Kapitel 39
Stets am Ruder
Zu Jahresbeginn 2013 blickte Präsident Thomas S. Monson etlichen wesentlichen Meilensteinen entgegen. Nicht nur sein fünftes Jahr als Präsident der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, sondern auch sein fünfzigstes als Apostel des Herrn stand an. Da war es wohl angebracht, sich Gedanken über seine Amtszeit und den Zustand der Kirche zu machen.
Einige Jahre zuvor hatte Präsident Monson einen Brief von einem Mitglied erhalten, das mit Problemen rang. „Das Evangelium ist immer noch in meinem Herzen, auch wenn ich nicht danach lebe“, schrieb der Mann. „Bitte vergessen Sie uns nicht, die wir draußen stehen, die verlorenen Heiligen der Letzten Tage.“
Diese berührenden Worte riefen Präsident Monson ein Gemälde in Erinnerung, das er einst gesehen hatte: Ein Rettungsboot stürzt sich in die von Gischt umsprühten Wogen, um ein in Seenot geratenes Schiff zu retten. Das Gemälde trug einen langen, wenig aussagekräftigen Titel, den Präsident Monson für sich jedoch auf zwei einfache Wörter verkürzte: Zur Rettung. Diese Worte waren zu einer Art Leitmotiv für seine Amtszeit geworden. Seit er Prophet geworden war, verspürte er den noch dringlicheren Wunsch, dem Erretter nachzufolgen und verständnisvoll und liebevoll auf diejenigen zuzugehen, die unglücklich, verängstigt, abgeirrt oder einsam waren.
Am 3. Februar beging Präsident Monson den Jahrestag seiner fünfjährigen Amtszeit mit einer Botschaft an die Heiligen. „Wir haben wahrhaft unzählige Möglichkeiten, einander zu dienen“, verkündete er. „Wir sind umgeben von Menschen, die unsere Aufmerksamkeit, unseren Zuspruch, unseren Trost, unsere Unterstützung und unsere Freundlichkeit brauchen.“
Er bat die Heiligen, an die Worte des Erretters zu denken: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“
In seiner Botschaft sprach der Prophet auch über Missionsarbeit, die ja eine von mannigfachen Möglichkeiten darstellt, wie Mitglieder einem anderen zur Rettung eilen können. Einige Monate zuvor hatte er bekanntgegeben, dass das Mindestalter für den Missionsdienst für junge Frauen auf neunzehn und für junge Männer auf achtzehn Jahre gesenkt wird.
Schon bald gingen beim Hauptsitz der Kirche tausende Missionsanträge ein – mehr als die Hälfte davon von jungen Frauen. Diese Änderung bot mehr jungen Menschen die Möglichkeit, ihr Zeugnis vom Erretter zu stärken und sich durch ihren Missionsdienst der Kirche aufs Neue zu verpflichten. Auch in Ländern, in denen Universitätsbestimmungen oder der Militärdienst mit dem Missionsdienst in Konflikt gerieten, führte dies zu weniger Reibungsflächen.
Präsident Monson erwähnte zudem, dass in den vergangenen fünf Jahren einunddreißig neue Tempel angekündigt und sechzehn geweiht worden waren. „Diese Zahl wird weiterhin ansteigen“, verhieß er, „da wir allen Mitgliedern, wo auch immer sie leben, den Tempelbesuch ermöglichen wollen.“
Abschließend ging er auch auf sein hohes Alter ein. „Letzten August habe ich meinen fünfundachtzigsten Geburtstag gefeiert“, erzählte er. „Das Alter fordert letztlich von uns allen Tribut.“ Doch er versicherte den Heiligen, dass die Kirche in guten Händen sei.
„Unser Heiland, Jesus Christus, dem wir nachfolgen, den wir verehren und dem wir dienen, ist stets am Ruder“, bezeugte er. „Mögen wir auf unserem weiteren Weg seinem Beispiel folgen.“
Am 28. Mai 2017 gab Willy Binene im Gemeindehaus von Luputa Zeugnis. Für seine Familie war es der letzte Sonntag dort – zumindest für die nächste Zeit. Lilly und er waren kurz zuvor von der Ersten Präsidentschaft zu Führern der Elfenbeinküste-Mission Abidjan berufen worden. Da Willy als junger Mann nicht die Chance gehabt hatte, eine Vollzeitmission zu erfüllen, hatte er immer gehofft, eines Tages an der Seite seiner Frau auf Mission gehen zu können. Doch dass die Berufung so bald kommen würde, damit hatten die beiden denn doch nicht gerechnet.
Ein Jahr zuvor war Elder Neil L. Andersen vom Kollegium der Zwölf Apostel in die Demokratische Republik Kongo gekommen und hatte den ersten Spatenstich für den Tempel in Kinshasa vorgenommen. Er und seine Frau Kathy reisten auch nach Mbuji-Mayi, einer Stadt etwa einhundertfünfzig Kilometer nördlich von Luputa, und kamen mit den dortigen Heiligen zusammen. Willy hatte Elder Andersen bei dieser Gelegenheit kennengelernt und ihm seine Lebensgeschichte erzählt.
Einige Monate nach diesem Besuch überraschte Elder Andersen Willy und Lilly mit einem Videoanruf. Er sagte ihnen, der Herr habe eine neue Aufgabe für sie, und stellte ihnen einige Fragen zu ihrem Leben und ihren beruflichen Aufgaben. Dann fragte er Lilly: „Würden Sie Ihre Heimat verlassen und dem Herrn anderswo dienen?“
„Ja“, erwiderte Lilly. „Wir sind dazu bereit.“
Etwa eine Woche später sprach Präsident Dieter F. Uchtdorf ihre Berufung als Missionsführer aus. Sie nahmen die Aufgabe mit einer Mischung aus Freude und Besorgnis an. Beide waren sich nicht sicher, ob sie der neuen Aufgabe tatsächlich gewachsen waren. Doch es war ja nicht das erste Mal, dass der Herr sie zu etwas Schwierigem berief, und sie waren bereit, sich voll und ganz in seinen Dienst zu stellen.
„Wenn es Gott ist, der uns beruft“, dachte sich Lilly, „wird er selbst sich kundtun und uns für das Werk befähigen.“
Ihre vier Kinder im Alter von fünf bis sechzehn Jahren nahmen die Nachricht positiv auf. Die Heiligen in Luputa konnten jedoch ihre Traurigkeit nicht verbergen, als Willys und Lillys Berufung bekanntgegeben wurde. Über zwei Jahrzehnte lang hatte Willy dazu beigetragen, dass sich die Kirche in Luputa erfreulich entwickelte und dass aus einem Grüppchen vertriebener Gläubiger ein blühender Zionspfahl wurde. Die Heiligen sahen in ihm nicht bloß den ehemaligen Distrikts- oder Pfahlpräsidenten. Durch das wiederhergestellte Evangelium hatten sie gelernt, einander als Brüder und Schwestern zu betrachten – folglich gehörten Willy, Lilly und die Kinder ja zur Familie.
Willy gab den Mitgliedern seiner Gemeinde Zeugnis. Sein Herz war von Liebe zu ihnen allen erfüllt, doch seine Augen blieben trocken, obgleich Lilly, die Chorsänger und alle anderen um ihn herum weinten. Kaum etwas war in seinem Leben so verlaufen wie erwartet. Es hatte den Anschein, als ob jedes Mal, wenn er einen Plan aufgestellt hatte – für seine Berufsausbildung, für eine Vollzeitmission, für sein berufliches Weiterkommen –, etwas eintrat, das ihn in eine andere Richtung lenkte. Doch rückblickend erkannte er, dass der Herr immer schon einen Plan für ihn gehabt hatte.
Nach der Versammlung war Willy allerdings so tief gerührt, dass er seinen Tränen freien Lauf ließ. Für ihn sah es nicht so aus, als hätte er jemals etwas Besonderes geleistet. Eigentlich maß er sich wenig Bedeutung zu – war er doch bloß ein einzelner Wassertropfen inmitten des großen Ozeans. Ihm war jedoch bewusst, dass ihn der Herr lenkte und auf seinem Lebensweg in eine bestimmte Richtung drängte und dass der Plan somit immer klarer und konkreter wurde.
Daheim verabschiedeten sich Lilly und er sowie die Kinder von ihren Freunden. Dann stieg die Familie in das Auto, das sie zu ihrem nächsten Einsatzgebiet bringen sollte.
„Man sollte nie etwas überstürzen“, stellte Willy fest. „Legen wir den Zeitplan doch ganz in Gottes Hand.“
Präsident Monson verstarb am 2. Januar 2018. Zwar hatte sich sein Gesundheitszustand seit Jahren verschlechtert, doch sein Zeugnis war immer lebendig geblieben. Kurz vor seinem Tod hatten ihn seine Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft noch besucht. Als sie gerade gehen wollten, hielt er sie auf und meinte: „Ich liebe den Erretter Jesus Christus. Und ich weiß, dass er mich liebt.“
In seiner zehnjährigen Amtszeit hatte Präsident Monson die Heiligen durch eine Zeit raschen gesellschaftlichen Wandels und erstaunlichen technischen Fortschritts geführt. Soziale Netzwerke hatten den Mitgliedern neue Möglichkeiten eröffnet, das Evangelium zu verbreiten, gegenseitiges Verständnis mit Andersgläubigen zu fördern und den Generalautoritäten etwas näher zu sein. Die Entwicklung von Smartphones und sonstigen mobilen Endgeräten hatte das Werk ebenfalls unterstützt und 2010 zur Entstehung der App Archiv Kirchenliteratur geführt, die den Heiligen in aller Welt leichteren Zugang zu den heiligen Schriften, den Zeitschriften der Kirche und weiterem Material ermöglichte.
Unter Präsident Monson war die Missionsarbeit ausgeweitet worden, interreligiöse Kontakte wurden verstärkt und die humanitären Bemühungen der Kirche wurden erweitert. Auf seine Weisung hin hatte sich die Kirche mit mehreren Partnerorganisationen zusammengetan, unterstützte Flüchtlinge aus Kriegsgebieten, stand Opfern von Naturkatastrophen zur Seite und linderte das Leid von Kranken und Hungernden.
Die Kirche hatte auch auf den Bestrebungen des Ständigen Ausbildungsfonds und weiterer Bemühungen aufgebaut und eröffnete Menschen aus aller Herren Länder nun Zugang zu einer Ausbildung. 2009 hatten die Brigham-Young-Universität Idaho sowie drei weitere Standorte ein Pilotprogramm mit einer Kombination aus Präsenzunterricht und Online-Klassen initiiert, das Studierenden den Zugang zu höherer Bildung erleichtern und diese zudem erschwinglicher machen sollte. 2017 wurde das Programm in BYU Pathway Worldwide umbenannt. Es kam nun schon zehntausenden Studenten in über fünfzig Ländern zugute.
Präsident Monsons größtes Vermächtnis war allerdings sein mitfühlendes, christliches Wirken. Am Tag nach seinem Tod brachten die Zeitungen Artikel über sein Leben – wie er im Stillen Besuche im Krankenhaus gemacht hatte oder bei Beisetzungen zugegen gewesen war, wie er bettlägrige Bekannte besucht und Jung wie Alt dazu ermuntert hatte, zu Jesus Christus zu kommen.
Am 14. Januar 2018 ordinierte das Kollegium der Zwölf Apostel Russell M. Nelson zum siebzehnten Präsidenten der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und setzte ihn ein. Zwei Tage später wandte sich der neue Prophet mit Präsident Dallin H. Oaks und Präsident Henry B. Eyring, seinen Ratgebern in der Ersten Präsidentschaft, an die Mitglieder der Kirche.
„Gott hat uns beauftragt“, erklärte er, „zu jeder Nation, jedem Geschlecht, jeder Sprache und jedem Volk zu gehen und die Welt auf das Zweite Kommen des Herrn vorzubereiten.“ Als Präsidentschaft wünschten sie sich, dass jedes Mitglied auf dem Weg der Bündnisse bleibe und von Anfang an das Ende vor Augen habe.
„Das Ende, auf das wir alle hinarbeiten, besteht darin, im Haus des Herrn mit Macht ausgestattet zu werden, als Familie gesiegelt zu werden und den Bündnissen, die man im Tempel eingeht, treu zu sein“, stellte Präsident Nelson fest. „Wenn Sie sich verpflichten, dem Erretter nachzufolgen, indem Sie Bündnisse mit ihm eingehen und diese auch halten, öffnet sich Ihnen die Tür zu jeder geistigen Segnung und zu jedem Anrecht, die allen Männern, Frauen und Kindern überall offenstehen.“
Bald schon führte Präsident Nelson einige Anpassungen in der Kirche ein, die dieses wichtige Werk weiter voranbringen sollten. Bei der Frühjahrs-Generalkonferenz 2018 kündigte er etwa an, dass die Hohen Priester fortan gemeinsam mit den Ältesten die Kollegiumsversammlung besuchen würden. Mit Unterstützung durch Elder Jeffrey R. Holland und die Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung der Kirche, Jean B. Bingham, führte er auch eine neue Art des Betreuens ein, die das Heim- und Besuchslehren ersetzen sollte.
In einer Ansprache über das Betreuen forderte Elder Holland die Heiligen auf, „von ganzem Herzen Jünger“ zu sein, und rief ihnen das große Gebot des Erretters an seine Apostel in Erinnerung: „Liebt einander.“ Schwester Bingham forderte die Heiligen ebenfalls auf, dem Beispiel Christi nachzueifern. „Wenn Sie andere betreuen und dabei den Erretter vertreten dürfen“, erklärte sie, „dann fragen Sie sich: ‚Wie kann ich das Licht des Evangeliums an diesen Menschen oder diese Familie weitergeben? Wozu inspiriert mich der Heilige Geist?‘“
Weniger als drei Monate nach seiner Einsetzung begab sich Präsident Nelson im Zuge seines geistlichen Wirkens auf die erste seiner mannigfachen Reisen rund um den Globus. Auf dieser Reise mit seiner Frau Wendy, die er 2006 nach dem Tod seiner ersten Frau Dantzel geheiratet hatte, besuchte der Prophet innerhalb von elf Tagen die Heiligen in acht Städten auf vier Kontinenten.
„Immer wenn ich mich zuhause so richtig wohlfühle, bin ich am falschen Ort“, meinte er. „Ich muss dort sein, wo die Menschen sind. Wir müssen ihnen doch die Botschaft vom Erretter überbringen.“
Bei der Herbst-Generalkonferenz 2018 kündigte Präsident Nelson sodann eine Neuerung beim sonntäglichen Versammlungsschema an. Damit sollte das Leben nach dem Evangelium mehr auf das Zuhause ausgerichtet und von der Kirche unterstützt werden. Die Dauer der wöchentlichen Versammlungen wurde um eine Stunde verkürzt, was den Mitgliedern mehr Zeit schenkte, sich zuhause mit dem Evangelium zu befassen. Der neue Lehrplan Komm und folge mir nach! für die Klassen der Erwachsenen in der Sonntagsschule, für die Klassen der Jugendlichen und in der Primarvereinigung sowie für das persönliche Studium und das Studium mit der Familie spielte nunmehr eine wichtige Rolle dabei, die Heiligen durch das Lernen des Evangeliums zu Christus zu bringen.
Bei der Konferenz sprach Präsident Nelson auch darüber, dass der richtige Name der Kirche verwendet werden solle und keinerlei Abkürzungen oder Spitznamen. „Ich [erkenne] und bereue zutiefst, dass wir es in der wiederhergestellten Kirche des Herrn unbewusst hingenommen haben, dass man uns mit anderen Namen bezeichnet, Bezeichnungen, bei denen der heilige Name Jesu Christi ausgelöscht ist“, erklärte er. „Wenn wir seinen Namen von seiner Kirche weglassen, entfernen wir unabsichtlich den Herrn als Mittelpunkt unseres Lebens.“
Unter Präsident Nelson führte die Kirche eine neue Initiative für Kinder und Jugendliche ein, die das Pfadfinderprogramm, das Programm Mein Fortschritt sowie sonstige Aktivitäten für junge Heilige ersetzte. Im Zuge dieser Änderung wurden auch die FSY-Tagungen nun allen jungen Mitgliedern zwischen vierzehn und achtzehn Jahren zugänglich gemacht. Wie bei EFY und TFY hatten auch bei FSY die Jugendlichen die Möglichkeit, eine Woche lang evangeliumsbezogenen Unterricht zu besuchen und Ansprachen anzuhören, neue Freundschaften zu schließen und ihr Zeugnis zu stärken.
Im Anschluss an diese Anpassungen gab die Kirche ein neues Handbuch heraus, das Allgemeine Handbuch: Wie man in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage dient. Das Handbuch sollte alle Menschen dabei unterstützen, zu Christus zu kommen, und enthielt klare Weisungen, damit die Heiligen zu Gottes Werk beitragen konnten. Im Gegensatz zu früheren Ausgaben des Handbuchs bestand das Allgemeine Handbuch jetzt nur aus einem einzigen Band und konnte über die Website der Kirche sowie über die App für mobile Endgeräte aufgerufen werden. Um für kontinuierliche, inspirierte Führung im weltweiten Werk der Kirche zu sorgen, stand das Handbuch in einundfünfzig Sprachen zur Verfügung.
Schon früh in seiner Amtszeit arbeitete Präsident Nelson eng mit der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) zusammen, da es ihm ein Anliegen war, in aller Welt für Respekt, Anstand und ein harmonisches Miteinander zwischen Völkern und ethnischen Gruppen einzutreten. Er sprach sich vehement gegen Rassismus aus und forderte die Heiligen eindringlich auf, alle Kinder Gottes zu erbauen und ihnen achtungsvoll zu begegnen.
In den 2010er Jahren führten Fragen zur Stellung der Frau in der Kirche zu wichtigen Änderungen bei kirchlichen Gepflogenheiten. Als Mitglied des Kollegiums der Zwölf Apostel hatte Russell M. Nelson verkündet, Frauen seien beim Errettungswerk „vollwertige Partnerinnen“ und ihre Sichtweise in den Ratsgremien der Kirche sei unabdingbar. Auch Elder Dallin H. Oaks hatte klargestellt, dass Frauen bei der Erfüllung ihrer Berufung Priestertumsvollmacht haben. „Wir sind es nicht gewohnt, davon zu sprechen, dass Frauen in ihren Berufungen die Vollmacht des Priestertums haben“, erklärte er, „aber welche Vollmacht sollte es sonst sein?“
Seit 2015 saßen die obersten Beamtinnen der Kirche auch in den obersten Verwaltungsräten am Hauptsitz. Linda K. Burton, die Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung, wurde Mitglied des Führungsrats für Priestertum und Familie, Bonnie L. Oscarson, die Präsidentin der Jungen Damen, gehörte dem Missionsführungsrat an, und Rosemary M. Wixom, die Präsidentin der Primarvereinigung, saß im Führungsrat für Tempel und Familiengeschichte. 2019 ermächtigten Präsident Nelson und seine Ratgeber zudem Frauen, bei Taufen und ebenso bei Siegelungen im Tempel offiziell als Zeuginnen zu fungieren.
Wie Präsident Monson bemühte sich auch Präsident Nelson bei Fragen zur LGBTQ+-Community und deren Anliegen um tieferes Verständnis. 2015 waren die Vereinigten Staaten das neunzehnte Land geworden, das die gleichgeschlechtliche Ehe legalisierte. Seither hatte die Erste Präsidentschaft erneut ihre Aussage bekräftigt, dass die Kirche die Landesgesetze achte, gleichwohl aber auch ihr Bekenntnis zur Ehe als Einrichtung zwischen einem Mann und einer Frau bekräftigt.
Da die Kirche die Bedürfnisse der Mitglieder aus der LGBTQ+-Community und ihrer Familien verstehen und ihnen gerecht werden wollte, wurden Videos und sonstiges Material auf die Website gestellt. Bei einer Andacht an der Brigham-Young-Universität bat Elder M. Russell Ballard die Heiligen eindringlich, mehr Feingefühl für Empfindungen und Lebenswelt von Mitgliedern der LGBTQ+-Community aufzubringen. „Gewiss müssen wir dabei besser werden als bisher“, erklärte er, „damit alle Mitglieder das Gefühl haben, in der Kirche ein geistiges Zuhause zu haben, wo sie von ihren Brüdern und Schwestern geliebt werden und den Herrn verehren und ihm dienen können.“
Von Beginn seiner Amtszeit an hatte Präsident Nelson bezeugt, dass Tempel wichtig sind, um Gottes Kinder auf dem „Weg der Bündnisse“ zu halten und Israel auf beiden Seiten des Schleiers zu sammeln. In den ersten zwei Jahren als Präsident der Kirche kündigte er fünfunddreißig neue Tempel an, die an so unterschiedlichen Orten wie Bengaluru in Indien, Port Moresby in Papua-Neuguinea und der ungarischen Hauptstadt Budapest erbaut werden sollten. Im selben Zeitraum wurden auch acht neue Tempel geweiht, darunter ein Haus des Herrn in Rom.
Der Prophet brachte zum Ausdruck, der Rom-Tempel markiere einen Wendepunkt in der Geschichte der Kirche. „Alles wird sich immer rascher entwickeln“, verkündete er nach der Weihung. „Die Kirche hat eine unvergleichliche Zukunft, die ihresgleichen sucht. Wir nähern uns gerade erst dem an, was vor uns liegt.“
Bei der Herbst-Generalkonferenz 2019 kündigte Präsident Nelson an, dass 2020 eine Zweihundertjahrfeier stattfinden werde, um des zweihundertsten Jahrestages der ersten Vision Joseph Smiths vom Vater im Himmel und von Jesus Christus gedenken zu können.
Er bat die Heiligen, in das Licht der Wiederherstellung einzutauchen. „Ich hoffe, dass sich in den nächsten sechs Monaten jedes Mitglied und jede Familie auf eine einzigartige Konferenz vorbereiten, in der man eben genau der Grundlagen des wiederhergestellten Evangeliums gedenken wird“, lautete sein Wunsch. „Dann wird die Generalkonferenz im nächsten April nicht nur denkwürdig sein, sondern unvergesslich.“
Kurz nach der Herbst-Generalkonferenz 2019 fühlte sich die siebzehnjährige Laudy Kaouk ziemlich einsam, als sie so die Straße entlangfuhr. „Vater im Himmel“, betete sie, „ich muss einfach spüren, dass du da bist.“
Laudy war in ihrem letzten Jahr an der Highschool in Provo in Utah. Wenn sie nicht im Unterricht war oder sich an einer von mehreren Universitäten bewarb, engagierte sie sich bei außerschulischen Aktivitäten oder ging ihrer Arbeit in einem Restaurant nach. Außerdem war sie Präsidentin ihrer Jungen-Damen-Klasse und Tänzerin bei Luz de las Naciones, dem jährlich im Konferenzzentrum stattfindenden Festival der Kirche für lateinamerikanische Kultur. Geschäftiger konnte das Leben wohl kaum sein.
Auch zuhause gab es Veränderungen. Sie genoss es, dass sie Teil einer großen, eng verbundenen Familie war. Ihr Vater stammte aus Syrien und ihre Mutter aus Venezuela. Sie waren schon lange Mitglieder der Kirche und waren nach Provo ausgewandert, bevor Laudy, die Jüngste in der Familie, überhaupt geboren worden war. Sonntags kam die ganze Familie zusammen, die verheirateten Geschwister brachten ihre Ehepartner und Kinder mit. Laudy freute sich immer auf diese Treffen mit der Großfamilie.
Doch in letzter Zeit kam ihr das Haus so leer vor. Ihre ältere Schwester war auf Mission in Japan, und Laudy war demnach das einzige Kind zuhause. Sie hatte immer Geschwister um sich gehabt, und jetzt fühlte sie sich einsam. Also schüttete sie Gott das Herz aus.
Zwei Wochen später erhielt Laudy von ihrem Pfahlpräsidenten einen Anruf. Er teilte ihr mit, dass Bonnie H. Cordon, die Präsidentin der Jungen Damen der Kirche, sie sprechen wolle. Laudy war zwar überrascht, willigte aber natürlich ein. Kurze Zeit später besuchte Präsidentin Cordon Laudys spanischsprachige Gemeinde und setzte sich dort mit ihr zusammen. „Ich kümmere mich um viele Menschen auf der ganzen Welt und will auch für dich etwas tun“, meinte sie eingangs zu Laudy.
Da war Laudy klar, dass der Vater im Himmel ihr Gebet erhört hatte. Dieses Gespräch war seine Antwort darauf.
Als Laudy einen Monat später von der Arbeit nach Hause kam, warteten ihre Eltern schon ganz aufgeregt auf sie. „Post für dich“, sagten sie. Es war ein Brief von der Ersten Präsidentschaft.
Überrascht setzte sich Laudy mit ihren Eltern hin und öffnete den Brief. Es war die Einladung, bei der Frühjahrs-Generalkonferenz 2020 zu sprechen.
„Wie soll ich das nur schaffen?“, fragte sie sich.
Der Heilige Geist flüsterte ihr Nephis Worte zu: „Ich will hingehen und das tun, was der Herr geboten hat.“ Laudy war aufgeregt und gleichzeitig von Demut erfüllt. Sie wusste, Gott würde ihr zur Seite stehen.
Am 30. Januar 2020 rief die Weltgesundheitsorganisation den Gesundheitsnotstand aus. In Asien war ein aggressives Coronavirus aufgetaucht, das in China hunderte von Menschen infiziert hatte. Das Virus verursachte zunächst einer Lungenentzündung ähnliche Symptome, doch die üblichen Behandlungsmethoden zeigten kaum Wirkung. Und es breitete sich in Windeseile und ganz unvorhersehbar aus.
Anfang Februar hatte die Krankheit einen Namen: COVID-19. Die Führer der Kirche reagierten auf die Krise und schickten sogleich mehr als zweihunderttausend Atemschutzmasken nach China. Versammlungen wurden in der Folge abgesagt, Tempel für heilige Handlungen für Verstorbene geschlossen, und für die Missionare in den betroffenen Gebieten galten Quarantäne-Bestimmungen.
Am 11. März erklärte die WHO die Coronawelle zur Pandemie. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Krankheit bereits in einhundertvierzehn Ländern ausgebreitet, mehr als hunderttausend Menschen infiziert und tausende von Todesopfern gefordert. Wie schon bei der weltweiten Grippepandemie 1918/19 setzte die Erste Präsidentschaft alle Versammlungen der Kirche mit persönlicher Anwesenheit aus. In einigen Missionarsschulen wurden keine neuen Missionare mehr aufgenommen. Ein System wurde entwickelt, wie Missionare zuhause per Videokonferenz geschult werden konnten. Die Erste Präsidentschaft kündigte außerdem ihre Pläne für eine virtuelle Generalkonferenz im April an und wies die Heiligen an, bei sich zuhause den Gottesdienst abzuhalten. Den Priestertumsträgern wurde vorübergehend die Genehmigung erteilt, in der eigenen Familie das Abendmahl zu segnen und auszuteilen.
Am 14. März wandte sich Präsident Nelson in einem Online-Video an die Heiligen. „Als weltweite Kirche stehen wir vor einer einzigartigen Herausforderung“, verkündete er. „Wir beten für diejenigen, die leiden oder einen ihrer Lieben verloren haben.“
Er bat die Heiligen dringend, auf sich und ihre Nächsten achtzugeben. „Unser Vater im Himmel und sein Sohn Jesus Christus kennen uns, lieben uns und wachen über uns“, bestätigte er. „Dessen können wir ganz gewiss sein.“
Am 4. April 2020 saß Laudy Kaouk im fast leeren Vortragssaal des Bürogebäudes der Kirche und kritzelte nervös in ihrem Notizbuch herum. Die Samstagabendversammlung der 190. Frühjahrs-Generalkonferenz der Kirche war im Gange, und bald sollte sie als Rednerin an der Reihe sein.
Zuvor schon hatte Präsident Nelson die Konferenz im kleinen Vortragssaal eröffnet. Die Ausbreitung des Coronavirus hatte die Kirche dazu veranlasst, Präsenzveranstaltungen an ihren Schulen und Universitäten einzustellen, Missionare einer neuen Mission zuzuweisen oder ganz zu entlassen und alle Tempel auf unbestimmte Zeit zu schließen. Als der Prophet vor den Heiligen stand, hatte er keinen Chor hinter sich und auch nicht die vertrauten Reihen mit den Generalautoritäten und den obersten Beamten der Kirche. Stattdessen saßen seine Ratgeber und eine Handvoll Redner zwar nahebei, jedoch hielt jeder als Vorsichtsmaßnahme gegen das Coronavirus meterweise Abstand.
Als Präsident Nelson nun zu den Heiligen sprach, erinnerte er sie an das Versprechen vom Ende der letzten Konferenz, dass nämlich diese Feier zum 200. Jahrestag der ersten Vision Joseph Smiths für diejenigen, die sich darauf vorbereitet hatten, „unvergesslich“ sein werde.
„Ich [konnte ja] nicht ahnen“, sagt er, „dass sie für mich deshalb so denkwürdig und unvergesslich sein würde, weil ich hier vor weniger als zehn Menschen sprechen würde!“
Laudy hatte sich nach besten Kräften auf die Konferenz vorbereitet, wozu Präsident Nelson ohnehin alle Mitglieder aufgefordert hatte. Sie hatte in der Köstlichen Perle einiges aus Joseph Smiths Lebensgeschichte gelesen und staunte über die Entschlossenheit des jungen Propheten, trotz seiner geringen Schulbildung das Werk des Herrn zu tun. „Wow“, hatte sie gedacht, „er hat sich ganz bestimmt unzulänglich gefühlt.“
Das war ein Gefühl, das ihr selbst auch nicht unbekannt war. Laudy gehörte nicht zu denen, die sich davor fürchteten, in der Öffentlichkeit zu sprechen, doch der Gedanke, vor Millionen von Menschen zu stehen, war durchaus einschüchternd. Zuweilen befielen sie Selbstzweifel, doch sie hatte auch so manches erlebt, was ihr Selbstvertrauen stärkte. Bei der Vorbereitung ihrer Ansprache hatte sie gespürt, dass der Herr sie führte, so wie er einst auch Joseph Smith geführt hatte. Ihre Ansprache nahm nicht gleich von heute auf morgen Gestalt an. Vielmehr war sie nach und nach entstanden, eine Eingebung nach der anderen – in dem Maß, wie sie betete, nachsann und in den Tempel ging.
Nun kam gerade Elder Gerrit W. Gong zum Schluss seiner Ansprache, und Laudy legte ihr Notizbuch zur Seite. Sie trat ans Rednerpult, und sobald sie dort stand, wich ihre Nervosität. „Ich bin dankbar, hier zu sein“, stellte sie fest. „Ich habe lange darüber nachgedacht, worüber ich sprechen könnte, und ich hoffe, der Heilige Geist spricht durch meine Botschaft direkt zu euch.“
Als die Pandemie ausbrach, hatte Laudys Schule auf Fernunterricht umgestellt, und ihr Tagesablauf änderte sich daher drastisch. Vor der Konferenz hatten ihre Eltern und sie die Ausgangsbeschränkungen genauestens eingehalten, um ja sicherzustellen, dass sie gesund blieb und auf der Konferenz niemanden gefährdete. Sie war traurig, weil ihre Eltern und weitere Verwandte jetzt nicht bei ihr im selben Raum waren. Doch ihr war bewusst, dass sie sich ja in der Nähe aufhielten und sie im Fernsehen sahen, und sie spürte, dass ihre Vorfahren ihr ebenfalls zuhörten und ihr beistanden.
Laudys Ansprache dauerte etwa sechs Minuten. Sie sprach von der Macht eines Priestertumssegens und von der Liebe und dem Frieden, die sie verspürte, wenn sie von ihrem Vater einen Segen erhielt. „Zögert nicht, um einen Segen zu bitten, wenn ihr in besonderem Maße Führung braucht“, empfahl sie. „Einige von uns leiden vielleicht unter Angst, Depressionen, einer Sucht oder dem Gefühl, nicht gut genug zu sein. Ein Priestertumssegen kann uns helfen, diese Herausforderungen zu überwinden und auf unserem weiteren Weg in die Zukunft Frieden zu verspüren.“
Sie bezeugte aus eigener Erfahrung, dass Gott seine Kinder persönlich kennt. „Er achtet immer auf uns und segnet uns selbst dann, wenn wir meinen, es nicht zu verdienen“, stellte sie fest. „Er weiß, was wir brauchen und wann wir es brauchen.“
Nach Laudy hielt Enzo Petelo, ein zweiter Jugendlicher, eine Ansprache. Während Laudy ihm zuhörte, konnte sie sich kaum erinnern, wie ihre eigene Ansprache gelaufen war. Hatte sie alles richtig gemacht?
Sobald die Versammlung vorbei war, lief sie aus dem Saal zu ihren Eltern. „Habe ich nicht zu schnell gesprochen?“, fragte sie.
„Nein, hija“, meinte ihre Mutter. „Du hast das ganz toll gemacht.“
Am nächsten Morgen dankte Präsident Nelson den Heiligen dafür, dass sie sich trotz der weltweiten Ausnahmesituation dazu entschieden hatten, das Wort des Herrn zu hören. „Die zunehmende Finsternis, die mit Bedrängnissen einhergeht, lässt das Licht Jesu Christi nun umso heller erstrahlen“, bezeugte er. „Überlegen Sie nur, wie viel Gutes jeder von uns in dieser Zeit weltweiter Umwälzungen tun kann!“
Er wiederholte die Worte Gottvaters an Joseph Smith im heiligen Hain: „Dies ist mein geliebter Sohn. Ihn höre!“
Weiter erklärte er: „Mit diesen beiden Worten – ‚Ihn höre!‘ – gibt Gott uns ein Muster vor, wie wir in diesem Leben erfolgreich, glücklich und froh sein können.“ Der Prophet forderte die Heiligen eindringlich auf, das Wort des Herrn zu hören, darauf zu horchen und es zu befolgen. „Ich verheiße Ihnen, dass Sie mit zusätzlicher Kraft gesegnet werden, Versuchungen, Konflikten und Schwächen zu begegnen“, bekräftigte er. „Ich verheiße Ihnen Wunder in Ihrer Ehe, Ihren familiären Beziehungen und in der täglichen Arbeit. Und ich verheiße Ihnen, dass Ihre Fähigkeit, Freude zu empfinden, selbst dann zunehmen wird, wenn die Spannungen in Ihrem Leben zunehmen.“
Nach diesen Worten kündigte Präsident Nelson eine neue Proklamation der Ersten Präsidentschaft und des Kollegiums der Zwölf Apostel zur Wiederherstellung des Evangeliums Jesu Christi an. Anschließend wurde ein Video gezeigt, in dem Präsident Nelson im heiligen Hain die Proklamation verlas.
„Zweihundert Jahre sind nun schon vergangen, seit diese Wiederherstellung von Gottvater und seinem geliebten Sohn Jesus Christus eingeleitet wurde“, war der Wortlaut der Proklamation. „Wir bestätigen, dass Gott seinen Willen für seine geliebten Söhne und Töchter kundtut. Wir bezeugen, dass diejenigen, die sich gebeterfüllt mit der Botschaft von der Wiederherstellung befassen und im Glauben handeln, mit einem Zeugnis davon gesegnet werden, dass die Wiederherstellung von Gott kommt und dem Zweck dient, die Welt auf das verheißene Zweite Kommen unseres Herrn und Erretters, Jesus Christus, vorzubereiten.“
Am Ende von Präsident Nelsons Ansprache erhoben sich überall auf der Welt die Heiligen, wo auch immer sie zusammengekommen waren, und schwenkten weiße Taschentücher. Seit der Weihung des Kirtland-Tempels im Jahr 1836 hatten die Mitglieder den Vater und den Sohn mit einem heiligen Hosannaruf gepriesen. Und an diesem Tag war es nicht anders.
Die Heiligen folgten dem Beispiel des Propheten und schwenkten ihr Taschentuch, während in aller Welt ihre Stimmen vereint und freudevoll erklangen:
Hosanna! Hosanna! Hosanna Gott und dem Lamm!
Hosanna! Hosanna! Hosanna Gott und dem Lamm!
Hosanna! Hosanna! Hosanna Gott und dem Lamm!