Kapitel 22
Mehr wie unser Herr und Meister
Am Vormittag des 7. April 1984 hatte sich Ardeth Kapp in die erste Reihe des Tabernakels in Salt Lake City gesetzt. Gordon B. Hinckley, der rund drei Jahre zuvor als weiterer Ratgeber in die Erste Präsidentschaft berufen worden war, stand am Rednerpult und legte den Anwesenden die Namen der Generalautoritäten und führenden Amtsträger der Kirche zur Bestätigung vor. Er verkündete die Berufung von zwei neuen Aposteln – Russell M. Nelson und Dallin H. Oaks. Auch Ardeths Name wurde vorgelegt. Sie wurde als neue Präsidentin der Jungen Damen der Kirche berufen.
Alle Mitglieder im Tabernakel hoben als Zeichen ihrer Unterstützung die Hand. „Man wird berufen, erhält einen Titel“, schrieb Ardeth später in ihr Tagebuch, „und die Mitglieder reagieren liebevoll.“
Vier Monate darauf kam Ardeth mit ihren Ratgeberinnen, Patricia Holland und Maurine Turley, sowie mit ihrer Verwaltungsassistentin, Carolyn Rasmus, in einer Hütte in den Bergen bei Provo zusammen. Es war der erste Sonntag im Monat, und alle fasteten.
Ihr Fasten galt dem Programm Mein Fortschritt, das die Kirche Ende der 1970er Jahre zur Persönlichkeitsentwicklung der Jungen Damen ins Leben gerufen hatte. Ardeth hatte damals der Präsidentschaft der Jungen Damen angehört, die für das Programm Mein Fortschritt verantwortlich zeichnete. Sie hatte allerdings den Eindruck, dass viele Mädchen gar nicht mitmachten.
Sie und ihre Ratgeberinnen waren der Ansicht, dass jede Junge Dame ein stärkeres Gefühl dafür entwickeln sollte, worin ihre göttliche Bestimmung besteht und was ihre göttliche Identität ausmacht. Es könnte ihrer Meinung nach auch mehr getan werden, um den Jungen Damen das Gefühl zu geben, sie würden bei ihrem Bestreben, mit dem Herrn Bündnisse zu schließen und diese zu halten, auch wirklich beachtet und geschätzt.
In der Hütte hielten Ardeth, Patricia, Maurine und Carolyn auf einer Liste allgemeingültige Grundsätze fest, die nach ihrem Dafürhalten für Leben und Wohl einer Jungen Dame wichtig waren. Dann zog sich jede von ihnen an einen ungestörten Ort im Wald zurück, um über die Liste nachzusinnen und jene Grundsätze herauszuarbeiten, die sie als unverzichtbar erachtete. Als sie wieder in der Hütte zusammenkamen, stellten sie fest, dass ihre Listen alle sehr ähnlich aussahen. Ein wohliges Gefühl der Wärme hüllte sie ein. Sie spürten, dass ihnen der Herr den rechten Weg wies.
Bislang konzentrierte sich das Programm Mein Fortschritt auf Werte, die allen christlichen Konfessionen gemein waren. Ardeth und ihre Ratgeberinnen fanden, das Programm solle aber auch charakteristische Glaubensansichten der Kirche widerspiegeln. Als die Frauen besprachen, was sie in den Vordergrund stellen sollten, kamen sie auf fünf Ideale, die jeder Jungen Dame ungeachtet ihres Wohnorts helfen konnten, Gott näherzukommen und sich über ihre wahre Identität klarzuwerden: Glaube, göttliches Wesen, Gehorsam, Wissenserwerb sowie Eigenverantwortung.
In den Monaten darauf richteten Ardeth und ihre Ratgeberinnen einen Hauptausschuss der Jungen Damen ein und einigten sich letztlich auf insgesamt sieben Ideale. An die Stelle von Gehorsam traten Selbstwertgefühl, gute Werke und Redlichkeit. Ardeth klebte lange Papierbogen an die Wände des Raums, in dem der Hauptausschuss tagte. Darauf schrieben sie und ihre Mitschwestern Erkenntnisse aus der Forschung und aus Gesprächen mit Jungen Damen der Kirche.
Der Ausschuss war der Überzeugung, jede Junge Dame solle wissen, wer sie sei und welchen Platz sie in Gottes Plan einnehme. Jede Junge Dame müsse zudem geistige Erfahrungen machen, Bündnisse mit dem Herrn schließen und halten, für ihre christlichen Taten Anerkennung erfahren und von ihren Priestertumsführern unterstützt werden.
Anfang 1985 bereiteten sich Ardeth und ihr Ausschuss darauf vor, ihre Konzepte dem Priestertumsführungsrat der Kirche zur Genehmigung vorzulegen. Unter Präsident Kimball setzte die Kirche zur Entscheidungsfindung immer häufiger Räte ein. Der Priestertumsführungsrat war einer der drei tragenden Führungsräte, die der Ersten Präsidentschaft und dem Kollegium der Zwölf Apostel Empfehlungen für Richtlinien unterbreiteten. Diesen Ratsgremien gehörten mehrere Apostel und weitere Generalautoritäten an. Bei der nächsten Zusammenkunft der JD-Präsidentschaft mit dem Priestertumsführungsrat hoffte Ardeth, klar darlegen zu können, was sich der Hauptausschuss für die Jungen Damen vorstellte. Aber sie war sich nicht sicher, wie sie dabei vorgehen sollte.
Eines Januarmorgens wachte Ardeth früh auf und griff nach dem gelben Notizblock, der stets auf ihrem Nachttisch lag. Alles, was sie, seit sie berufen worden war, im Ausschuss mit den Schwestern besprochen hatte, fügte sich in ihrem Kopf nun zu einem wunderschönen Mosaik zusammen. Sie zückte den Stift und hielt Worte und Inspiration fest, die bald schon unaufhörlich sprudelten. Als sie schließlich alles niedergeschrieben hatte, was ihr eingefallen war, fühlte sie sich – obwohl emotional ausgelaugt – geistig erbaut. Sie wusste nun, was sie dem Rat sagen sollte.
Sechs Wochen darauf knieten sich Ardeth und ihre Ratgeberinnen im Verwaltungsgebäude der Kirche zum Beten nieder. In wenigen Minuten sollten sie dem Priestertumsführungsrat ihren Plan für die Zukunft der Jungen Damen vorstellen. Sie baten den Herrn darum, die Brüder mögen ihnen – wenn der Plan denn richtig sei – ein offenes Ohr schenken. Wenn er aber falsch sei, möge der Herr die Ohren der Ratsmitglieder verschließen.
Kurz darauf wurden sie in den nahegelegenen Sitzungssaal gebeten, wo Ezra Taft Benson, der Präsident des Kollegiums der Zwölf Apostel, und die übrigen Ratsmitglieder saßen.
Ardeth ging nach vorne und begann mit ihrer Präsentation. „Wir haben das Augenmerk nicht so sehr auf Programme gelegt“, erklärte sie, „sondern mehr auf die fundamentalen Grundsätze, die den Jungen Damen helfen, das Evangelium besser kennenzulernen und entsprechend zu leben.“
Sie sprach darüber, dass Junge Damen in der Gesellschaft mit vielerlei Problemen konfrontiert seien: schädliche Medien sowie Werbung, Kriminalität, sexuelle Unmoral, Essstörungen, Drogen- und Alkoholmissbrauch, Suizid. Sie zeigte Statistiken, die belegten, dass sich den jungen Frauen in der Kirche weniger Anlaufstellen und weniger Möglichkeiten für Lob und Zuspruch seitens erwachsener Führungsverantwortlicher boten als den jungen Männern. Sie vergleiche das Programm für die Jungen Damen nicht mit dem für die Jungen Männer, um sie angleichen zu wollen, versicherte Ardeth. Vielmehr sollten beide Programme sämtliche Hilfen und die nötige Unterstützung erhalten, um den Jugendlichen eine gute Basis für ihr Leben zu verschaffen.
Schließlich regten Ardeth und ihre Ratgeberinnen an, bei den Jungen Damen die sieben Ideale in den Mittelpunkt zu stellen. „Eine solche Struktur“, so Ardeth, „könnte für die Jungen Damen identitätsstiftend sein und ihnen sowie anderen besser begreiflich machen, was es bedeutet, eine Junge Dame zu sein.“
Im Anschluss bat Präsident Benson alle Ratsmitglieder, sich zu erheben, um die Bedeutung der Präsentation gebührend zu würdigen. „Uns wurden nicht nur die Ohren geöffnet“, versicherte er, „sondern es flossen auch reichlich Tränen.“
Später am selben Tag erhielt Ardeth von einem der Ratsmitglieder, Elder Dean L. Larsen, einen Anruf. „Wie schnell können Sie eine Satellitenübertragung für die Jungen Damen auf die Beine stellen?“, fragte er.
„Bis November“, gab Ardeth zur Antwort.
Elder Larsen war überrascht. „So lange dauert das?“
„Wir müssen alles komplett beieinander haben“, meinte Ardeth, „denn eine zweite Chance bekommen wir sicherlich nicht.“
Am 14. Dezember 1984 weihte Präsident Gordon B. Hinckley den Tempel – das Haus des Herrn – in Guatemala-Stadt. Carmen O’Donnal, die Oberin des neuen Tempels, konnte es kaum fassen, dass die Kirche in Mittel- und Südamerika ein solch rasantes Wachstum verzeichnete.
Als sich Carmen 1948 in einem kleinen Schwimmbecken südlich von Guatemala-Stadt hatte taufen lassen, gehörte sie zu den ersten im Land, die sich der Kirche anschlossen. Jetzt gab es in Guatemala über 30.000 Mitglieder, von denen sich mehr als die Hälfte in den vorangegangenen vier Jahren hatte taufen lassen. Die Zahl derer, die Jesus Christus nachfolgten und hierzu Bündnisse eingingen, stieg im Umland immer weiter an, und der Bau des Tempels stand bei dem Werk im Mittelpunkt.
„Der Herr hat mir ein langes Leben geschenkt, sodass ich dieses Wunder mit eigenen Augen sehen kann“, bezeugte sie bei der Weihung.
Vor ihrer Berufung als Tempeloberin waren Carmen und ihr Mann John im Tempel in Mexiko-Stadt tätig gewesen, der im Dezember 1983 geweiht worden war. Dieser Tempel war das erste Haus des Herrn in Mexiko – in einem Land, in dem über 360.000 Heilige lebten, mehr als in jedem anderen spanischsprachigen Land der Welt. An der Weihung nahmen auch Isabel Santana und Juan Machuca teil, die ehemals am Centro Escolar Benemérito de las Américas als Lehrkräfte gearbeitet hatten. Ihre Hochzeit war schon mehr als zehn Jahre her. Sie lebten mittlerweile im mexikanischen Tijuana, wo Juan für das Bildungswesen der Kirche arbeitete.
Auch weiter südlich in Brasilien gedieh die Kirche kontinuierlich. Als 1978 der Tempel in São Paulo geweiht wurde, gab es im Land 56.000 Heilige in zwölf Pfählen. Bis Anfang 1985 war die Zahl auf rund 200.000 in siebenundvierzig Pfählen angewachsen. Mit zunehmendem Wachstum der Kirche wurden auch Hélio da Rocha Camargos Aufgaben größer. Nach seiner Tätigkeit als Bischof der Gemeinde São Paulo 2 wurde er Pfahlpräsident in São Paulo, danach Missionspräsident in Rio de Janeiro und anschließend Regionalrepräsentant der Zwölf. Schließlich wurde er am 6. April 1985 als Mitglied des Ersten Kollegiums der Siebziger bestätigt und war damit die erste aus Brasilien stammende Generalautorität.
„Darauf war ich gewiss nie erpicht“, verriet er den Anwesenden im Tabernakel in Salt Lake City. Sein Glaube an das wiederhergestellte Evangelium war jedoch unerschütterlich. Das galt auch für viele andere Amtsträger in aller Welt. „Ich weiß, dass der Herr lebt“, bezeugte er. „Ich weiß, dass ich ein Kind Gottes bin und dass das Evangelium der Plan für das Glücklichsein aller Kinder Gottes auf dieser Welt ist.“
In Chile gab es mittlerweile über 130.000 Heilige in vierzig Pfählen. Kurz vor der Weihung des Tempels in Mexiko-Stadt konnten sich die Mitglieder in Chile über die Weihung des Santiago-Tempels freuen – des ersten Hauses des Herrn in einem spanischsprachigen Land. Zu diesem Anlass hatten sich tausende von Mitgliedern versammelt, von denen einige hunderte Kilometer mit dem Bus angereist waren.
Auch Carlos und Elsa Cifuentes waren bei der Weihung im Tempel zugegen. Carlos gehörte zu den ersten Mitgliedern der Kirche in Chile. Im Jahr 1958 hatten ihn zwei Missionare in seiner Hinterhofgarage angesprochen, sich als Vertreter Jesu Christi vorgestellt und ihn gefragt, ob er mehr über die Kirche wissen wolle. Bald darauf ließ er sich taufen. Als 1972 in Chile der erste Pfahl gegründet wurde, wurde Carlos als Pfahlpräsident berufen.
Später erkrankte er an Krebs, und als der Santiago-Tempel in Chile geweiht wurde, war sein Körper bereits geschwächt. Trotzdem brachte er die Kraft auf, aufzustehen und ein bewegendes Zeugnis abzulegen. „Ich weiß ohne jeden Zweifel, dass dies das Werk des Herrn ist“, verkündete er. „Ich weiß, dass Gott lebt. Ich weiß, dass Jesus Christus, sein Sohn, lebt.“ Einen Monat darauf verstarb Carlos.
Auch in Buenos Aires im benachbarten Argentinien war ein Haus des Herrn im Bau. Die vierundfünfzigjährige Betty Campi war Pfahl-PV-Präsidentin in der ländlich geprägten Stadt Mercedes. Sie hatte miterlebt, wie die Kirche in Argentinien – genau wie Apostel Melvin J. Ballard es vorausgesagt hatte – von einer winzigen Eichel zu einer mächtigen Eiche heranwuchs. Im Jahr 1942, dem Jahr ihrer Taufe, gab es in Argentinien rund siebenhundert Mitglieder. Inzwischen hatte sich deren Zahl auf fast achtzigtausend vervielfacht. Betty war immer treu, hatte stets einen gültigen Tempelschein und wartete sehnsüchtig auf den Tag, da sie ihn in ihrem Heimatland würde nutzen können.
Nicht nur in Argentinien tat sich etwas. Auch in anderen südamerikanischen Ländern – in Kolumbien, Peru und Ecuador – ging es mit den Plänen für den Bau von Tempeln voran. Brigham Young und Joseph F. Smith hatten einst prophezeit, dass überall auf der Welt Tempel errichtet werden würden. Jetzt war die Zeit gekommen.
Nach ihrer Taufe hegte Olga Kovářová den Wunsch, ihrer Familie und ihren Freunden davon zu erzählen, was sie so glücklich machte. Doch da die Regierung in der Tschechoslowakei die Kirche nicht anerkannte, war ihr bewusst, dass ihr eigentlich die Hände gebunden waren. Zudem war ihre Generation in einer atheistischen Gesellschaft aufgewachsen und wusste sehr wenig über Religion. Falls sie versuchte, den Leuten von der Kirche zu erzählen, würden sie vermutlich gar nicht verstehen, wovon sie redete.
Immer wieder überlegte und betete sie, um herauszufinden, wie sie wohl weitergeben könnte, woran sie glaubte. Sie besprach ihr Dilemma auch mit Otakar Vojkůvka. „Du könntest Yogalehrerin werden“, meinte er. In den Augen der Regierung war Yoga-Unterricht unverfänglich, und Otakar sah darin eine gute Möglichkeit, neue Kontakte zu knüpfen und Gottes Werk zu verrichten.
Zunächst fand Olga seine Anregung irgendwie seltsam. Als sie jedoch länger darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass er damit die Lösung gefunden haben könnte.
Gleich am darauffolgenden Tag meldete sich Olga für eine Yogalehrerausbildung an. Schon bald nach Abschluss des Kurses fing sie an, in ihrer Heimatstadt Uherské Hradiště südöstlich von Brünn in einem Fitnessstudio Yoga zu unterrichten. Sie war überrascht, wie beliebt ihre Kurse waren. Es meldeten sich immer 60 bis 120 Schüler an. Alle Altersgruppen waren vertreten, und jeder wollte gern mehr über körperliche und seelische Gesundheit erfahren.
In jedem Kurs machte Olga Yogaübungen vor, gefolgt von einem einfachen, auf wahren Grundsätzen beruhenden Vortrag. Darin vermied sie allerdings religiöse Begriffe und zog, um ihre Worte zu untermauern, stattdessen erbauliche Zitate osteuropäischer Dichter und Philosophen heran.
Im Laufe ihrer Lehrtätigkeit erkannte Olga, wie sehr sich ihre Schüler nach mehr positiven Botschaften im Leben sehnten. Einige Leute kamen offenbar nur in den Yogakurs, um sich ihren Vortrag anzuhören.
Bald darauf machte sie zusammen mit Otakar einige ihrer Schüler mit der Kirche bekannt. Mehrere von ihnen ließen sich taufen.
Die Yogakurse kamen so gut an, dass Olga und Otakar für Interessierte sogar Yoga-Camps ins Leben riefen. Die Teilnehmer nahmen im Sommer eine Woche Urlaub und wurden bei dem Camp von Olga und Otakar in Gruppen zu je 50 Personen unterrichtet.
Olga wünschte sich für ihre Eltern Zdenĕk und Danuška, sie könnten das gleiche Glück empfinden, das ihre Schüler im Yoga-Camp für sich entdeckten, und sie betete oft für sie. Aber Religion spielte im Alltag ihrer Eltern keine Rolle, und in ihrer Stadt gab es keinen Zweig der Kirche. Olga würde das Thema also behutsam angehen müssen.
Da sie wusste, dass ihre Mutter oft Migräne hatte, sagte sie ihr eines Tages: „Mama, ich möchte dir beibringen, wie du dich entspannen und deine Nackenmuskulatur stärken kannst. Das würde dir bestimmt helfen.“
„Gern. Du weißt ja, dass ich dir immer vertraue“, gab ihre Mutter zurück.
Olga machte ein paar einfache Übungen vor und trug ihrer Mutter auf, sie regelmäßig zu wiederholen. Innerhalb weniger Monate war die Migräne verschwunden. Das weckte das Interesse ihrer Mutter und ihres Vaters an Yoga, und beide meldeten sich für eines der Yoga-Camps an. Innerhalb weniger Tage ging ihr Vater völlig im Lagerleben auf und war so glücklich wie nie zuvor. Auch ihre Mutter war von den Übungen und den in den Vorträgen vermittelten Gedanken angetan. Bald darauf brachte Olga auch ihren Glauben zur Sprache.
Ihre Eltern begeisterten sich sofort für das Buch Mormon und die darin enthaltenen Lehren. Sie erlangten ein Zeugnis davon, dass Joseph Smith ein Prophet Gottes war. Nur wenig später fassten sowohl Olgas Mutter als auch ihr Vater den Entschluss, sich der Kirche anzuschließen.
Beide wurden in demselben Stausee getauft, in dem auch Olga diese heilige Handlung empfangen hatte. Als Olga und ihre Eltern anschließend wieder zuhause waren und am Küchentisch saßen, hielten sie sich an den Händen und weinten vor Freude. „Das muss gefeiert werden“, meinte ihre Mutter.
Sie bereiteten Olgas Lieblingsessen zu und gaben einander Zeugnis. Ihr Vater strahlte über das ganze Gesicht und merkte an: „Bedeutendes nimmt stets innerhalb bescheidener Wände seinen Anfang!“
„Ich wünschte, Sie könnten spüren, was ich im Innersten fühle“, erklärte Henry Burkhardt. „Ich wünschte auch, ich könnte zum Ausdruck bringen, welch große Dankbarkeit ich derzeit im Herzen trage.“
Es war der 29. Juni 1985. Henry stand am Rednerpult im gerade fertiggestellten Freiberg-Tempel und wandte sich an die im Raum versammelten Heiligen, die sich zur Weihung eingefunden hatten. Präsident Gordon B. Hinckley hatte den Gottesdienst am Morgen eröffnet, und auch Elder Thomas S. Monson hatte gesprochen.
Henry war nicht mehr Präsident der Mission Dresden. Stattdessen war es ihm nun eine Freude, als neu berufener Präsident des Freiberg-Tempels zu den Heiligen zu sprechen.
„Seit über dreißig Jahren“, sagte er, „ist es mein Wunsch, dazu beizutragen, den Heiligen in diesem Land den Besuch eines Hauses des Herrn zu ermöglichen.“ Er erzählte, wie er und seine Frau Inge 1955 im Schweizer Tempel gesiegelt worden waren, bevor die innerdeutsche Grenze abgeriegelt wurde. Nun sei er überglücklich, dass die Heiligen in der DDR und in anderen Ländern, die unter dem politischen Einfluss der Sowjetunion standen, in Freiberg einen Tempel hatten.
„Es war der Wille des Herrn“, erklärte er. „Der Herr hat es ermöglicht, dieses Haus zu bauen – eine Stätte, wo wir Segnungen erlangen, die wir nirgendwo sonst als nur in seinem Haus empfangen können.“
Noch immer staunte Henry darüber, wie relativ problemlos der Tempel nach all den Jahren, in denen die Regierung der Kirche Steine in den Weg gelegt hatte, hatte errichtet werden können. Nachdem Henry sich das Grundstück für das Projekt gesichert hatte, tat sich Emil Fetzer, ein Architekt der Kirche, mit Regierungsbeamten, Architekten und Ingenieuren aus der DDR zusammen, um die Gestaltung des Tempels zum Abschluss zu bringen. Im Geiste traditioneller deutscher Architektur entschied man sich für ein schlichtes, modernes Bauwerk mit Buntglasfenstern und einem Turm, der sich als Bogen über dem Eingang erhob.
Schon kurze Zeit darauf fand der erste Spatenstich statt. Zu Henrys Überraschung hielten die meisten der bei der Feier anwesenden Behördenvertreter beim Gebet den Kopf geneigt. Das Bauunternehmen war ein staatseigener Betrieb. Daher gab es keine Probleme damit, genügend Arbeiter zu finden oder Genehmigungen erteilt zu bekommen. Die Behörde ermöglichte es der Kirche, dass der Tempel an eine Erdgasleitung in der Nähe angeschlossen wurde und daher nicht mit Kohle beheizt werden musste. Henry und Emil schafften es, für den celestialen Saal und die Siegelungsräume sogar drei Kristallleuchter – eine große Seltenheit in der DDR – aufzutreiben.
Die vielleicht größte Überraschung war jedoch die Bereitschaft der Regierung, die Heiligkeit des Gebäudes zu achten. Obwohl das Gesetz den Beamten das Recht gab, jeden Gottesdienst im Land jederzeit zu überwachen, hatte sich die Regierung bereiterklärt, im Tempel darauf zu verzichten. Die Beamten hatten im Verlauf des gesamten Bauvorhabens die Kirche sowie ihre Lehren und Gepflogenheiten stets respektiert. An den Tagen der offenen Tür kamen fast neunzigtausend Interessierte zur Besichtigung.
„Liebe Brüder und Schwestern, meine Frau und ich sind dankbar, Ihnen hier in diesem Haus dienen können“, sagte Henry den Heiligen bei der Weihung. „Das tun wir mit großer Freude.“
Nach Henrys Worten erhob sich seine Frau Inge, die fortan als Tempeloberin fungieren würde, und gab Zeugnis. „Ich möchte Ihnen sagen, dass ich immer dann die allergrößte Freude empfinde, wenn ich im Haus des Herrn bin“, erklärte sie. „Der Gedanke, dass unsere jungen Brüder und Schwestern bald die Möglichkeit haben werden, sich hier siegeln zu lassen und ihr Eheleben im Tempel zu beginnen, und dass deren Kinder im selben Geist geboren werden, erfüllt mir das Herz abermals mit Dankbarkeit.
Ich glaube, dass wir alle bemüht sind, mehr wie unser Herr und Meister zu werden“, fuhr sie fort, „und ich gebe Ihnen Zeugnis, dass wir, wenn wir hierher in seinen heiligen Tempel kommen und bereit sind zu dienen, dazu auch in der Lage sind.“
Am 18. Juli 1985 hatten sich tausende orthodoxer Juden – bekleidet mit dem traditionellen schwarzen Mantel und dem Hut mit breiter Krempe – zum Protest an der Klagemauer in Jerusalem versammelt. Befeuert durch die Oberrabbiner der Stadt, beugten sich die Demonstranten nieder und sagten Gebete auf, wie sie eigentlich für Trauertage gedacht waren. Über ihnen hing ein riesiges rotes Transparent, auf dem zu lesen stand: „Mormonen, stoppt sofort euer Missionsprojekt!“
Seit dem ersten Spatenstich ein Jahr zuvor war die Kirche mit ihrem Bau des Centers für Nahoststudien der Brigham-Young-Universität gut vorangekommen. Die orthodoxe Bevölkerung der Stadt betrachtete das Center zu jener Zeit jedoch als Bedrohung des Judentums. Am meisten beunruhigte sie, dass der Kirche der Ruf vorausging, eine Missionskirche zu sein. Nachdem das NS-Regime die Juden verfolgt und Millionen von ihnen systematisch ausgerottet hatte, reagierten viele orthodoxe Juden ausgesprochen allergisch auf Christen, die Leute aus ihrem Volk bekehren wollten. Sie befürchteten, im geplanten Center würden die Fäden sämtlicher missionarischer Bestrebungen der Heiligen der Letzten Tage in Israel zusammenlaufen.
Die Berichte über den Widerstand der orthodoxen Juden gegen das Projekt beunruhigten die Erste Präsidentschaft und veranlassten sie, die Apostel Howard W. Hunter und James E. Faust nach Jerusalem zu schicken. Die Kirche hatte das Grundstück für das Jerusalem-Center rechtmäßig gepachtet, und in der Anfangsphase des Projekts hatte es auch keinen öffentlichen Aufschrei dagegen gegeben. Teddy Kollek als Jerusalemer Bürgermeister sowie weitere jüdische Würdenträger vor Ort unterstützten das Center nach wie vor. Darüber hinaus war es bereits zu einem Viertel fertiggestellt.
Am Tag nach dem Protest an der Klagemauer kamen Elder Hunter und Elder Faust mit Rabbi Menachem Porush – einem orthodoxen Juden und Abgeordneten in der Knesset, dem israelischen Parlament – in dessen Büro in Jerusalem zusammen. Weitere orthodoxe Würdenträger drängten sich ebenfalls in den Raum.
„Wir möchten als Freunde an Sie appellieren, sich unauffällig von dem Projekt zurückzuziehen“, forderte Rabbi Porush die Apostel auf. Obwohl von großer, beeindruckender Gestalt, sprach er leise und höflich. „Ich bin mir nicht sicher, ob Sie sich der Bedeutung dessen, was sich an der Klagemauer zugetragen hat, bewusst sind“, fuhr er fort. „Rabbiner aus ganz Israel haben sich zum entschiedenen Protest zusammengeschlossen.“
„Wir sind der Ansicht, mit dem Bau unseres Centers hier nichts Falsches getan zu haben“, erwiderte Elder Faust. Studenten der BYU kamen bereits seit über fünfzehn Jahren nach Jerusalem, ohne dass es zu Unruhen geführt hatte. Sie wollten schlicht vor Ort die Geschichte und Kultur des Heiligen Landes studieren – nicht etwa missionieren. Genau wie Bürgermeister Kollek glaubten auch die Führer der Kirche, die unterschiedlichen Religionen könnten im Heiligen Land friedlich nebeneinander bestehen.
„Wir wissen, dass in Ihren Programmen für junge Leute Missionsarbeit großgeschrieben wird“, warf ein anderer Rabbiner im Raum ein. „Solche Programme können wir hier nicht dulden.“
„Wie wäre es, wenn Sie die Bauarbeiten zwei Wochen ruhen lassen“, schlug Rabbi Porush vor. „Ich fliege in dieser Zeit nach Salt Lake City, um den Entscheidungsträgern dort zu erklären, weshalb der Bau gestoppt werden muss.“
„Wir können den Bau nicht ruhen lassen“, entgegnete Elder Hunter. „Wir haben Verträge zu erfüllen.“
„Ich war auch für den Bau etlicher Gebäude verantwortlich“, widersprach Rabbi Porush, „und ich weiß, dass es mit geeigneten Vorkehrungen möglich ist, die Bauausführung auszusetzen.“
„Wir können den Bau nicht ruhen lassen“, wiederholte Elder Hunter, „aber wir können die Sache weiter mit dem Ziel besprechen, unsere Differenzen beizulegen.“
„Überdenken Sie bitte Ihre Entscheidung“, bat der Rabbi beharrlich.
Am Abend darauf riefen die Apostel den Rabbi an und teilten ihm mit, sie seien bei ihrer Meinung geblieben. Die Bauarbeiten würden fortgesetzt.
Nach ihrer Rückkehr nach Salt Lake City berieten sich Elder Hunter und Elder Faust mit der Ersten Präsidentschaft und dem Kollegium der Zwölf Apostel darüber, was man noch tun könne, um das Vertrauen der Projektgegner zu gewinnen.
Die Kirche wollte verbindlich ihren Entschluss bekunden, über das Jerusalem-Center in keinerlei Form missionarisch tätig zu werden. Also baten die Erste Präsidentschaft und das Kollegium der Zwölf Apostel Elder Hunter, Elder Faust und den Präsidenten der BYU, Jeffrey R. Holland, zur Beruhigung der religiösen und politischen Führungsriege in Israel eine entsprechende formelle Vereinbarung zu entwerfen, dass von jeglicher missionarischer Bestrebung Abstand genommen werde.
Am 1. August beendete das Komitee die Niederschrift der Vereinbarung. Bereits am Tag darauf flog Präsident Holland mit dem Papier im Gepäck nach Jerusalem.
Als FHV-Präsidentin im südafrikanischen Soweto lag Julia Mavimbela besonders am Herzen, dass sich jede Frau in ihrem Zweig respektiert und angenommen fühlte. Ihr Leben lang hatte sie miterlebt, wie Frauen schlecht behandelt wurden, weil sie arm waren oder gesellschaftlich einen niedrigen Status hatten. Sie wünschte sich sehnlichst, jede ihrer Obhut anvertraute Frau würdevoll behandelt zu wissen.
Für die Frauen in der Kirche gab es derzeit einmal im Monat die sogenannte Heimgestaltungsstunde, wo ihnen Grundsätze wie Eigenständigkeit, Umgang mit Geld, Erste Hilfe, Ernährung oder Krankheitsvorsorge vermittelt wurden. Julia war sich dessen bewusst, dass sich viele Einwohner Sowetos in einer finanziellen Notlage befanden. Also brachte sie den Frauen in der Frauenhilfsvereinigung bei, wie man einen Vorrat an Nahrungsmitteln und Wasser anlegt, wie man Geld spart und mit wenig auskommt. Sie hielt sie dazu an, ihre alten Kleidungsstücke zu flicken, anstatt neue zu kaufen.
Einmal wurden dem Zweig Kleidungsstücke und sonstige Gebrauchsartikel gespendet. Doch da fast jede Schwester in der Frauenhilfsvereinigung bedürftig war, betete Julia, um zu wissen, wie sie die Spenden gerecht verteilen könne. Der Herr gab ihr ein, sie solle jedem Mitglied der FHV einen nummerierten Zettel geben. Danach zog sie nach dem Zufallsprinzip eine Zahl nach der anderen, sodass jede Frau die gleiche Chance hatte, sich aus den Spenden etwas auszusuchen.
Der Unterricht in der Frauenhilfsvereinigung wurde meist auf Englisch abgehalten. Für Frauen, deren Englisch nicht so gut war, bereitete Julia die Unterrichtsinhalte aber auch in Sesotho und Zulu vor. Als sie daranging, die FHV-Schwestern als Besuchslehrerinnen einzuteilen, die einander betreuen sollten, verließ sie sich darauf, Inspiration zu empfangen und geführt zu werden. „Das ist der Name der Schwester, die ihr nach dem Willen des Herrn besuchen sollt“, pflegte sie neu berufenen Schwestern zu sagen. „Stellt bitte fest, woran es ihnen zuhause mangelt, und dann können wir gemeinsam besprechen, was wir für die jeweilige Familie tun können.“
Während Julia FHV-Präsidentin in Soweto war, verfolgte sie auch sehr interessiert die Fortschritte beim Bau des Tempels in Johannesburg. Besonders freute sie sich darauf mitzuerleben, wie die Statue des Engels Moroni auf den höchsten Turm des Tempels gesetzt werden würde. Doch als der Tag endlich gekommen war, hatten Anti-Apartheid-Aktivisten in Soweto zu einem sogenannten „Stayaway“-Streik aufgerufen: Die Bewohner Sowetos sollten ihrem Arbeitsplatz in Firmen und Geschäften in den vorwiegend von Weißen bewohnten Vierteln Johannesburgs fernbleiben.
Julia unterstützte das Anliegen der Aktivisten zwar, war aber dennoch entschlossen, bei diesem Meilenstein beim Bau des Tempels dabei zu sein. Also machte sie sich in Begleitung ihres Enkels auf den Weg nach Johannesburg. Dabei hielt sie niemand an oder befragte sie. Auf der Baustelle beim Tempel angekommen, konnten beide die Aufstellung der Statue miterleben.
Ein Jahr später, am 14. September 1985, empfing Julia im Haus des Herrn das Endowment. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, voll und ganz dazuzugehören – trotz aller Unterschiede bei ethnischer Zugehörigkeit und Sprache war sie mit ihren Brüdern und Schwestern im Evangelium durch ein Bündnis vereint. Zu guter Letzt wurde sie sowohl an ihren verstorbenen Ehemann John als auch an ihre Eltern gesiegelt.
„Was für ein herrlicher Tag das heute war!“, freute sie sich. „So viele Segnungen wurden mir zuteil!
Bereitwillig gelobe ich heute, stets so zu leben, dass ich immer würdig bin, in das Haus des Herrn zu gehen und ihm, meinem Erretter und Erlöser, dort zu dienen“, rief sie aus. „O wie sehr schätze ich es doch, zu wissen, wer ich bin und weshalb ich hier bin!