Der Gast am Heiligabend
Die Verfasserin lebt in Idaho.
Es war sonst doch immer der beste Abend des Jahres. Aber jetzt war alles ruiniert!
„Liebet einander, wie Jesus euch liebt. Seid immer freundlich.“ (Liederbuch für Kinder, Seite 40)
Clara mochte den traditionellen Heiligabend ihrer Familie sehr. Zuerst gab es immer gebackenen Fisch zum Abendessen und Weihnachtsgebäck zum Nachtisch. Dann ging es auf den Weihnachtsmarkt. Wenn sie nach Hause kamen, lasen sie zusammen die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel. Und bevor sie zu Bett gingen, zündeten sie zum ersten Mal die Lichter am Weihnachtsbaum an und jeder durfte ein Geschenk auspacken. Für Clara gab es im ganzen Jahr keinen schöneren Abend. Sie konnte ihn kaum erwarten!
Bis Mutti etwas ankündigte.
„Dieses Jahr kommt an Heiligabend ein besonderer Gast zu uns. Erinnerst du dich an Frau Rainer?“
Clara stöhnte. „Die Nachbarin, die Vati letzte Woche zur Kirche eingeladen hat?“
„Genau. Vati holt sie gerade ab.“
Clara ließ sich auf einen Stuhl plumpsen. Wie sollte sie sich nur entspannen und Spaß haben, wenn eine Fremde da war? Der Heiligabend war ruiniert. Na ja, als Vati Frau Rainer zur Kirche eingeladen hatte, war sie gar nicht gekommen. Vielleicht würde sie dieses Mal auch nicht kommen.
Aber als Vati durch die Tür kam, war der „besondere Gast“ auch da. Frau Rainer sah müde und ein bisschen traurig aus. Clara begrüßte sie kurz. Sonst wollte sie aber nichts sagen. Beim Abendessen beschäftigte sie sich nur mit ihrem Essen, während Mutti und Vati mit Frau Rainer plauderten.
„Hast du schon einmal Tanzunterricht gehabt?“, fragte eine leise Stimme. Clara sah, dass Frau Rainer darauf wartete, dass sie antwortete. Sie nickte und schaute dann wieder auf ihren Teller.
„Ich auch“, sagte Frau Rainer. Ihre Stimme war immer noch leise. „Was tanzt du am liebsten?“
Clara zuckte mit den Schultern und schob ihr Gemüse auf ihrem Teller herum.
„Ich mag Ballett“, sagte Frau Rainer. „Ich war in einer Tanzgruppe, als ich studiert habe. Einmal haben wir ganz Europa bereist. Das war toll!“
Clara blickte auf. Das klang wirklich toll.
„Was mögen Sie sonst noch?“, fragte Clara.
Frau Rainer lächelte ein wenig. „Klavier spielen. Und Mathe.“
Clara machte große Augen. „Wirklich? Mathe ist mein Lieblingsfach!“
Danach unterhielt sich Clara mit Frau Rainer, bis sie fertig gegessen hatten. Sie fand heraus, dass Frau Rainer Mathematik studiert hatte und auf dem Weg war, Mathematikprofessorin zu werden, als sie ihren Mann kennenlernte. Er hatte ein paar schlechte Entscheidungen getroffen und war jetzt im Gefängnis.
Als sie nach dem Abendessen über den Weihnachtsmarkt gingen, lief Clara neben Frau Rainer. Und als sie die Weihnachtsgeschichte lasen, ließ sie Frau Rainer in ihren heiligen Schriften mitlesen.
Bald war es Zeit, die Geschenke auszupacken. Clara bekam einen kuscheligen lilafarbenen Schlafanzug. Sie konnte es kaum erwarten, ihn anzuziehen. Es tat ihr leid, dass Frau Rainer kein Geschenk hatte.
Da gab Mutti Frau Rainer ein kleines Päckchen. Frau Rainer lächelte schüchtern und packte ein Paar dunkelblaue Socken aus. Sie schaute mit feuchten Augen zu Mutti auf. „Danke. Sie hätten mir wirklich nichts zu schenken brauchen.“
Clara ging in ihr Zimmer und zog ihren neuen Schlafanzug an. Sie musste immerzu an Frau Rainer denken. Sie hatte so dankbar ausgesehen, dabei hatte sie nur ein Paar Socken zu Weihnachten bekommen.
Als Clara ihre eigenen flauschigen Socken anzog, hörte sie, dass schöne Musik gespielt wurde. Sie rannte hinunter und sah, dass Mutti und Vati Weihnachtslieder sangen, und Frau Rainer spielte Klavier dazu. Clara machte gleich mit. Beim Singen wurde ihr ganz warm ums Herz. „Es ist wohl doch nicht so schlecht, an Heiligabend einen Gast zu haben“, dachte sie.
Am Sonntag kam Frau Rainer in die Kirche und saß während der Abendmahlsversammlung bei Claras Familie. Sie sah sehr glücklich aus. Lächelnd hielt Clara ihr Gesangbuch so, dass Frau Rainer mitsingen konnte. Vielleicht war es Zeit für eine weitere Tradition am Heiligabend.