2013
Der Geschichtenteppich
Juli 2013


Der Geschichtenteppich

Wer hätte gedacht, dass so viele Geschichten mit einem einzigen kleinen Teppich verknüpft sein könnten?

„Drum suchen wir heute nach all unseren Lieben, vergessen sie nicht mehr für alle Zeit.“ („Wahrheit von Elija“, Kleiner Liahona, Oktober 2001, Seite 10)

Katy hüpfte den Gehweg entlang auf die große Eiche an der Straßenecke zu. Durch den alten Baum war Omis Haus leicht zu finden.

Wie immer saß Omi im Wohnzimmer, flocht bunte Stoffstreifen und nähte sie zusammen. Es war ganz still. Auf dem polierten Holzboden in Omis Haus lagen farbenfrohe Flickenteppiche, die Omi selbst angefertigt hatte.

„Hallo Schatz“, sagte Omi, als Katy hereinkam. Schon bald unterhielten sie sich über die „alten Zeiten“, wie Omi sie nannte. Sie schauten gemeinsam Schwarz-Weiß-Fotos an. Katy sah sich vor allem gern die Kleidung und die Frisuren an, die ihre Verwandten früher getragen hatten.

„Damals war alles ganz anders“, sagte Omi seufzend. „Wir hatten weder Autos noch Fernseher noch Handys.“

Katy konnte sich gar nicht vorstellen, wie es war, überallhin zu Fuß zu gehen. „Was habt ihr denn nur so zum Spaß gemacht?“, wollte Katy wissen.

„Wir haben gern miteinander gesungen. Am Abend haben wir uns ums Klavier geschart und unsere Lieblingslieder gesungen. Manchmal haben wir uns heiser gesungen! Wir hatten immer viel Spaß dabei.“

Omi schaute abwesend in den Garten, als ob sie die Jahre zurückdrehen und sich alles noch einmal ansehen könne.

Katy setzte sich neben den aufgerollten Teppich, der von Omis Schoß bis auf den Boden reichte. Mit dem Finger fuhr sie die feinen Stiche nach.

„Ich hab da eine Idee“, sagte Omi bedächtig, „was hältst du davon, selbst einen Flickenteppich zu machen?“

Katy sprang auf und klatschte in die Hände.

„O ja, Omi! Können wir gleich heute anfangen?“

Omi lachte vergnügt in sich hinein. „Zuerst musst du etwas anderes machen. Geh nach Hause und such ein paar alte Kleidungsstücke zusammen, die wir in Streifen schneiden können.“

Zwinkernd beugte sie sich zu Katy hinüber und flüsterte, als ob sie ihr ein Geheimnis verrate:

„Deshalb ist der Flickenteppich etwas so Besonderes. Er besteht aus Kleidungsstücken und kann dir Geschichten aus deinem Leben erzählen. Jeder geflochtene Strang ist wie ein Kapitel in einem Buch über dich. Wenn man den Stoff eines alten Kleides betrachtet, erinnert man sich, wo man es getragen hat und was man damals gemacht hat.“

Katy machte große Augen. Sie zeigte auf den Teppich, den Omi gerade flocht.

„Erinnerst du dich an alle Stoffe in diesem Teppich?“

Omi lächelte. „Aber sicher! Der rote Streifen stammt von dem Kleid, das ich getragen habe, als du geboren wurdest. Ich weiß noch, wie ich mir an der Scheibe zur Kinderstation die Nase plattgedrückt habe, um dich genauer betrachten zu können. Du warst noch ganz runzlig und rosa.“

Katy und Omi lachten viel, als Omi weitere Geschichten erzählte, an die der Teppich sie erinnerte. Kaum war Katy wieder zu Hause, sortierte sie mit ihrer Mutti alte Kleidungsstücke aus, die sie verwenden konnte.

Am nächsten Tag trug Katy die Kleidungsstücke hinüber zu Omi. Omi zeigte Katy, wie man den Stoff in lange Streifen schnitt, ihn flocht und die geflochtenen Stränge zusammennähte.

Jeden Tag nach der Schule ging Katy zu Omi, um an ihrem Teppich zu arbeiten.

Nach und nach wurde er größer. Die Tage vergingen, und Katy kannte viele von Omis Geschichten schon auswendig. An manchen Tagen erzählte sie ganz viele Geschichten.

Eines Tages, nachdem sie einen blauen Strang angenäht hatte – das waren einmal ihre Lieblingsjeans gewesen –, strich Katy mit der Hand über den bunten Teppich.

„Meinst du nicht, dass der Teppich jetzt bald fertig ist?“, fragte Omi und schaute von ihrer Arbeit auf.

„Noch nicht“, sagte Katy lächelnd. Sie wollte ihre gemeinsame Zeit mit Omi noch länger genießen.

Illustration von G. Bjorn Thorkelson