Es geht um die Menschen
In der Kirche dreht sich alles um Sie, die Jünger des Herrn – diejenigen, die ihn liebhaben, die ihm nachfolgen und die durch einen Bund seinen Namen auf sich genommen haben.
Während der Vorbereitungen für den Bau des herrlichen Paris-Tempels in Frankreich hatte ich ein Erlebnis, das ich nie vergessen werde. Als 2010 ein Grundstück für den Tempel gefunden wurde, wollte sich der Bürgermeister der Stadt mit uns treffen, um mehr über die Kirche zu erfahren. Dieses Treffen war ein entscheidender Schritt für den Erhalt einer Baugenehmigung. Sorgfältig bereiteten wir eine Präsentation mit einigen beeindruckenden Bildern von Tempeln der Heiligen der Letzten Tage vor. Ich hoffte inständig, dass ihre architektonische Schönheit den Bürgermeister überzeugen würde, unser Projekt zu unterstützen.
Zu meiner Überraschung gab der Bürgermeister zu verstehen, dass er und sein Team lieber selbst Nachforschungen anstellen wollten, um herauszufinden, was für eine Art Kirche wir sind, statt sich unsere Präsentation anzusehen. Im darauffolgenden Monat wurden wir eingeladen, uns den Bericht einer Stadträtin anzuhören, die zufälligerweise auch Professorin für Religionsgeschichte war. Sie sagte: „Vor allem wollten wir wissen, wer die Mitglieder Ihrer Kirche sind. Als Erstes besuchten wir eine Ihrer Abendmahlsversammlungen. Wir setzten uns hinten in die Kapelle und beobachteten aufmerksam die Anwesenden und was sie taten. Dann trafen wir uns mit Ihren Nachbarn – den Menschen, die in der Umgebung Ihres Pfahlzentrums leben – und fragten sie, was für Leute die Mormonen sind.“
„Und zu welchem Schluss sind Sie gekommen?“, fragte ich, ein wenig besorgt. Sie entgegnete: „Wir haben herausgefunden, dass die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage unter allen uns bekannten Kirchen diejenige ist, die der Urkirche Jesu Christi am nächsten kommt.“ Beinahe hätte ich widersprochen und gesagt: „Das ist nicht ganz richtig! Es ist nicht die Kirche, die ihr am nächsten kommt; es ist die Kirche Jesu Christi – dieselbe Kirche, die wahre Kirche!“ Aber ich hielt mich zurück und sprach stattdessen ein stilles Dankgebet. Danach ließ uns der Bürgermeister wissen, dass er und sein Team aufgrund ihrer Feststellungen keine Einwände gegen den Bau eines Tempels in ihrer Umgebung hatten.
Wenn ich heute über dieses wunderbare Erlebnis nachdenke, bin ich dankbar für die Weisheit des Bürgermeisters und den Geist der Unterscheidung. Er wusste, dass man den Schlüssel zum Verständnis der Kirche nicht erhält, wenn man sich das äußere Erscheinungsbild ihrer Gebäude oder auch ihre gute Organisationsstruktur ansieht. Man muss vielmehr den Blick auf die Millionen treuer Mitglieder richten, die täglich danach streben, dem Beispiel Jesu Christi zu folgen.
Eine Definition für die Kirche kann man aus einem Vers im Buch Mormon ableiten, wo es heißt: „Und die [gemeint sind die Jünger des Herrn] sich im Namen Jesu taufen ließen, die nannte man die Kirche Christi.“1
Mit anderen Worten: In der Kirche geht es um die Menschen. Es dreht sich alles um Sie, die Jünger des Herrn – diejenigen, die ihn liebhaben, die ihm nachfolgen und die durch einen Bund seinen Namen auf sich genommen haben.
Präsident Russell M. Nelson hat die Kirche einmal mit einem schönen Auto verglichen. Wir alle haben es gern, wenn unser Fahrzeug sauber ist und glänzt. Doch der Zweck des Autos besteht nicht darin, als ansprechende Maschine aufzufallen; es soll die Menschen im Auto fortbewegen.2 Gleichermaßen schätzen wir als Mitglieder der Kirche schöne Orte für die Gottesverehrung, die sauber und gut gepflegt sind, und wir freuen uns auch über gut funktionierende Programme. Doch diese haben lediglich eine unterstützende Funktion. Unser einziges Ziel besteht darin, jeden Sohn und jede Tochter Gottes einzuladen, zu Christus zu kommen, und sie auf dem durch Bündnisse vorgezeichneten Weg zu leiten. Nichts ist wichtiger. Bei unserer Arbeit dreht sich alles um die Menschen und um Bündnisse.
Ist es nicht wunderbar, dass der offenbarte Name der wiederhergestellten Kirche die beiden wichtigsten Elemente in jedem Evangeliumsbund miteinander verbindet? Zunächst ist da der Name Jesus Christus. Diese Kirche gehört ihm, und sein heiligendes Sühnopfer und seine Bündnisse sind der einzige Weg zu Errettung und Erhöhung. Der zweite Name bezieht sich auf uns, die Heiligen, oder mit anderen Worten, seine Zeugen und seine Jünger.
Ich lernte, wie wichtig es ist, sich auf die Menschen zu konzentrieren, als ich in Frankreich Pfahlpräsident war. Zu Beginn meiner Amtszeit hatte ich einige sehr ehrgeizige Ziele für den Pfahl im Sinn: neue Gemeinden, den Bau neuer Gemeindehäuser und sogar den Bau eines Tempels in unserem Gebiet. Als ich sechs Jahre später entlassen wurde, war nicht eines dieser Ziele erreicht worden. Das hätte man jetzt als ein völliges Versagen empfinden können, hätten sich während dieser sechs Jahre nicht meine Ziele gänzlich verändert.
Als ich am Tag meiner Entlassung auf dem Podium saß, überkam mich eine tiefe Dankbarkeit und Zufriedenheit über das Erreichte. Ich blickte in die Gesichter der hunderten anwesenden Mitglieder. Ich konnte mit jedem von ihnen ein geistiges Erlebnis in Verbindung bringen.
Da gab es die Brüder und Schwestern, die in die Wasser der Taufe gestiegen waren, diejenigen, deren ersten Tempelschein ich unterschrieben hatte, sodass sie die heiligen Handlungen des Tempels empfangen konnten, und all die jungen Leute und Ehepaare, die ich als Vollzeitmissionare eingesetzt oder entlassen hatte. Es gab auch viele andere, denen ich geistlich gedient hatte, als sie Prüfungen durchzustehen hatten und in ihrem Leben Ungemach erlitten. Ich verspürte tiefe brüderliche Liebe für jeden von ihnen. Ich hatte wahre Freude darin gefunden, ihnen zu dienen, und freute mich darüber, dass sie sich dem Erretter stärker verbunden fühlten und mehr Glauben an ihn hatten.
Präsident M. Russell Ballard hat gesagt: „Das Wichtigste bei unserer Arbeit in der Kirche sind nicht die gemeldeten Berichte oder die abgehaltenen Versammlungen, sondern ob einzelne Menschen – um die man sich, einer nach dem anderen, gekümmert hat, genau wie der Erretter es getan hat – aufgerichtet und ermutigt worden sind und sich schließlich geändert haben.“3
Meine lieben Brüder und Schwestern, sind wir im Evangelium aktiv oder sind wir lediglich in der Kirche beschäftigt? Der Schlüssel liegt darin, in allem dem Beispiel des Erretters nachzueifern. Dann nämlich konzentrieren wir uns ganz selbstverständlich darauf, den Einzelnen zu retten, statt bloß Aufgaben zu erfüllen und Programme umzusetzen.
Haben Sie sich jemals gefragt, wie es wohl wäre, wenn der Erretter nächsten Sonntag Ihre Gemeinde oder Ihren Zweig besuchen würde? Was würde er tun? Würde er sich Gedanken darüber machen, ob die visuellen Hilfsmittel gut genug oder die Stühle im Klassenzimmer alle richtig aufgestellt sind? Oder würde er jemanden suchen, dem er Liebe erweisen oder den er lehren und segnen könnte? Vielleicht würde er nach einem neuen Mitglied oder einem Freund der Kirche Ausschau halten, um ihn willkommen zu heißen, nach einem kranken Bruder oder einer Schwester, die des Trostes bedarf, oder nach einem jungen Menschen, dessen Glaube wankt und der Zuspruch und Ermutigung braucht.
Welche Klassen würde Jesus besuchen? Ich würde mich nicht wundern, wenn er zuerst die PV-Kinder besuchen würde. Er würde sich wahrscheinlich hinknien und persönlich mit jedem Einzelnen sprechen. Er würde ihnen sagen, dass er sie liebhat, ihnen Geschichten erzählen, ihre Zeichnungen loben und Zeugnis für seinen Vater im Himmel geben. Sein Auftreten wäre schlicht, aufrichtig und ungekünstelt. Können wir dasselbe tun?
Ich verheiße Ihnen: Wenn Sie danach streben, die Ziele des Herrn zu verfolgen, dann wird nichts wichtiger sein, als die Menschen zu finden, denen Sie helfen und ein Segen sein können. In der Kirche werden Sie sich darauf konzentrieren, den Einzelnen anzusprechen und sein Herz zu berühren. Sie werden mehr darauf bedacht sein, ein geistiges Erlebnis zu ermöglichen, als eine perfekte Aktivität zu organisieren. Es wird Ihnen wichtiger sein, den anderen Mitgliedern zu dienen, als eine bestimmte Anzahl Besuche abzuhaken. Es wird nicht um Sie gehen, sondern um die anderen, die wir unsere Brüder und Schwestern nennen.
Manchmal sagen wir, dass wir in die Kirche gehen. Aber die Kirche ist mehr als nur ein Gebäude oder ein bestimmter Ort. Sie ist selbst in den bescheidensten Behausungen in den entlegensten Gebieten der Welt genauso real und lebendig wie am Hauptsitz der Kirche in Salt Lake City. Der Herr selbst hat gesagt: „Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“4
Wir nehmen die Kirche überallhin mit: zur Arbeit, zur Schule, in den Urlaub und besonders zu uns nach Hause. Allein unsere Gegenwart und unser Einfluss können jeden Ort, an dem wir uns befinden, zu einem heiligen Ort machen.
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Freund, der nicht unserer Kirche angehört. Er war überrascht, dass jeder würdige Mann in unserer Kirche das Priestertum empfangen kann. Er fragte: „Aber wie viele Priestertumsträger gibt es dann in deiner Gemeinde?“
Ich antwortete: „Zwischen 30 und 40.“
Ganz verblüfft fuhr er fort: „In meiner Gemeinde haben wir nur einen Priester. Warum braucht ihr sonntagmorgens so viele Priester?“
Das war eine interessante Frage, und ich fühlte mich zu dieser Antwort inspiriert: „Ich stimme dir zu. Ich glaube nicht, dass wir sonntags so viele Priestertumsträger in der Kirche brauchen. Aber wir brauchen einen Priestertumsträger in jeder Familie. Und wenn es in einer Familie keinen Priestertumsträger gibt, werden andere Priestertumsträger beauftragt, über die Familie zu wachen und sich um sie zu kümmern.“
Unsere Kirche ist nicht auf den Sonntag beschränkt. Unsere Gottesverehrung wird an jedem Tag der Woche fortgesetzt, wo wir auch sind und was wir auch tun. Insbesondere unser Zuhause ist das Allerheiligste unseres Glaubens.5 Meistens sind wir doch zu Hause, wenn wir beten, Segen spenden, in den Schriften lesen, das Wort Gottes lehren oder mit reiner Liebe dienen. Aus eigener Erfahrung kann ich bezeugen, dass unser Zuhause ein heiliger Ort ist, wo wir den Heiligen Geist in reichem Maße verspüren können – ebenso wie in unseren formellen Stätten der Gottesverehrung, und manchmal sogar noch mehr.
Ich bezeuge, dass diese Kirche die Kirche Jesu Christi ist. Ihre Kraft und Lebensenergie beruhen auf dem, was Millionen Jünger Christi täglich tun. Jeden Tag bemühen sie sich, seinem erhabenen Beispiel nachzueifern, indem sie sich um andere kümmern. Christus lebt und er leitet diese Kirche. Präsident Russell M. Nelson ist der Prophet, den Christus auserwählt hat, uns in dieser Zeit zu führen und zu leiten. Dies bezeuge ich im Namen Jesu Christi. Amen.