Klassiker des Evangeliums
Der Gottesdienst im Tempel: Der Schlüssel zur Gotteserkenntnis
Nach einer Ansprache, die im Februar 1993 an der Brigham-Young-Universität gehalten wurde. Der englische Text ist in voller Länge in dem Buch Temples of the Ancient World, Hg. Donald W. Parry, 1994, abgedruckt.
Im Tempel lernen wir, so zu leben, wie Christus auf der Erde gelebt hat, und uns darauf vorzubereiten, so zu leben, wie er und der Vater jetzt leben.
Ich erinnere mich gut an eines der ersten eingehenden und ernsten Gespräche, das ich nach Antritt meines Dienstes als Präsident des Salt-Lake-Tempels mit einer Tempelbesucherin führte. Die sehr nachdenkliche junge Frau hatte in den heiligen Schriften die Verse über den Zweck des Tempels – dass es ein Haus des Lernens und der Unterweisung ist – gelesen. Ihr war bewusst, dass Gott und Christus zu erkennen, nämlich „den einzig wahren Gott … und Jesus Christus, den du gesandt hast“, „das ewige Leben“ ist (Johannes 17:3). Sie wusste auch, dass wir den Vater durch Christus kennenlernen und dass wir durch Christus schließlich zu ihm zurückkehren.
Ich gab ihr Zeugnis, dass meiner Meinung nach alles im Tempel letztlich auf Christus und den Vater hindeutet. Nur durch die sühnende Liebe Christi und die von ihm übertragene Vollmacht – die Vollmacht des „Heilige[n] Priestertum[s] nach der Ordnung des Sohnes Gottes“ (LuB 107:3) – können die Verordnungen und Bündnisse wirksam werden. Der jungen Frau war aber der klare Zusammenhang noch nicht bewusst: inwiefern der Gottesdienst im Tempel ein wichtiger Schlüssel dazu ist, den Herrn zu erkennen. …
Christus, die heiligen Schriften, der Tempel, das Zuhause
Der Tempel ist von größter Bedeutung. Er schafft die Umgebung, in der wir uns reinigen und damit heiligen können, wodurch wir, während wir mehr über Christus erfahren, zu einer Erkenntnis und einem Zeugnis von ihm gelangen können, das uns zu der kostbarsten aller Gaben des Lebens führt.
Das Lernen und der Gottesdienst im Tempel sind wie ein Studium des ewigen Lebens, das uns durch Jesus Christus offensteht. Das Weihungsgebet in Kirtland enthielt die flehentliche Bitte an den Herrn: „Gewähre, Heiliger Vater, dass all jenen, die in diesem Haus anbeten werden, Worte der Weisheit … gelehrt werden …
und dass sie in dir aufwachsen und eine Fülle des Heiligen Geistes empfangen.“ (LuB 109:14,15.)
Geschieht dies durch Zeremonien und Rituale? Ja, zum Teil, wenn wir den Zweck, die Symbolik verstehen, so wie sie Adam und Eva in den frühen Tagen des Erdenlebens dargelegt wurden. Im Grunde aber lernen wir durch den Inhalt der Botschaft, die Grundsätze des ewigen Fortschritts, des ewigen Lebens. Die Bündnisse, die wir mit dem Herrn schließen, betreffen einige wenige einfache Grundsätze. Denken Sie an die Aussage des Paulus, dass wir durch den Tod Christi mit Gott versöhnt wurden und „durch sein Leben“ gerettet werden (Römer 5:10). Für mich bedeutet das, dass uns die Grundsätze seines heiligen Lebens zu der Fülle der Errettung führen, die als Erhöhung bezeichnet wird, nämlich Liebe, Lernen, Dienen, Wachstum, ein schöpferisches Leben auf einer göttlichen Ebene mit unseren Lieben und mit dem Vater und dem Sohn. Im Tempel können wir lernen, so zu leben, wie Christus auf der Erde gelebt hat, und wie er und der Vater jetzt leben.
Zentrale Grundsätze des Lebens Christi
Welche der zentralen Grundsätze des Lebens Jesu werden im Tempel gelehrt und sind mit den Bündnissen verknüpft, die wir mit dem Herrn eingehen? …
Jesus Christus liebte auf eine Art und Weise, wie sie bisher wohl nur er und der Vater wirklich verstehen können. Aber wir sind hier, um genau das zu lernen – um zu lernen, so zu lieben, dass wir geben wollen. Auf Schlachtfeldern, in Krankenzimmern und in der stillen, heldenhaften, selbstlosen Pflege von Eltern oder Kindern ist für mich deutlich geworden, dass es Menschen gibt, die gelernt haben, wahrhaft so zu lieben und sich so aufzuopfern, wie der Heiland es getan hat.
Wenn wir uns auf den Weg des Gebens, der Fürsorge, der Freundlichkeit und Güte begeben, erkennen wir, dass dies kein optionales Element des Evangeliums ist, sondern dessen Kern. Anstand und Ehre, Selbstlosigkeit, gutes Benehmen und guter Geschmack werden von uns erwartet. Im Grunde zählt am Ende, was für Menschen wir sind und was wir zu geben bereit sind. … Dies entscheiden wir täglich, stündlich, wenn wir die Weisung des Herrn in Erfahrung bringen und annehmen.
Nach der Kreuzigung, der Auferstehung und der Himmelfahrt des Erlösers geschah etwas mit den verbleibenden Jüngern, die von Petrus geführt wurden. Dieser hatte den Herrn zuvor unter dem Druck der Umstände im Stich gelassen. Der Pfingsttag kam – und mit ihm der Heilige Geist – und diejenigen, die gewankt hatten, waren nun unerschütterlich in ihrem Zeugnis und im Zeugnisgeben. In den Kapiteln 1 bis 5 in der Apostelgeschichte ist dies nachzulesen. Die letzten Verse des fünften Kapitels sind von tiefer Bedeutung: Gamaliёl hat eingegriffen und die anderen Ratsmitglieder gebeten, den Jüngern noch eine Chance, ein wenig mehr Zeit zu geben. Also werden sie erneut ermahnt, nicht mehr im Namen Jesu zu predigen. Sie werden abermals ausgepeitscht und dann freigelassen. Es wird berichtet, dass sie das Gebäude verließen und sich freuten, dass sie für würdig befunden worden waren, um Christi willen zu leiden. „Und Tag für Tag lehrten sie unermüdlich im Tempel und in den Häusern und verkündeten das Evangelium von Jesus, dem Christus.“ (Apostelgeschichte 5:42.)
Ebenso soll auch mit uns etwas geschehen, wenn wir den Tempel im Geiste von 3 Nephi 17:3 verlassen: „Darum geht nach Hause und denkt über das nach, was ich gesagt habe, und bittet den Vater in meinem Namen, damit ihr verstehen könnt, und macht euren Sinn für den morgigen Tag bereit, und ich komme abermals zu euch.“
Die reinigende Kraft des Gottesdienstes im Tempel
Da wir also auf besondere Weise mit dem Weg vertraut gemacht werden, den der Herr gegangen ist und den er erleuchtet hat – und da wir den Herrn lieben –, kann sich eine Läuterung vollziehen, die uns veranlasst, ein neuer Mensch zu werden, der Liebe und Brüderlichkeit in die Tat umsetzt, im Schulterschluss mit anderen dem Willen des Herrn folgt, voll Liebe dient, gute Grundsätze vertritt und zuerst nach dem Reich Gottes trachtet.
Wir müssen unser Familienleben rein und unser Zuhause zu einem Ort machen, wo wir täglich Jesus Christus „verkünden“ und ihm immer folgen. Unser Zuhause, unsere Familie, unser Leben sollen ein Ort des Lernens, ein Ort der Selbstlosigkeit und des Dienens werden. Mit den Worten von Rufus Jones: „Heilige sind nicht dazu da, einen Heiligenschein zu haben und im Innern vor Freude zu beben. Sie sind dazu da, Licht und Kraft auszustrahlen. Der wahre Heilige ist eine gute Mutter, ein guter Nachbar, eine gute konstruktive Kraft in der Gesellschaft, ein Duft und ein Segen. Der wahre Heilige ist ein tatkräftiger Christ, der an einem bestimmten Platz die Art von Leben führt, die im Himmel ihre Vollendung finden wird.“1
Betrachten Sie doch einmal mit mir einen meiner Meinung nach aufschlussreichen Schlüssel zur Bedeutung des Tempels und des Gottesdienstes im Tempel. Der Herr offenbarte dem Propheten Joseph Smith im Jahr 1836 das Gebet, das bei der Weihung des Kirtland-Tempels dargebracht wurde. Das Gebet steht heute in Abschnitt 109 des Buches Lehre und Bündnisse. Wer den aufrichtigen Wunsch hat, die grundlegende Bedeutung des Tempels zu verstehen, sollte es wieder und wieder lesen, besonders die ersten 24 eindrucksvollen und machtvollen Verse. Vers 5 ist eine wunderbare Aussage, die tiefgehende Betrachtung verdient: „Denn du weißt, dass wir dieses Werk inmitten großer Drangsal vollbracht haben; und in unserer Armut haben wir von unserer Habe gegeben, um deinem Namen ein Haus zu bauen, damit des Menschen Sohn eine Stätte habe, wo er sich seinem Volk kundtun kann.“ (LuB 109:5; Hervorhebung hinzugefügt.)
Wie tut er sich seinem Volk im Tempel kund?
Ich glaube, dies geschieht hauptsächlich durch die Schönheit und die überzeugende Stichhaltigkeit der Grundsätze, Verordnungen und Bündnisse des Tempels und durch den Gottesdienst im Tempel – durch den Geist der Offenbarung und weitere Segnungen des Geistes, die dort denen offenstehen, deren Herz und Sinn im Einklang sind und die geduldig sind und bestrebt, ihr Leben immer mehr den christlichen Idealen anzugleichen (siehe 3 Nephi 27:21,27).
Ein Beispiel genügt vielleicht, um die geistige Kraft zu verdeutlichen, die diejenigen empfangen, die dem Herrn treu im Tempel dienen. Eines Morgens kam ich gegen 4:30 Uhr in den Tempel, dankbar, dass ich es trotz des heftigen Schneefalls geschafft hatte. In einem abgelegenen Raum traf ich zufällig einen älteren, sehr geschätzten Bruder, der nachdenklich dasaß und sich auf seinen Stock stützte. Wie ich war er in weiß gekleidet, in die weiße Kleidung eines Tempelarbeiters. Ich begrüßte ihn freudig und fragte ihn, was er zu dieser frühen Stunde hier mache.
Er sagte: „Sie wissen doch, was ich hier mache, Präsident Hanks. Ich bin Tempelarbeiter und bin hier, um meine Aufgabe zu erfüllen.“
„Das weiß ich“, erwiderte ich, „aber ich habe mich gefragt, wie Sie durch den Schneesturm hierhergekommen sind. Ich habe eben im Radio gehört, dass Parley’s Canyon für den Verkehr gesperrt, ja regelrecht verbarrikadiert ist!“
Er meinte: „Ich besitze einen Geländewagen, der auf Bäume klettern kann.“
Ich sagte: „Ich auch, sonst wäre ich nicht hier, und ich wohne nur wenige Kilometer von hier entfernt.“
Ich fragte ihn dann, wie er es geschafft hatte, an der Absperrung vorbeizukommen, die laut den Nachrichten im Canyon angebracht worden war. Seine Antwort war nicht untypisch für diesen Farmer und Pfahlpräsidenten, den ich zum ersten Mal als kräftigen, jungen Mann auf seinem Pferd gesehen hatte, als ich vor den Versammlungen einer Pfahlkonferenz einen Nachmittag mit ihm verbracht hatte. Nun hatten ihn Arthritis und das Alter buchstäblich schrumpfen lassen und sollten ihn schon bald das Leben kosten. Er konnte sich nur unter großen Schmerzen bewegen. Er erklärte mir an jenem Morgen: „Wissen Sie, Präsident Hanks, ich kenne viele der Polizisten hier auf den Highways seit ihrer Geburt. Die Jungs wissen genau, dass ich durch muss und dass ich, wenn nötig, auch querfeldein fahre! Sie kennen auch meinen Geländewagen und meine Erfahrung und räumen so eine Sperre aus dem Weg, wenn es sein muss.“
Und so war er zu dieser frühen Stunde gekommen, gläubig und treu, um seine heilige Arbeit zu beginnen. Menschen mit solchem Glauben und solcher Hingabe hervorzubringen – daran hat der Tempel einen maßgeblichen Anteil.