Überzeugung und Mitgefühl
Nach einer Ansprache, die am 9. September 2012 bei einer CES-Andacht gehalten wurde. Den englischen Text dieser Ansprache mit dem Titel „Israel, Israel, God is Calling“ finden Sie in voller Länge unter cesdevotionals.lds.org.
Wie wir auf Menschen und Situationen reagieren, muss die ganze Bandbreite unserer religiösen Anschauung und unsere Verbundenheit zum Evangelium widerspiegeln.
Vor einiger Zeit wurde ich einmal eingeladen, in einem Pfahl zu den Alleinstehenden zu sprechen. Als ich durch die Hintertür ins Pfahlzentrum kam, betrat etwa zur gleichen Zeit eine junge Frau Anfang dreißig das Gebäude. Trotz der großen Menge, die sich auf die Kapelle zubewegte, fiel sie einem gleich ins Auge. Soweit ich mich erinnere, hatte sie mehrere Tätowierungen, eine Vielfalt von Ringen in Ohren und Nase, stachelige Haare in allerlei grellen Farben, der Rock war zu kurz, die Bluse zu tief ausgeschnitten.
War diese Frau jemand, der zu kämpfen hatte, kein Mitglied der Kirche? War sie unter der Führung des Herrn zu dieser Andacht geleitet – oder besser noch von jemandem mitgebracht – worden, um vielleicht durch das Evangelium den Frieden und die Anleitung zu finden, die sie brauchte? Oder gehörte sie der Kirche an, war aber ein wenig abgeirrt von den Hoffnungen und Grundsätzen, zu denen die Kirche ihre Mitglieder anhält, hielt aber dennoch – dem Himmel sei Dank – die Verbindung und hatte sich entschieden, an diesem Abend diese Veranstaltung der Kirche zu besuchen?
Wie immer man sich auch gegenüber so einer jungen Frau verhalten mag, es gilt unausweichlich die Regel, dass sich in all unserem Verhalten und Umgang miteinander die ganze Bandbreite unserer religiösen Anschauung und unsere Verbundenheit zum Evangelium widerspiegeln müssen. Daher muss unsere Reaktion in jeder Situation zu einer Verbesserung führen und darf nicht alles noch schlimmer machen. Wir dürfen nicht so handeln, nicht so reagieren, dass wir uns eines größeren Vergehens schuldig machen als beispielsweise diese Frau. Das bedeutet nicht, dass wir keinen Standpunkt, keine Grundsätze haben dürfen, dass wir irgendwie völlig außer Acht lassen, was Gott uns geboten oder verboten hat. Es bedeutet aber, dass wir auf rechtschaffene Weise nach diesen Grundsätzen leben und Gottes Gebote und Verbote nach besten Kräften verteidigen sollen, auf die Weise, wie der Erlöser diese Grundsätze gelebt und verteidigt hat. Er handelte immer so, wie er es sollte, um eine Verbesserung herbeizuführen – ob er nun die Wahrheit lehrte, dem Sünder vergab oder den Tempel reinigte. Es ist eine großartige Gabe, zu wissen, wie man bei all dem richtig vorgeht!
Bei unserer neuen Bekannten mit ihrem ungewöhnlichen Kleidungsstil und Aussehen beginnen wir also vor allem damit, dass wir uns bewusst machen, dass sie eine Tochter Gottes ist, von ewigem Wert. Wir machen uns zunächst einmal bewusst, dass sie auch hier auf der Erde jemandes Tochter ist und, unter anderen Umständen, genauso gut meine Tochter sein könnte. Wir sind zunächst einmal dankbar, dass sie zu dieser Veranstaltung der Kirche gekommen ist anstatt fortzubleiben. Kurz gesagt, wir sind bemüht, uns in dieser Situation von unserer besten Seite zu zeigen mit dem Wunsch, ihre beste Seite hervorzukehren. Wir beten im Stillen: Wie verhalte ich mich jetzt richtig? Was wären jetzt wohl die richtigen Worte? Was wird letztendlich diese Situation verbessern und für sie das Beste sein? Dass wir uns solche Fragen stellen und uns wirklich bemühen, so zu handeln, wie der Heiland es tun würde, hatte er wohl im Sinn, als er sagte: „Urteilt nicht nach dem Augenschein, sondern urteilt gerecht!“ (Johannes 7:24.)
Gleichzeitig erinnere ich uns aber auch daran, dass wir, wenn wir die Hand ausstrecken, um ein abgeirrtes Lamm auf den Weg zurückzuführen, auch den 99, die nicht abgeirrt sind, verpflichtet sind – sowie den Wünschen und dem Willen des Hirten. Es gibt eine Herde, und wir alle sollen dazugehören, einmal ganz abgesehen davon, welcher Schutz und welche Segnungen damit verbunden sind. Meine jungen Brüder und Schwestern, diese Kirche darf niemals Abstriche an ihrer Lehre machen, um dadurch mehr Wohlwollen zu wecken oder politisch opportun zu sein oder was für Gründe es sonst noch geben mag. Nur auf der höheren Ebene offenbarter Wahrheit finden wir genügend Halt, um jemanden aufzurichten, der sich bedrückt oder verlassen fühlt. Unser Mitgefühl und unsere Liebe – elementare Merkmale und Voraussetzungen für unser Christsein – dürfen niemals als Missachtung der Gebote gedeutet werden. Der wunderbare George MacDonald hat es einmal so ausgedrückt: In solchen Situationen „brauchen wir nicht alles zu sagen, was wir glauben, aber wir dürfen nicht einmal den Anschein erwecken, wir würden etwas tun, was unserem Glauben widerspricht“1.
Wann müssen wir etwas beurteilen?
In diesem Zusammenhang kommt es gelegentlich zu einem Missverständnis, vor allem bei jungen Menschen, die womöglich meinen, man solle über gar nichts urteilen, man dürfe nie etwas in irgendeiner Form bewerten. Hier müssen wir einander helfen, denn der Erlöser macht deutlich, dass wir in manchen Situationen urteilen müssen, ja, dazu verpflichtet sind. Er sagt beispielsweise: „Gebt das Heilige nicht den Hunden, und werft eure Perlen nicht den Schweinen vor.“ (Matthäus 7:6.) Das klingt für mich nach einem Urteil. Die unannehmbare Alternative wäre, sich dem postmodernen moralischen Relativismus zu beugen, der, auf die Spitze getrieben, verkündet, dass letztlich nichts auf ewig wahr oder besonders heilig sei und daher kein Standpunkt in irgendeiner Frage mehr Bedeutung habe als ein anderer. Im Evangelium Jesu Christi trifft dies schlicht nicht zu.
Bei unserer Bewertung sollen wir andere nicht verurteilen, aber wir müssen jeden Tag Entscheidungen treffen, die eine Beurteilung erfordern, hoffentlich mit gutem Urteilsvermögen. Elder Dallin H. Oaks vom Kollegium der Zwölf Apostel hat diese Entscheidungen einmal als „vorläufiges Urteil“ bezeichnet, das wir oft zu unserem Schutz und zum Schutz anderer treffen müssen, im Gegensatz zu dem von ihm so genannten „endgültigen Urteil“, das nur Gott fällen kann, der alle Fakten kennt.2 (Denken wir daran, dass der Erretter uns in der zuvor zitierten Schriftstelle auffordert, gerecht zu urteilen und nicht etwa selbstgerecht. Hierin liegt ein großer Unterschied.)
Beispielsweise würde niemand Eltern dafür kritisieren, dass sie ein Kind davon abhalten, auf eine verkehrsreiche Straße zu laufen. Wieso sollte man also Eltern dafür kritisieren, dass sie sich darum Gedanken machen, wann ihre Kinder, wenn sie ein wenig älter sind, abends nach Hause kommen, ab wann sie mit jemandem ausgehen oder ob sie mit Drogen oder Pornografie herumexperimentieren oder sich auf sexuelle Übertretungen einlassen? Nein, wir treffen stets Entscheidungen und beziehen Stellung und bekräftigen unsere Werte, kurz, wir treffen ein „vorläufiges Urteil“ – zumindest sollten wir dies tun.
„Haben andere nicht ihre Entscheidungsfreiheit?“
Junge Menschen fragen sich vielleicht, ob denn dieser Standpunkt oder jene Richtlinie der Kirche wirklich für alle Menschen gilt. Sie sagen: „Wir wissen ja, wie wir uns verhalten sollen, aber warum müssen wir andere dazu bringen, unsere Grundsätze anzunehmen? Haben sie nicht ihre Entscheidungsfreiheit? Sind wir nicht selbstgerecht und voreingenommen, zwingen wir nicht anderen unsere Ansichten auf, wenn wir verlangen, dass sie sich, wie wir, in einer bestimmten Weise verhalten?“ In diesem Fall wird man einfühlsam erklären müssen, warum manche Grundsätze verteidigt werden und man sich manchen Sünden entgegenstellt, wo sie auch auftreten, nämlich bei Fragen und Gesetzen, die nicht nur gesellschaftliche oder politische Folgen nach sich ziehen, sondern sich auf die Ewigkeit auswirken. Und obwohl wir niemanden beleidigen wollen, der anderer Ansicht ist als wir, liegt uns noch mehr daran, Gott nicht zu beleidigen.
Vergleichen wir es einmal mit einem Jugendlichen, der sagt: „Jetzt darf ich Auto fahren, und ich weiß, dass ich bei Rot anhalten soll, müssen wir aber wirklich über andere richten und versuchen, sie alle dazu zu bringen, an der roten Ampel anzuhalten?“ Man wird dann wohl erklären müssen, warum – ja, wir hoffen natürlich, dass alle bei Rot anhalten. Und man muss das erklären, ohne abschätzig über diejenigen zu reden, die das Gesetz übertreten oder andere Ansichten haben, weil sie natürlich ihre Entscheidungsfreiheit haben. Aber zweifelt nie daran, dass Gefahr droht, wenn manche sich dafür entscheiden, nicht zu gehorchen.
Meine jungen Freunde, es gibt heute in der Welt die unterschiedlichsten Ansichten und jeder besitzt sittliche Entscheidungsfreiheit, aber niemand hat das Recht, so zu handeln, als hätte Gott zu diesen Themen nichts zu sagen oder als ob Gebote nur von Belang wären, wenn sich alle darüber einig sind.
Ich kenne keine wichtigere Fähigkeit, keine größere Redlichkeit, als uns auf diesem schmalen Grat zu bewegen: unseren moralischen Standpunkt gemäß Gottes Wort und Gesetz zu vertreten, dies aber mitfühlend, verständnisvoll und mit viel Nächstenliebe zu tun. Das ist gewiss etwas sehr Schwieriges: richtig zu unterscheiden zwischen der Sünde und dem Sünder! Hier zu trennen ist wohl mit am schwersten – und manchmal noch schwerer, es in Worte zu fassen –, trotzdem müssen wir liebevoll versuchen, genau dies zu tun.