, auch war er zweimal Missionspräsident gewesen. In jedem Kapitel wurde ein Grundsatz des wiederhergestellten Evangeliums Punkt für Punkt dargelegt, wobei jede Behauptung durch die Bibel gestützt wurde.
Schon bald verlor Hélio das Interesse an anderen Kirchen. Das Buch Ein wunderbares Werk, ja, ein Wunder zog ihn ganz in seinen Bann. „Dieses Buch“, so dachte er, „enthält Antworten wie kein anderes.“
Er wusste, dass er die Kirche aufsuchen musste. Er wollte unbedingt mehr über die Heiligen erfahren.