Wenn dich jemand schikaniert
Ich musste mich ihr stellen, aber wie?
Wenn man zwölf Jahre alt ist, ist das Leben schwer genug. Man steckt zwischen Kindheit und Jugend und kämpft darum, zu wissen, wer man wirklich ist. Ich war mitten in diesem Kampf, als meine Eltern ankündigten, dass wir in einen kleinen Ort auf der anderen Seite des Hügels ziehen würden. Er lag nur ein paar Kilometer entfernt, aber für mich war es eine andere Welt.
Ich war in einer Vorstadt mit 30.000 Einwohnern aufgewachsen. Ich ging zu Fuß zur Schule. Der Spielplatz und das Jugendzentrum waren gleich um die Ecke. Und jeden Samstag ging ich ins Kino.
Unser neuer Wohnort war anders. Es war ein Landstädtchen mit 6.000 Einwohnern – und das sollte sich auch nicht ändern. Ich wohnte zweieinhalb Kilometer von der Schule entfernt und musste mit dem Bus fahren. Als Spielplatz hatte ich die nahegelegenen Wälder und Hügel. Ein Kinobesuch am Samstagnachmittag wurde zu einem seltenen Vergnügen.
Der Umzug selbst war nicht so schlimm. Ich war abenteuerlustig und erkundete gern Neues. Aber in der Schule gewöhnte ich mich nur schlecht ein. Die anderen Schüler waren alle miteinander aufgewachsen, und ich war der Außenseiter. Zu allem Übel konnte ich meine Gefühle nur schlecht verbergen und war ein leichtes Opfer für alle, die andere gern schikanierten.
Zu den Schlimmsten gehörte Tracy. Das Allerschlimmste daran war, dass Tracy ein Mädchen war.
Von Jungs war ich auch schon früher schikaniert worden. Entweder man stellte sich ihnen oder man lernte, ihnen aus dem Weg zu gehen. Aber Tracy schien einfach überall zu sein – auf dem Flur, beim Mittagessen, im Klassenzimmer. Sie konnte einen so beleidigen, dass man völlig am Boden war. Wenn ich sie nur sah, bekam ich schon Angst.
Da ich ihr offenbar nicht aus dem Weg gehen konnte, musste ich mich ihr stellen, aber ich wusste nicht, wie. Eine Ansprache, die ich in der Kirche hörte, änderte alles. Ich weiß nicht mehr, wer der Sprecher war, aber ich weiß noch, was er sagte. Er sprach darüber, wie man mit schwierigen Menschen umgehen soll. Er sagte: „Wenn man sie nicht besiegen kann, muss man versuchen, sie zu Tode zu lieben.“ Die Zuhörer lachten, aber ich dachte lange darüber nach. Endlich wusste ich, wie ich mit Tracy umgehen musste. Ich würde sie „mit Freundlichkeit erdrücken“.
Schon am nächsten Tag hielt ich Ausschau nach Tracy. Als ich sie sah, sagte ich: „Tracy, du siehst hübsch aus.“ Sie starrte mich entsetzt an und stammelte im Vorbeilaufen ein Danke. Ich blieb bei meiner Taktik. Jedes Mal, wenn ich sie sah, machte ich ihr ein Kompliment, ehe sie überhaupt etwas sagen konnte. Die Beleidigungen hörten auf, und ich hatte ein bisschen mehr Frieden.
Ein paar Monate später neigte sich das Schuljahr dem Ende zu. Zum Abschluss des Jahres fand während der Schulzeit in der Turnhalle ein Tanz statt. Ich ging hin, mir war aber nicht danach, irgendein Mädchen zum Tanzen aufzufordern. Ich hatte sowieso noch nie ein Mädchen aufgefordert. Doch dann kam ein Mädchen auf mich zu und forderte mich zum Tanzen auf.
Zu meiner großen Überraschung war es Tracy. Ich ging mit ihr auf die Tanzfläche. Als das Lied zu Ende war, bedankte ich mich, und wir trennten uns wieder.
Ich sah sie nie wieder. Sie zog im Sommer fort. Ich hoffe, dass sie in ihrer neuen Schule besser zurechtkommt als ich anfangs. Aber an diesem Tag wurde mir klar, dass mein Plan funktioniert hatte. Aus meiner Feindin war eine Freundin geworden.