Angeschrien, angebellt und nass geworden
Ich hatte die begeisterten Berichte meine Freunde und Freundinnen über ihre Mission gehört. Warum fühlte ich mich jetzt also so elend?
Wieso haben Sie mir nicht gesagt, wie furchtbar eine Mission ist?“ Diese Frage stellte ich in einem Brief an Elder Newman, einen meiner Lehrer an der Missionarsschule. Als ich vor 20 Jahren in meinem Missionsgebiet ankam, litt ich entsetzlich, und meine Mission war mir zuwider. Ich wollte bleiben, weil ich prinzipiell zu Ende führe, was ich begonnen habe, aber bestimmt wollte ich niemals behaupten, es seien die besten 18 Monate meines Lebens gewesen.
Elder Newman schrieb zurück: „Es tut mir Leid, dass Sie so empfinden, Schwester Betz. Eigentlich haben Elder Bradford und ich versucht, es Ihnen zu sagen. Ihnen allen. Das versuchen wir immer, aber keiner will es glauben. Machen Sie sich keine Sorgen. Mit der Zeit wird es besser. Und wenn Sie dann heimkehren, sind Sie froh, dass Sie auf Mission gegangen sind.“
Ich beschloss also, das Beste daraus zu machen. Schließlich war ich mir ja sicher, dass der himmlische Vater gewollt hatte, dass ich auf Mission gehe; ich konnte den Geist nicht leugnen, den ich verspürt hatte, als ich dem Vater im Himmel meinen Entschluss vorgetragen hatte. Viele meiner Freunde und Freundinnen waren auf Mission gewesen oder waren damals gerade auf Mission, und sie schienen das Evangelium auf eine Weise zu verstehen, die mir noch fremd war. Jeder meiner Bekannten auf Mission erzählte wunderbare Geschichten davon, wie sich Menschen durch das Evangelium veränderten und wie sie Tag für Tag Wunder erlebten. Alle sagten sie, ihre Mission sei das Tollste, was sie je erlebt hatten, und ihre schönen Erfahrungen hatten dazu beigetragen, dass auch ich mich entschlossen hatte, auf Mission zu gehen.
Aber jetzt war ich hier in Norddeutschland, litt noch unter dem Jetlag, hatte eine Mitarbeiterin, die kaum länger auf Mission war als ich, und für Juni war es hier außerdem viel zu kalt. Mindestens zweimal am Tag wurden wir bis auf die Haut nass, und im Allgemeinen sahen wir aus, als wären wir durch eine Schlammpfütze geschleift worden. Dass wir noch dazu mit dem Fahrrad unterwegs waren, machte die Sache auch nicht besser. Wir wohnten auf einem der wenigen Hügel, die es in Norddeutschland gibt, und alle unsere Untersucher wohnten anscheinend ganz oben auf einem anderen. Aber am meisten machte mir zu schaffen, dass ich merkte: Ich konnte den sanften Einfluss des Geistes noch nicht erkennen. Ich fürchtete schon, als Missionarin werde ich eine komplette Versagerin sein. Und das nach nicht einmal zwei Monaten in Deutschland!
Es ist schier unglaublich, aber ich fand dann doch heraus, dass Elder Newman Recht hatte. Es wurde tatsächlich besser. Die Schwierigkeiten verschwanden nicht, doch ich lernte, auch das Gute zu sehen und mich daran zu erfreuen.
Da war beispielsweise die Heimfahrt nach meiner zweiten Zonenkonferenz. Wir waren soeben in einen anderen Zug umgestiegen und unterhielten uns mit einer Frau über den neuen Tempel in Freiberg, als ich merkte, dass wir in einer Stadt anhielten, die nicht auf unserer Reiseroute lag. Uns wurde bewusst, dass wir im falschen Zug saßen, und wir stiegen rasch aus. Doch der nächste Zug in die richtige Richtung ging dummerweise erst in zwei Stunden, und so würden wir auch nur den späteren Anschlusszug erreichen. Wir saßen also dort am Bahnhof und hatten Zeit zum Lesen. „Der unbequeme Messias“, ein Artikel von Elder Jeffrey R. Holland, der damals Präsident der Brigham-Young-Universität war, war in dem Ensign abgedruckt, den wir soeben erhalten hatten, und seine Worte schienen direkt an mich gerichtet:
„Und so bitte ich Sie: Haben Sie Geduld, was das Geistige betrifft. Vielleicht ist es bei Ihnen ja anders als bei mir, aber ich bezweifle das. … Meine Mission war nicht leicht. …
Von einigen wenigen Propheten abgesehen, muss das Werk des Herrn von allen, die darin wirken, auf sehr stille, unspektakuläre Weise getan werden. Und indem man sich bemüht, ihn zu erkennen und zu wissen, dass er einen kennt, indem man in stillem, bescheidenem Dienst Zeit und Bequemlichkeit opfert, stellt man fest, dass es tatsächlich so ist: ‚Seinen Engeln befiehlt er, dich auf ihren Händen zu tragen.‘ (Matthäus 4:6.) Das muss nicht von heute auf morgen geschehen. Es ist sogar zu erwarten, dass es lange dauert, aber das hat seinen guten Grund. Seien Sie froh über die geistige Last, die Sie zu tragen haben, denn durch sie spricht Gott zu Ihnen. Wenn Sie Ihre Last getreu tragen, wird er Sie in seinem Werk einsetzen.“ (Vgl. Der Stern, März 1989, Seite 22f.; Ensign, Februar 1984, Seite 70.)
Meine Erfahrungen auf Mission halfen mir, das zu verstehen, und der Geist gab mir damals auf dem einsamen Bahnhof unmissverständlich, fest und tröstlich Zeugnis davon, dass das stimmte.
Eines Abends – es war schon relativ spät – gingen Schwester Gubler und ich in einem großen Wohnhaus von Tür zu Tür. Wir waren ein wenig überrascht, als uns eine ältere Frau hereinbat, aber wir spürten sogleich, dass die Frau einen großen Schmerz in sich trug. Wir saßen in einem abgedunkelten Zimmer, und sie erzählte uns, dass ihr Mann gestorben sei und ihre Stiefkinder sie ablehnten, und uns war klar, dass sie unbedingt spüren musste, dass der himmlische Vater sie liebt. Ich bat sie, mir ihre Bibel zu reichen, und las ihr diese tröstliche Schriftstelle vor: „Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; … so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht.“ (Matthäus 11:29,30.) Der Geist erfüllte das Zimmer. Uns dreien kamen die Tränen, und meine Mitarbeiterin und ich bezeugten ihr, dass der Vater im Himmel ihren Schmerz kennt und sie sehr liebt. In diesem kurzen, kostbaren Augenblick hatte sich wenigstens eine bekehrt, nämlich ich.
Ich merkte, wie sich meine Empfindungen Schritt für Schritt änderten. Wir wurden weiter angeschrien oder angebellt, wir wurden nass, man ging uns aus dem Weg oder ignorierte uns, meine Schultertasche wurde immer schwerer, meine Kleidung von Tag zu Tag verschlissener, und der Auftrag, uns um tausende Menschen zu kümmern, schien mitunter schier überwältigend. Doch die spitzen Bemerkungen taten immer weniger weh, die Schmerzen verblassten, das Leben wurde immer heller in dem Maß, wie mein Zeugnis wuchs und stärker wurde. Ich merkte, wie ich mich veränderte, und ich erlebte das auch bei denen, die wir im Evangelium unterwiesen.
Da gab es etwa Uwe, den jungen, idealistischen Umweltschützer, der vom Plan der Errettung hörte und spürte, dass die Botschaft wahr war. Und weil wir ihn eingeladen hatten, fuhr er am Sonntag die 8 Kilometer mit dem Fahrrad zur Kirche. Er trug Lederkleidung, und da seine Beine so lang waren, konnte er auf der Bank in der Kapelle gar nicht richtig sitzen. Als er sich zum ersten Mal hinkniete und betete, spürten wir, wie Frieden in sein Herz drang, und sein Gesichtsausdruck wurde weich.
Ein Arzt und seine Frau waren darauf aus, sich gegen alles zur Wehr zu setzen, was wir sagten, aber irgendwie merkten sie, dass sie nicht dagegen ankamen. Sie nahmen das wiederhergestellte Evangelium Jesu Christi damals zwar nicht an, aber ihre Kinder durften doch die Sonntagsversammlungen und die Veranstaltungen in unserem Zweig in Glückstadt besuchen.
Als meine neue Mitarbeiterin, Schwester Neumann, und ich einmal eine liebe junge Frau unterwiesen, kam gerade ihr Freund Tom zu Besuch. Sie hatte uns schon vorher darauf hingewiesen, dass er unsere Besuche missbilligte. Tom sah unsere Fahrräder vor dem Haus und wusste daher, dass wir an diesem Vormittag seine Freundin besuchten, und deswegen wollte er lieber draußen warten. Doch seine Neugier plagte ihn, und ihm kamen immer mehr Fragen in den Sinn, die er uns stellen wollte. Schließlich gewann sein Interesse die Oberhand über seine Bedenken, und er trat ein und wollte uns auf die Probe stellen. Wir erklärten ihm ganz kurz die grundlegenden Evangeliumsprinzipien sowie den Abfall vom Glauben und die Wiederherstellung und machten anschließend einen Termin für den nächsten Abend mit ihm aus. Zehn Wochen später ließ er sich taufen. Ich war so überglücklich, dass ich mich noch für weitere zehn Jahre auf Mission gemeldet hätte, wenn das möglich gewesen wäre.
Die beiden Schwestern Astrid und Jennifer fanden die Kirche, bevor die Missionare sie finden konnten. Jennifer begann sich für die Kirche zu interessieren, nachdem sie sich im Religionsunterricht mit den Mormonen befasst und einiges über sie gelesen hatte. In der Stadtbibliothek fand sie das Buch Mormon auf Deutsch sowie William E. Berretts Seine Kirche wiederhergestellt. Astrid und sie lasen die beiden Bücher zusammen. Sie schauten sicherheitshalber sogar im Telefonbuch von Bremen nach, ob es dort irgendeinen Hinweis auf diese „amerikanische“ Kirche gäbe. Sie waren angenehm überrascht, als sie die Adresse eines Gemeindehaus in ihrer Heimatstadt fanden. Sie schrieben dorthin und wollten wissen, wie sie der wiederhergestellten Kirche Jesu Christi beitreten könnten. Natürlich halfen wir ihnen da gerne weiter!
Die Öhlers, die Kaldeweys, Frau Sirisko, Herr Lange, Herr Todt und tausende andere hielten einen Augenblick lang – oder manchmal auch länger – für ein Gespräch inne, sodass wir Zeugnis geben und den Samen des Evangeliums in ihr Herz pflanzen konnten. In diesem Leben werde ich mich wohl kaum an den Früchten erfreuen können, die viele dieser Samen tragen werden, aber Familie Claassen etwa ließ sich nach meiner Versetzung taufen, und Frau Mahnke erlangte ein Zeugnis und schloss sich der Kirche an, als ich schon lange wieder von der Mission zurück war.
Elder Newman hatte Recht. Als ich schließlich aus Deutschland heimkehrte, war mein Herz weit geworden – eine ganz neue Welt voller Menschen, Gedanken, Gebräuchen und Gewohnheiten, ganz zu schweigen von den geistigen Eindrücken, hatte für immer darin Platz gefunden. Ich lernte Menschen lieben, die ich früher als Fremde angesehen hatte; ich lernte, ihnen zu dienen und ihretwegen zu leiden.
Als ich nach meiner Mission an der Missionarsschule arbeitete, versuchte ich den Missionaren begreiflich zu machen, dass ihre Mission ungeachtet der vielen Segnungen, die vor ihnen lagen, bisweilen doch sehr schwierig sein würde. Ganz haben sie das nie begriffen. Aber das konnten sie ja auch nicht – noch nicht.