Zwei Grundsätze für jede Wirtschaftslage
Oft lernen wir gerade dann, wenn wir durch Widrigkeiten geprüft werden, die entscheidenden Lektionen des Lebens, die unseren Charakter formen und unser Schicksal prägen.
Durch die Reisen zu den Mitgliedern der Kirche in der ganzen Welt und über die bestehenden Kommunikationswege im Priestertum erfahren wir aus erster Hand, wie es unseren Mitgliedern geht und vor welchen Herausforderungen sie stehen. Seit Jahren spüren viele Mitglieder überall die Auswirkungen von Katastrophen, die von der Natur oder von Menschen verursacht werden. Wir wissen auch, dass Familien den Gürtel enger schnallen mussten und sich darum sorgen, wie sie diese schwierigen Zeiten überstehen.
Brüder, wir fühlen uns Ihnen sehr nahe. Wir haben Sie lieb und beten immer für Sie. Ich habe in meinem Leben genügend Höhen und Tiefen erlebt, um zu wissen, dass der Winter der Hoffnung und Wärme eines neuen Frühlings weichen muss. Ich bin optimistisch, was die Zukunft angeht. Brüder, was uns betrifft, müssen wir standhaft bleiben in der Hoffnung, mit all unserer Kraft arbeiten und auf Gott vertrauen.
Neulich habe ich an eine Zeit in meinem Leben gedacht, als schwere Sorgen und die Angst vor einer ungewissen Zukunft wohl allgegenwärtig waren. Ich war damals elf und bewohnte mit meiner Familie das Dachgeschoss eines Bauernhauses in der Nähe von Frankfurt. Zum zweiten Mal innerhalb nur weniger Jahre waren wir Flüchtlinge und bemühten uns, an einem neuen Ort Fuß zu fassen, der von unserer bisherigen Heimat weit entfernt war. Wenn ich sage, dass wir arm waren, ist das eine Untertreibung. Wir schliefen alle in einem Zimmer, das so winzig war, dass man kaum um die Betten herumgehen konnte. In dem anderen kleinen Zimmer hatten wir ein paar schlichte Möbelstücke und einen Herd, auf dem meine Mutter das Essen kochte. Um von einem Zimmer ins andere zu gelangen, mussten wir einen Lagerraum durchqueren, in dem der Bauer landwirtschaftliche Geräte aufbewahrte, aber an den Dachsparren hingen auch allerlei Schinken und Würste. Der Geruch machte mich immer sehr hungrig. Wir hatten kein Badezimmer, dafür aber eine Außentoilette – die Treppe hinunter und dann noch etwa 15 Meter; im Winter kam es einem aber viel weiter vor.
Weil ich ein Flüchtling war und einen ostdeutschen Zungenschlag hatte, machten sich andere Kinder oft über mich lustig und beschimpften mich mit Ausdrücken, die mich tief verletzten. Während meiner gesamten Jugendzeit war ich wohl zu keiner Zeit so entmutigt wie damals.
Heute – Jahrzehnte später – sehe ich diese Zeit aufgrund meiner Erfahrung mit anderen Augen. Obwohl ich mich noch immer an den Schmerz und die Verzweiflung erinnere, kann ich heute sehen, was ich damals nicht erkennen konnte, nämlich dass ich in dieser Zeit als Persönlichkeit sehr gereift bin. Während dieser Zeit rückte unsere Familie näher zusammen. Ich beobachtete meine Eltern und lernte von ihnen. Ich bewunderte ihre Entschlossenheit und ihren Optimismus. Von ihnen lernte ich, dass man Widrigkeiten überwinden kann, wenn man ihnen mit Glauben, Mut und Beharrlichkeit begegnet.
Da mir bewusst ist, dass manche von Ihnen momentan Zeiten großer Sorge und Verzweiflung erleben, möchte ich heute über zwei wichtige Grundsätze sprechen, die mir in meinen Entwicklungsjahren Halt gegeben haben.
Der erste Grundsatz: Arbeit
Bis zum heutigen Tag bin ich tief beeindruckt von der Art und Weise, wie meine Familie gearbeitet hat, nachdem sie im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg all ihre Habe verloren hatte. Ich weiß noch, wie mein Vater – der bis dahin als Beamter tätig gewesen war – verschiedene schwierige Arbeitsstellen annahm, unter anderem im Kohlebergbau, im Uranbergbau, als Mechaniker und als LKW-Fahrer. Um unsere Familie zu ernähren, verließ er frühmorgens das Haus und kam oft erst spätabends zurück. Meine Mutter eröffnete eine Wäscherei und mühte sich unzählige Stunden mit niedriger Arbeit ab. Sie beschäftigte meine Schwester und mich als Mitarbeiter in ihrem Geschäft. Mit meinem Fahrrad war ich für Abholung und Anlieferung der Wäsche zuständig. Ich fühlte mich gut dabei, meiner Familie ein wenig helfen zu können, und die körperliche Arbeit erwies sich – auch wenn ich es damals noch nicht ahnte – auch als ein Segen für meine Gesundheit.
Es war nicht einfach, aber die Arbeit hielt uns davon ab, uns zu viele Gedanken über unsere schwierige Situation zu machen. Unsere Situation änderte sich zwar nicht über Nacht, doch sie änderte sich. Das ist das Schöne an der Arbeit. Wenn wir einfach dabeibleiben – treu und beständig –, wird sich alles gewiss zum Besseren wenden.
Wie ich die Männer, Frauen und Kinder bewundere, die zu arbeiten wissen! Wie sehr der Herr doch den Arbeiter liebt! Er hat gesagt: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.“1 Und: „Der Arbeiter ist seines Lohnes wert.“2 Er hat auch eine Verheißung gegeben: „Schlage mit deiner ganzen Seele deine Sichel ein, und deine Sünden sind dir vergeben.“3 Wer sich nicht scheut, die Ärmel hochzukrempeln, und darin aufgeht, lohnende Ziele zu verfolgen, ist ein Segen für seine Familie, sein Umfeld, sein Land und für die Kirche.
Der Herr erwartet von uns nicht, schwerer zu arbeiten, als wir können. Er vergleicht unsere Anstrengungen nicht mit denen anderer (und wir sollten das auch nicht tun). Unser himmlischer Vater verlangt lediglich, dass wir unser Bestes geben – dass wir unsere ganze Leistungsfähigkeit einbringen, wie groß oder gering sie auch sein mag.
Arbeit ist ein Mittel gegen Angst, lindert Sorgen und eröffnet neue Möglichkeiten. Wie unsere Lebensumstände auch aussehen, meine lieben Brüder: Tun wir das Beste, was wir können, und erwerben wir uns den Ruf, bei allem, was wir tun, Vortreffliches zu leisten. Ergreifen wir die wunderbare Chance, zu arbeiten, die sich uns jeden neuen Tag bietet, mit den Händen und mit dem Verstand.
Wenn unser Wagen im Schlamm feststeckt, steht Gott wohl eher dem bei, der aussteigt und schiebt, als dem, der lediglich seine Stimme im Gebet erhebt – wie feierlich seine Worte auch sein mögen. Präsident Thomas S. Monson hat es so ausgedrückt: „Es reicht nicht aus, sich anstrengen zu wollen und zu sagen, dass man sich anstrengen wird. … Durch die Tat, und nicht durch den Gedanken, erreichen wir unsere Ziele. Wenn wir unsere Ziele immer wieder vertagen, werden wir sie zeitlebens nicht erreichen.“4
Arbeit kann adeln und erfüllend sein, aber denken Sie an Jakobs Warnung, nicht unsere „Arbeit für das [hinzugeben], was nicht zufrieden machen kann“5. Wenn wir zum Nachteil unserer Familie und auf Kosten unseres geistigen Wachstums nach weltlichen Gütern und dem Rampenlicht öffentlicher Anerkennung streben, erkennen wir schon bald, dass wir ein schlechtes Geschäft gemacht haben. Die rechtschaffene Arbeit, die wir zu Hause in der Familie tun, ist überaus heilig; daraus erwächst ein Gewinn von ewigem Wert. Sie kann an niemanden delegiert werden. Sie bildet das Fundament unserer Arbeit als Priestertumsträger.
Vergessen Sie nicht: Wir sind auf dieser Welt nur auf der Durchreise. Widmen wir unsere gottgegebenen Talente und Kräfte nicht nur dem Festmachen weltlicher Anker, sondern nutzen wir unsere Tage dazu, unserem Geist Flügel wachsen zu lassen. Denn als Söhne des allerhöchsten Gottes sind wir erschaffen worden, um uns zu neuen Horizonten aufzumachen.
Nun einige Worte an die Brüder, die wie ich bereits ein wenig reifer sind: Der Ruhestand gehört nicht zum Plan des Glücklichseins, den der Herr aufgestellt hat. Im Hinblick auf unsere Aufgaben im Priestertum gibt es kein Sabbatjahr und keinen Ruhestand –unabhängig vom Alter und der körperlichen Leistungsfähigkeit. Der Ausspruch „Kenn ich schon; alles schon gemacht!“ mag eine brauchbare Ausflucht sein, um dem Skateboardfahren zu entgehen, eine Einladung zu einer Motorradtour auszuschlagen oder den scharfen Curry am Buffet zu umgehen. Er ist jedoch keine annehmbare Ausflucht dafür, unseren Bündnispflichten zu entgehen, nämlich unsere Zeit, unsere Talente und Mittel der Arbeit im Reich Gottes zu weihen.
Es mag den einen oder anderen geben, der nach vielen Jahren des Dienens in der Kirche Anspruch auf eine Ruhepause anmeldet und andere den Karren ziehen lassen will. Ich sage es ganz unverblümt, Brüder: Eine derartige Denkweise ist eines Jüngers Christi nicht würdig. Ein großer Teil der Arbeit auf dieser Erde besteht darin, voller Freude bis ans Ende auszuharren – jeden Tag unseres Lebens.
Nun einige Worte an unsere jüngeren Brüder im Melchisedekischen Priestertum, die rechtschaffene Ziele verfolgen, indem sie eine Ausbildung anstreben und sich bemühen, eine Partnerin für die Ewigkeit zu finden. Das, meine lieben Brüder, sind die richtigen Ziele. Denken Sie aber daran, dass die fleißige Arbeit im Weingarten des Herrn ein großer Pluspunkt auf Ihrem Lebenslauf ist und Ihre Erfolgschancen bei beiden lohnenden Vorhaben vergrößert.
Ob es nun den jüngsten Diakon oder den ältesten Hohen Priester betrifft: Es gibt Arbeit!
Der zweite Grundsatz: Lernen
Unter den schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen im Nachkriegsdeutschland waren die Möglichkeiten im Hinblick auf Bildung und Ausbildung nicht so vielfältig wie heute. Doch trotz der Einschränkungen war ich immer sehr lerneifrig. Ich weiß noch, wie ich eines Tages – ich war mit meinem Fahrrad unterwegs, um Wäsche auszuliefern – die Wohnung eines Klassenkameraden betrat. In einem Zimmer standen zwei kleine Schreibtische an der Wand. Was für ein herrlicher Anblick! Wie glücklich sich diese Kinder schätzen konnten, einen eigenen Schreibtisch zu besitzen! Ich stellte mir vor, wie sie dort mit aufgeschlagenen Büchern saßen, den Unterrichtsstoff lernten und Hausaufgaben machten. Mir schien es so, als gäbe es nichts Schöneres auf der Welt, als einen eigenen Schreibtisch zu besitzen.
Ich musste lange warten, bis dieser Wunsch in Erfüllung ging. Jahre später bekam ich eine Anstellung in einem Forschungsinstitut, das über eine große Bibliothek verfügte. Ich weiß noch, dass ich einen großen Teil meiner Freizeit in dieser Bibliothek verbrachte. Dort konnte ich endlich – ganz allein – an einem Schreibtisch sitzen und all das Wissen aus den Büchern in mich aufsaugen. Ich las und lernte so gern! Damals erfasste ich anhand eigener Erfahrung den alten Spruch: Bei der Bildung geht es weniger darum, einen Eimer zu füllen, als vielmehr darum, ein Feuer zu entzünden.
Für die Mitglieder der Kirche sind Bildung und Ausbildung nicht einfach nur eine gute Sache, sondern ein Gebot. Wir sollen in dem unterwiesen sein, „was sowohl im Himmel als auch auf der Erde und unter der Erde ist; dem, was gewesen ist, dem, was ist, dem, was sich in Kürze begeben muss; dem, was daheim ist, dem, was in der Fremde ist“6.
Joseph Smith hatte Freude am Lernen, obwohl sich ihm kaum Möglichkeiten für eine schulische Ausbildung boten. In seinen Tagebüchern berichtete er freudig von Tagen, die er mit Lernen verbrachte, und betonte oft, wie viel ihm das Lernen bedeutete.7
Joseph Smith lehrte die Heiligen, dass Wissen ein notwendiger Bestandteil unseres irdischen Daseins ist, denn „man wird nur so schnell errettet, wie man Erkenntnis erlangt“8 und „jeglicher Grundzug der Intelligenz, den wir uns in diesem Leben zu eigen machen, wird mit uns in der Auferstehung hervorkommen“9. In schwierigen Zeiten ist das Lernen umso wichtiger. Der Prophet Joseph Smith hat erklärt: „Wissen vertreibt Finsternis, Ungewissheit und Zweifel; denn diese können sich nicht halten, wo Wissen und Erkenntnis sind.“10
Brüder, es ist Ihre Pflicht, so viel zu lernen, wie Sie können. Bitte halten Sie Ihre Familie, die Mitglieder Ihres Kollegiums, einfach alle dazu an, zu lernen und sich weiterzubilden. Wenn eine herkömmliche Ausbildung nicht möglich ist, dann lassen Sie sich dennoch nicht davon abhalten, sich so viel Wissen wie nur möglich anzueignen. In diesem Fall können die besten Bücher gewissermaßen zu Ihrer „Hochschule“ werden – zu einem Klassenzimmer, das immer offensteht und jeden Interessierten aufnimmt. Trachten Sie danach, Ihr Wissen von allem, was tugendhaft oder liebenswert ist, was guten Klang hat oder lobenswert ist, zu vermehren.11 Trachten Sie nach Wissen „durch Studium und auch durch Glauben“12. Legen Sie dabei einen demütigen Geist und ein zerknirschtes Herz an den Tag.13 Wenn Sie Ihrem Lerneifer – auch wenn es um Weltliches geht – durch Ihren Glauben eine geistige Dimension verleihen, erweitern Sie Ihr Denkvermögen, denn „wenn euer Auge nur auf [Gottes] Herrlichkeit gerichtet ist, so wird euer ganzer Leib mit Licht erfüllt werden, und … erfasst alles“14.
Missachten wir beim Lernen nicht die Quelle der Offenbarung. Die heiligen Schriften und die Worte neuzeitlicher Apostel und Propheten sind die Quelle von Weisheit, göttlichem Wissen und persönlicher Offenbarung, die uns hilft, für alle Herausforderungen des Lebens eine Antwort zu finden. Lernen wir von Christus; trachten wir nach der Erkenntnis, die zu Frieden, Wahrheit und den erhabenen Geheimnissen der Ewigkeit führt.15
Schlussbemerkung
Brüder, ich denke an den elfjährigen Jungen in Frankfurt zurück, der sich um die Zukunft sorgte und schmerzhaft spürte, wie Beschimpfungen an ihm nagten. Die Erinnerung an jene Tage weckt in mir sowohl schmerzliche als auch gute Gefühle. Auch wenn ich diese schwere, sorgenvolle Zeit nicht unbedingt noch einmal erleben wollte, zweifle ich nicht daran, dass alles, was ich gelernt habe, notwendig war, um mich auf zukünftige Chancen vorzubereiten. Jetzt, viele Jahre später, weiß ich eines ganz sicher: Oft lernen wir gerade dann, wenn wir durch Widrigkeiten geprüft werden, die entscheidenden Lektionen des Lebens, die unseren Charakter formen und unser Schicksal prägen.
Ich bete darum, dass wir in den kommenden Monaten und Jahren unsere Stunden und Tage mit redlicher Arbeit ausfüllen können. Ich bete darum, dass wir danach trachten, zu lernen und unseren Verstand und unser Herz zu schulen, indem wir in tiefen Zügen aus der reinen Quelle der Wahrheit trinken. Sie liegen mir am Herzen und ich lasse Ihnen meinen Segen im Namen Jesu Christi. Amen.