2016
„Ich war fremd‘
Mai 2016


„Ich war fremd“

Überlegen Sie sich gebeterfüllt, wie Sie im Rahmen Ihrer zeitlichen und sonstigen Möglichkeiten die Flüchtlinge in Ihrer Gegend unterstützen können.

Am Gründungstag der Frauenhilfsvereinigung erklärte Emma Smith: „Wir werden Außergewöhnliches leisten. … Wir erwarten außergewöhnliche Ereignisse, und unsere Hilfe wird dringend gebraucht.“1 Dringend benötigte Hilfe und außergewöhnliche Ereignisse – damals wie heute kommt so etwas immer wieder vor.

Einen solchen Anlass gab es etwa, als die Handkarrenpioniere, wie Präsident Brigham Young auf der Herbst-Generalkonferenz 1856 bekanntgab, immer noch unterwegs waren und in der Zeit zurücklagen. Er sagte: „Euer Glaube, eure Religion und euer Glaubensbekenntnis [werden] nicht einen Einzigen von euch im celestialen Reich unseres Gottes erretten …, wenn ihr nicht genau die Grundsätze verwirklicht, die ich euch jetzt lehre. Geht und bringt die Leute her, die jetzt noch da draußen auf der Prärie sind, und haltet euch strikt an das, was wir zeitlich … nennen, andernfalls wird euer Glaube vergebens sein.“2

Unsere große Bewunderung gilt den Männern, die sich gleich auf den Weg machten, um die leidgeprüften Heiligen in Sicherheit zu bringen. Aber was machten damals eigentlich die Schwestern?

„Schwester [Lucy Meserve] Smith berichtete …, dass die Anwesenden nach Präsident Youngs Aufruf gleich zur Tat schritten. … Frauen ‚zogen sich gleich im Tabernakel den wärmenden Unterrock und die Strümpfe aus und legten alles, was sie entbehren konnten, in die Wagen, um es den Heiligen in den Bergen zu schicken‘.“3

Als Retter und Handkarrenpioniere sich Wochen später schon Salt Lake City näherten, berief Präsident Brigham Young wiederum eine Versammlung im Tabernakel ein. Eindringlichst bat er die Mitglieder, besonders die Schwestern, sich der Schwergeprüften anzunehmen, ihnen zu essen zu geben und sie bei sich aufzunehmen: „Ihr werdet feststellen, dass manchen die Füße bis zum Knöchel erfroren sind; anderen sind die Beine bis zum Knie erfroren und wieder anderen sind die Hände erfroren. … Wir möchten, dass ihr sie so aufnehmt, als seien sie eure eigenen Kinder, und dass ihr ihnen die gleiche Zuneigung entgegenbringt.“4

Lucy Meserve Smith schreibt weiter:

„Wir taten, was wir konnten – unterstützt von guten Brüdern und Schwestern –, um den Bedürftigen beizustehen. … Ihre Hände und Füße hatten schlimme Erfrierungen. … Wir ließen in unseren Anstrengungen nicht nach, bis alle versorgt waren. …

Nie hat mir eine Arbeit mehr Zufriedenheit, ja, Freude geschenkt, denn es herrschte eine solche Einmütigkeit. …

Was gibt es für willige Hände als Nächstes zu tun?“5

Meine lieben Schwestern, diese Schilderung lässt sich auch auf heutige Verhältnisse übertragen und auf diejenigen beziehen, die in unserer Zeit überall auf der Welt leiden, denn ein neues „außergewöhnliches Ereignis“ berührt uns.

Zelte in einem Flüchtlingslager
Kinder in einem Flüchtlingslager
Frau in einem Flüchtlingslager
Familie in einem Flüchtlingslager
Ein von Kindern umringter Helfer in einem Flüchtlingslager
Eine Flüchtlingsfamilie wird willkommen geheißen
Ein Helfer umarmt einen Flüchtling

Weltweit gibt es mehr als 60 Millionen Flüchtlinge. Dazu zählen auch diejenigen, die gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Die Hälfte davon sind Kinder.6 „Diese Menschen haben enorme Schwierigkeiten durchgemacht und beginnen in einem neuen Land und einer neuen Kultur ganz von vorne. Zwar gibt es [mitunter] eine Organisation, die ihnen zur Seite steht und für Unterkunft und das Lebensnotwendigste sorgt, doch was sie eigentlich brauchen, ist ein Freund, der für sie da ist und ihnen hilft, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden; jemand, der ihnen hilft, die Sprache zu erlernen und die Lebensweise zu begreifen – jemand, mit dem sie sich verbunden fühlen.“7

Yvette Bugingo

Letzten Sommer lernte ich Schwester Yvette Bugingo kennen, die mit 11 Jahren in einem vom Krieg zerrissenen Teil der Welt von einem Ort zum anderen floh, nachdem ihr Vater ermordet worden war und drei ihrer Brüder als verschollen galten. Yvette und der Rest der Familie hielten sich schließlich sechseinhalb Jahre lang als Flüchtlinge in einem Nachbarland auf, bis sie endlich ein neues Zuhause fanden. Sie hatten das Glück, dass sich ein Ehepaar um sie kümmerte, sie mit dem Auto umherfuhr und mit der Schule und mit anderen Sachen half. Dieses Ehepaar war, wie sie sagt, „im Grunde genommen die Antwort auf unsere Gebete“8. Ihre Mutter und ihre hübsche kleine Schwester singen heute Abend hier im Chor. Seit ich diese bemerkenswerten Frauen kennengelernt habe, frage ich mich des Öfteren: „Was wäre, wenn ihre Geschichte denn meine Geschichte wäre?“

Wir Schwestern machen mehr als die Hälfte des Vorratshauses des Herrn aus, mit dem den Kindern des himmlischen Vaters geholfen werden soll. Sein Vorratshaus besteht nicht allein aus Waren, sondern auch aus Zeit, Talenten, Fähigkeiten und unserem göttlichen Wesen. Schwester Rosemary M. Wixom hat gesagt: „Das göttliche Wesen in uns entfacht in uns den Wunsch, uns anderen zuzuwenden. Es veranlasst uns zum Handeln.“9

Präsident Russell M. Nelson ging auf dieses göttliche Wesen der Frauen ein und sagte:

„Wir brauchen Frauen, … die wissen, wie sie durch ihren Glauben Wichtiges zuwege bringen, und die in einer an Sünde erkrankten Welt mutig für Sittlichkeit und die Familie eintreten …, Frauen, die wissen, wie man zum Schutz und zur Stärkung der Kinder und der Familie die Mächte des Himmels herabruft. …

Ob Sie nun verheiratet oder alleinstehend sind, Sie als Schwestern besitzen ganz bestimmte Fähigkeiten und eine besondere Intuition, die Ihnen von Gott verliehen worden sind. Wir Brüder können Ihren einzigartigen Einfluss nicht nachahmen.“10

Ein Schreiben der Ersten Präsidentschaft vom 27. Oktober 2015 bringt die große Anteilnahme und das große Mitgefühl für die Millionen von Menschen zum Ausdruck, die auf der Flucht vor Bürgerkrieg oder sonstigen Bedrängnissen ihr Zuhause verlassen haben. Die Erste Präsidentschaft ersucht jeden Einzelnen und die Familien und die Einheiten der Kirche, sich an Ort und Stelle in christlicher Weise an Dienstprojekten für Flüchtlinge zu beteiligen und dem Fonds der Kirche für humanitäre Hilfe Spenden zukommen zu lassen, sofern dies möglich ist.

Die Präsidentschaften der Frauenhilfsvereinigung, der Jungen Damen und der Primarvereinigung haben sich Gedanken darüber gemacht, wie wir dieser Aufforderung der Ersten Präsidentschaft nachkommen können. Wir wissen, dass Sie, liebe Schwestern aller Altersgruppen, aus allen erdenklichen Gesellschaftsschichten und unterschiedlichen Verhältnissen kommen. Jedes Mitglied dieser weltweiten Schwesternschaft der Heiligen hat bei der Taufe versprochen, „diejenigen zu trösten, die des Trostes bedürfen“11. Wir müssen dennoch bedenken, dass keine von uns schneller laufen soll, als sie Kraft hat.12

Angesichts dieser Gegebenheiten haben wir die Hilfsaktion „Ich war fremd“ ins Leben gerufen. Wir hoffen, dass Sie sich gebeterfüllt überlegen, wie Sie im Rahmen Ihrer zeitlichen und sonstigen Möglichkeiten die Flüchtlinge in Ihrer Gegend unterstützen können. Dadurch können wir jemandem als Einzelne Gutes tun, als Familie und als Organisation. Wir können Freundschaft, Betreuung und weitere christliche Hilfeleistungen anbieten. Dies ist eine von vielen Möglichkeiten, wie Schwestern dienen können.

Bei all unseren gebeterfüllten Bemühungen sollten wir uns aber an den weisen Rat König Benjamins halten, den er gab, nachdem er sein Volk dazu aufgerufen hatte, sich derer anzunehmen, die Hilfe brauchen: „Seht zu, dass dies alles in Weisheit und Ordnung geschieht.“13

Schwestern, wir wissen, dass es dem Herrn etwas bedeutet, wenn wir uns anderen liebevoll zuwenden. Beachten Sie diese Ermahnungen aus den heiligen Schriften:

„Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst.“14

„Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.“15

Und der Heiland selbst sagt:

„Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen;

ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht.“16

Das Opfer der Witwe

Die Witwe, die nur zwei kleine Münzen geben konnte, wurde vom Erretter gelobt, weil sie tat, was ihr eben möglich war.17 Der Herr erzählte auch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter und schloss mit der Aussage: „Dann geh und handle genauso!“18 Manchmal ist es nicht gerade bequem, sich anderen zuzuwenden. Wenn wir jedoch einmütig in Liebe zusammenarbeiten, dürfen wir Hilfe vom Himmel erwarten.

Bei der Beerdigung einer bemerkenswerten Tochter Gottes erzählte jemand, dass diese Schwester in den Neunzigerjahren als Pfahl-FHV-Leiterin zusammen mit anderen aus dem Pfahl Decken für die Bedürftigen im Kosovo gespendet hatte. Wie der barmherzige Samariter bog sie von ihrem Weg ab, um mehr zu tun. Sie fuhr mit ihrer Tochter mit einem mit Decken beladenen LKW von London ins Kosovo. Auf der Heimfahrt empfing sie eine unmissverständliche geistige Eingebung, die ihr tief ins Herz drang. Sie lautete: „Du hast da etwas sehr Gutes getan. Nun fahr nach Hause, schau dich in der Straße um, wo du wohnst, und diene dort deinem Nächsten!“19

Bei der Beerdigung wurde so manches erzählt, was inspirierend war und bewies, wie diese gläubige Frau innerhalb ihres Einflussbereichs sowohl außergewöhnliche Ereignisse und dringend benötigte Hilfeleistungen erkannte und darauf reagierte – ebenso wie auch die ganz alltäglichen Anlässe. So öffnete sie zum Beispiel ihr Herz und ihr Zuhause zu jeder Tages- und Nachtzeit für junge Leute, die in Schwierigkeiten steckten.

Meine lieben Schwestern, wir können sicher sein, dass der Vater im Himmel uns zur Seite steht, wenn wir uns niederknien und seine Führung erbitten, um seinen Kindern Gutes tun zu können. Der Vater im Himmel, unser Erretter Jesus Christus und der Heilige Geist stehen bereit, uns zu helfen.

Präsident Henry B. Eyring gab den Frauen der Kirche dieses machtvolle Zeugnis:

„Der Vater im Himmel hört und erhört Ihre glaubensvollen Gebete um Führung und Hilfe, damit Sie in Ihrem Dienst ausharren können.

Der Heilige Geist wird Ihnen und denen gesandt, für die Sie von ganzem Herzen sorgen. Sie werden gestärkt, aber auch inspiriert werden, sodass Sie wissen, in welchen Grenzen und in welchem Umfang Sie helfen können. Der Geist wird Sie trösten, wenn Sie sich fragen: ‚Habe ich genug getan?‘“20

Und wenn wir darüber nachdenken, wer dringend unsere Hilfe benötigt, dann fragen wir uns am besten doch: „Was wäre, wenn ihre Geschichte denn meine Geschichte wäre?“ Mögen wir nach Inspiration streben, nach den Eingebungen handeln, die wir empfangen, und uns einmütig denen zuwenden, die in Not sind – so, wie wir dazu imstande sind und dazu inspiriert werden. Vielleicht wird dann einmal über uns das gesagt, was der Heiland über eine liebevolle Schwester gesagt hat, die ihm Gutes getan hatte: „Sie hat ein gutes Werk [getan.] Sie hat getan, was sie konnte.“21 Das nenne ich außergewöhnlich! Im Namen Jesu Christi. Amen.

Anmerkungen

  1. Emma Smith, zitiert in Die Töchter in meinem Reich: Die Geschichte und das Werk der Frauenhilfsvereinigung, 2011, Seite 16

  2. Brigham Young, zitiert in Die Töchter in meinem Reich, Seite 41

  3. Die Töchter in meinem Reich, Seite 41f.

  4. Siehe Brigham Young, zitiert von James E. Faust in: „Geht und holt sie von der Prärie“, Der Stern, November 1997, Seite 7; siehe auch LeRoy R. und Ann W. Hafen, Handcarts to Zion: The Story of a Unique Western Migration 1856–1860, 1960, Seite 139

  5. Lucy Meserve Smith in Jill Mulvay Derr et al., Hg., The First Fifty Years of Relief Society: Key Documents in Latter-day Saint Women’s History, 2016, Seite 217f.; siehe auch Die Töchter in meinem Reich, Seite 42

  6. Siehe „Facts and Figures about Refugees“, unhcr.org.uk/about-us/key-facts-and-figures.html

  7. „40 Ways to Help Refugees in Your Community“, 9. September 2015, mormonchannel.org

  8. E-Mail von Yvette Bugingo vom 12. März 2016

  9. Rosemary M. Wixom, „Wir müssen das Göttliche in uns entdecken“, Liahona, November 2015, Seite 8. Emily Woodmansee, die der 1856 geretteten Handkarrenabteilung Willie angehörte, beschreibt das göttliche Wesen wie folgt (mit einer geringfügigen Änderung meinerseits):

    Wir folgen dem Heiland mit willigem Herzen,

    in Liebe und Demut ging er uns voran.

    Wo immer wir stehen, [da dienen wir christlich]

    und helfen und lieben, wie er es getan. (Siehe „Als Schwestern in Zion“, Gesangbuch, Nr. 207.)

  10. Russell M. Nelson, „Eine Bitte an meine Schwestern“, Liahona, November 2015, Seite 96f.

  11. Mosia 18:9

  12. Siehe Mosia 4:27

  13. Mosia 4:27

  14. Levitikus 19:34

  15. Hebräer 13:2

  16. Matthäus 25:35,36

  17. Siehe Lukas 21:1-4

  18. Lukas 10:37

  19. Trauergottesdienst für Rosemary Curtis Neider im Januar 2015

  20. Henry B. Eyring, „Der Sorgende“, Liahona, November 2012, Seite 12

  21. Markus 14:6,8