Wie ein zerbrochenes Gefäß
Was ist die beste Reaktion, wenn man selbst oder ein nahestehender Mensch an einer psychischen oder emotionalen Störung leidet?
Der Apostel Petrus schreibt, dass alle Nachfolger Jesu Christi „voll Mitgefühl“1 sein sollen. In diesem Sinne möchte ich zu denen sprechen, die an irgendeiner Form einer psychischen Erkrankung oder seelischen Störung leiden, ob diese geringfügig oder stark ausgeprägt, von kurzer Dauer oder chronisch ist. Wie vielschichtig dieses Thema ist, spürt man, wenn man Fachleute von Neurosen und Psychosen, von genetischer Prädisposition, Chromosomdefekten, bipolaren Störungen, Paranoia und Schizophrenie reden hört. So verwirrend dies alles auch sein mag, gehören diese Leiden jedoch zu den Realitäten des irdischen Lebens, und man sollte sich nicht scheuen, offen zu sagen, dass man darunter leidet, so wie man es ja auch bei Problemen mit Bluthochdruck tun würde oder wenn plötzlich ein bösartiger Tumor entdeckt worden wäre.
Bei unserem Streben nach ein wenig Ruhe und Verständnis in diesen schwierigen Fragen dürfen wir auf keinen Fall vergessen, dass wir in einer gefallenen Welt leben – und leben wollten –, wo unser Bemühen um Frömmigkeit mit göttlicher Absicht immer wieder auf die Probe gestellt wird. Unsere Vertrauen in Gottes Plan beruht vor allem darauf, dass uns ein Erretter verheißen wurde – ein Erlöser, der uns durch unseren Glauben an ihn emporhebt und uns über all diese Prüfungen und Schwierigkeiten triumphieren lässt, auch wenn der Preis dafür sowohl für den Vater, der ihn sandte, als auch für den Sohn, der kam, unermesslich hoch war. Nur wenn wir die Liebe Gottes dankbar annehmen, wird unser eigenes, geringeres Leid erst erträglich, dann verständlich und schließlich erlösend.
Ich möchte auf all diese speziellen Krankheiten, die ich erwähnt habe, nicht näher eingehen, sondern mich stattdessen mit dem befassen, was man gemeinhin als Depression bezeichnet. Dabei geht es mir nicht darum, dass man einen schlechten Tag hat, seine Steuererklärung abgeben muss oder aus sonstigen Gründen die Lust verliert, wie das bei jedem einmal vorkommt. Jeder macht sich ab und zu mal Sorgen oder ist niedergeschlagen. Im Buch Mormon steht, dass Ammon und seine Brüder in einer sehr schweren Zeit niedergeschlagen waren,2 und so kann es auch uns ergehen. Heute spreche ich aber über etwas Schwerwiegenderes, über ein Leiden, das so schlimm ist, dass die Leistungsfähigkeit des Betroffenen erheblich eingeschränkt ist; einen Abgrund in der Gemütsverfassung, der so tief ist, dass niemand ernsthaft behaupten kann, er würde sich schon schließen, wenn das Opfer sich nur zusammenreißen und positiver denken würde – obwohl ich ja sonst sehr für das Zusammenreißen und positives Denken bin!
Nein, diese finstere Umnachtung von Geist und Gemüt ist mehr als nur Mutlosigkeit. Ich habe sie bei einem herzensguten Mann beobachtet, als nach 50-jähriger Ehe seine liebe Frau verstarb. Ich habe sie bei jungen Müttern beobachtet, die in die sogenannte Wochenbettdepression verfielen. Ich habe gesehen, wie strebsame Schüler, Kriegsveteranen und Großmütter, die sich um das Wohl ihrer erwachsenen Kinder sorgten, davon heimgesucht wurden.
Und ich habe sie bei jungen Vätern beobachtet, die sich Mühe gaben, ihre Familie zu versorgen. Was Letzteres betrifft, habe ich sie erschreckenderweise auch einmal an mir selbst erlebt. In unserer Ehe gab es eine Zeit, als finanzielle Ängste und extreme Müdigkeit aufeinandertrafen und mir psychisch einen Schlag versetzten, der ebenso unerwartet wie real war. Dank Gottes Gnade und der Liebe meiner Familie hielt ich mich aufrecht und machte weiter, aber selbst heute, nach vielen Jahren, empfinde ich immer noch tiefes Mitgefühl für alle, die regelmäßig oder noch tiefgreifender als ich damals von einer solchen Schwermut erfasst werden. Auf jeden Fall macht uns das Beispiel derer Mut, die – wie der Prophet Joseph Smith es ausgedrückt hat – „den finsteren Abgrund erforsch[t] und betrachte[t]“3 und ausgehalten haben. Dazu zählen selbst Menschen wie Abraham Lincoln, Winston Churchill oder Elder George Albert Smith, einer der liebenswürdigsten und christlichsten Menschen unserer Evangeliumszeit, der über Jahre hinweg gegen wiederkehrende Depressionen ankämpfte, ehe er später der allseits beliebte achte Prophet und Präsident der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage wurde.
Was ist also die beste Reaktion, wenn man selbst oder ein nahestehender Mensch an einer psychischen oder emotionalen Störung leidet? Vor allem darf man niemals den Glauben an unseren Vater im Himmel verlieren, der uns mehr liebt, als wir zu erfassen vermögen. Wie sagte Präsident Monson den Schwestern in der FHV am letzten Samstagabend so bewegend? „Diese Liebe wird nie vergehen. … Sie ist für Sie da, wenn Sie traurig oder glücklich sind, ohne Mut oder voller Hoffnung. Die Liebe Gottes ist für Sie da, ob Sie diese Liebe nun zu verdienen meinen oder nicht. Sie ist ganz einfach immer vorhanden.“4 Stellen Sie das niemals in Zweifel, und lassen Sie niemals Ihr Herz verhärten. Gehen Sie treu den bewährten Formen der Gottesverehrung nach, die Ihnen den Geist des Herrn einbringen. Suchen Sie Rat bei denen, die Schlüssel für Ihr geistiges Wohlergehen innehaben. Bitten Sie um Priestertumssegen und halten Sie diese in Ehren. Nehmen Sie jede Woche vom Abendmahl und halten Sie an den vollkommen machenden Verheißungen aus dem Sühnopfer Jesu Christi fest. Glauben Sie an Wunder. Vielfach ereignen sie sich, wie ich gesehen habe, wenn alle übrigen Anzeichen darauf hindeuten, dass jede Hoffnung verloren ist. Doch die Hoffnung ist niemals verloren. Wenn ein solches Wunder sich nicht gleich einstellt oder nur unvollständig oder anscheinend gar nicht, denken Sie an das beklemmende Beispiel des Erretters: Sollte der bittere Kelch nicht vorübergehen, trinken Sie ihn aus und seien Sie stark. Vertrauen Sie darauf, dass glücklichere Tage kommen werden.5
Um einer Erkrankung tunlichst vorzubeugen, achten Sie auf Anzeichen von Stress bei sich selbst und bei anderen, denen Sie vielleicht helfen können. Passen Sie wie bei Ihrem Auto auf, dass Sie nicht überhitzen, die Geschwindigkeit nicht überschreiten und dass der Treibstoff nicht ausgeht. Wenn Sie vor Erschöpfung auf eine Depression zusteuern, nehmen Sie die notwendigen Veränderungen vor. Erschöpfung ist unser aller Feind – also machen Sie langsamer, ruhen Sie sich aus, tanken Sie wieder auf. Ärzte versichern uns: Wer sich keine Zeit nimmt, gesund zu bleiben, wird später ziemlich sicher seine Zeit damit zubringen, krank zu sein.
Wenn sich alles weiter verschlimmert, suchen Sie Rat bei anerkannten Fachleuten mit entsprechender Ausbildung, hohem Können und positiven Wertvorstellungen. Erzählen Sie ihnen offen und ehrlich, wie es Ihnen ergangen ist und was Ihnen Probleme bereitet. Überdenken Sie gebeterfüllt und verantwortungsbewusst, was Ihnen geraten und welche Lösung Ihnen empfohlen wird. Hätten Sie eine Blinddarmentzündung, würde Gott von Ihnen erwarten, dass Sie um einen Priestertumssegen bitten und die bestmögliche medizinische Versorgung in Anspruch nehmen. Das Gleiche gilt für seelische Störungen. Unser Vater im Himmel erwartet von uns, dass wir uns alle wunderbaren Gaben zunutze machen, die er uns in dieser herrlichen Evangeliumszeit gegeben hat.
Ob Sie nun selbst betroffen sind oder einen Betroffenen betreuen: Versuchen Sie, sich von der Größe Ihrer Aufgabe nicht niederdrücken zu lassen. Bilden Sie sich nicht ein, Sie könnten alles in Ordnung bringen, aber machen Sie alles, was möglich ist. Wenn sich nur geringe Erfolge einstellen, seien Sie dafür dankbar und bleiben Sie geduldig. Dutzende Male gebietet der Herr in den heiligen Schriften jemandem, „still“ zu werden, „ruhig“ zu sein – und abzuwarten.6 Manches geduldig zu ertragen ist Teil unserer irdischen Ausbildung.
Denjenigen, die jemanden betreuen, sage ich: Ruinieren Sie in dem eifrigen Bestreben, die Gesundheit eines anderen zu fördern, nicht Ihre eigene. Seien Sie in allem weise. Laufen Sie nicht schneller, als Sie Kraft haben.7 Was Sie auch sonst noch geben können oder nicht – Sie können auf jeden Fall beten und ungeheuchelte Liebe8 aufbringen. „Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. … Sie erträgt alles, … hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf.“9
Wir wollen auch daran denken, dass das Leben trotz aller Krankheiten und schwierigen Probleme immer noch vieles zu bieten hat, worauf wir hoffen und wofür wir dankbar sein können. Was uns ausmacht, ist unendlich viel mehr als unsere Beschränkungen und unsere Bedrängnisse! Mit Stephanie Clark Nielson und ihrer Familie sind wir seit über 30 Jahren befreundet. Am 16. August 2008 stürzten Stephanie und ihr Mann Christian mit dem Flugzeug ab. Durch das Feuer, das danach ausbrach, wurde sie so schwer entstellt, dass ihre Angehörigen sie bei der Identifizierung der Opfer nur noch an den lackierten Zehennägeln erkennen konnten. Stephanie hatte fast keine Überlebenschance. Nach drei Monaten im künstlichen Koma wachte sie auf und betrachtete sich. Eine fürchterliche Depression setzte ein, die ihrer Seele tiefe Narben schlug. Stephanie hatte vier Kinder unter sieben Jahren und wollte von diesen nie wieder gesehen werden. Sie hielt es für besser, nicht weiterzuleben. „Ich dachte, es wäre einfacher“, erzählte Stephanie mir einmal in meinem Büro, „wenn sie mich einfach vergäßen und ich still und leise aus ihrem Leben entwiche.“
Begleitet von Gebeten ihres Mannes, ihrer Angehörigen und Freunde und ihrer vier hübschen Kinder und nach der Geburt eines fünften Kindes, vor gerade einmal 18 Monaten, erkämpfte sich Stephanie – und das ist ihr in Ewigkeit hoch anzurechnen – dennoch ihren Weg zurück aus dem Abgrund der Selbstzerstörung und wurde eine der beliebtesten „Bloggermuttis“ des Landes. Offen erklärte sie vier Millionen, die ihren Blog-Eintrag verfolgen, dass der „göttliche Zweck“ ihres Lebens darin bestehe, Mutter zu sein und jeden Tag zu preisen, der ihr auf dieser schönen Erde geschenkt wurde.
Meine Brüder und Schwestern, womit Sie sich auch herumplagen mögen – geistig, seelisch, körperlich oder anderweitig –, stellen Sie sich nicht gegen das kostbare Gut Leben, indem Sie es beenden! Vertrauen Sie auf Gott. Halten Sie an seiner Liebe fest. Bedenken Sie, dass eines Tages ein strahlender Morgen anbricht und alle Schatten des Erdenlebens sich verflüchtigen. Auch wenn wir uns „wie ein zerbrochenes Gefäß“10 fühlen mögen, wie der Psalmist es ausdrückte, dürfen wir nicht vergessen, dass sich dieses Gefäß in den Händen eines göttlichen Töpfers befindet. Eine gebrochene Psyche kann genauso heilen wie gebrochene Knochen oder ein gebrochenes Herz. Während Gott mit diesen Reparaturen beschäftigt ist, können wir Übrigen Hilfe leisten, indem wir nicht urteilen, sondern mitfühlend und gütig sind.
Ich gebe Zeugnis von der heiligen Auferstehung, diesem unfassbaren Geschenk, das ein Grundpfeiler im Sühnopfer des Herrn Jesus Christus ist! Mit dem Apostel Paulus bezeuge ich: „Was gesät wird, ist verweslich, was auferweckt wird, unverweslich. … Was gesät wird, ist schwach, was auferweckt wird, ist stark.“11 Ich gebe Zeugnis, dass unsere Lieben, die im irdischen Leben Gebrechen hatten, dereinst verherrlicht und strahlend schön vor uns stehen werden, atemberaubend vollkommen an Körper und Geist. Das wird ein ergreifender Augenblick sein! Ich weiß nicht, was uns glücklicher machen wird – dass wir Zeuge eines solchen Wunders sein oder dass sie nun in jeder Hinsicht vollkommen und endlich frei12 sein werden. Mögen wir bis zu jener Stunde, da das größte Geschenk Jesu uns allen offenbar wird, aus dem Glauben heraus leben, an der Hoffnung festhalten und füreinander „voll Mitgefühl“13 sein. Darum bete ich im Namen Jesu Christi. Amen.