2018
Einer trage des anderen Last
Juni 2018


Einer trage des anderen Last

Nach einer Ansprache an Angestellte des Familiendienstes der Kirche im Juni 2017. Elder Holland hat diese Fassung für ein breiteres Publikum bearbeitet.

Wir mögen den Weg nicht ändern können, den jemand vor sich hat, doch wir können dafür sorgen, dass niemand ihn allein gehen muss. Ganz bestimmt ist das mit der Aufforderung gemeint, einer trage des anderen Last.

walking with an elderly woman

Foto von Getty Images

Der Apostel Petrus schreibt, dass alle Nachfolger Jesu Christi „voll Mitgefühl“ sein sollen (1 Petrus 3:8). Viele von Ihnen erfüllen dieses Gebot ein Leben lang tagtäglich auf ehrenhafte und bewundernswerte Weise. Gewiss ist Mitgefühl heutzutage so nötig wie eh und je. Aus einer aktuellen Statistik geht hervor, dass jedes Jahr etwa jeder fünfte Erwachsene in den Vereinigten Staaten (43,8 Millionen Menschen) von einer seelischen Krankheit betroffen ist.1 Pornografie ist weit verbreitet – eine Website verzeichnete allein im Jahr 2016 über 23 Milliarden Aufrufe.2 „Haushalte mit zwei Elternteilen nehmen in den Vereinigten Staaten [rapide] ab, während es immer mehr Scheidungen, … eheähnliche Gemeinschaften [und uneheliche Geburten] gibt. … Heutzutage werden mindestens vier von zehn Neugeborenen von einer Mutter zur Welt gebracht, die alleinstehend oder mit ihrem Partner nicht verheiratet ist.“3

Um das Volk des Herrn genannt zu werden und seiner Kirche anzugehören, müssen wir „willens [sein], einer des anderen Last zu tragen, damit sie leicht sei, ja, und willens [sein], mit den Trauernden zu trauern, ja, und diejenigen zu trösten, die des Trostes bedürfen, und allzeit und in allem … als Zeugen Gottes aufzutreten“ (Mosia 18:8,9).

Ich finde, eines anderen Last zu tragen charakterisiert auf schlichte, doch eindrucksvolle Weise das Sühnopfer Jesu Christi. Wenn wir bemüht sind, des anderen Last zu erleichtern, werden wir Befreier auf dem Berg Zion (siehe Obadja 1:21). Wir richten uns symbolisch am Erlöser der Welt und an seinem Sühnopfer aus. Wir heilen diejenigen, „deren Herz zerbrochen ist“, und verkünden „den Gefangenen die Entlassung“ und „den Gefesselten die Befreiung“ (Jesaja 61:1).

Göttliches Einfühlungsvermögen

young man in wheelchair laughing

Befassen wir uns noch etwas mit diesem Aspekt des Sühnopfers Jesu Christi. Wenn ich die Lehre richtig verstehe, durchlebte Jesus Christus mit dem Sühnopfer stellvertretend die Sünden, die Sorgen, den Kummer und das Leid aller Menschen und nahm die damit einhergehende Last auf sich – angefangen bei Adam und Eva bis hin zum Ende der Welt. Hierbei beging er selbst keine Sünde, doch er spürte den Schmerz derer, die sündigen, und die Folgen dieser Sünden. Zwar erlebte er das Scheitern einer Ehe nicht selbst, doch er spürte dessen Tragweite und den Schmerz aller davon Betroffenen. Zwar erlebte er selbst weder eine Vergewaltigung noch Krankheiten wie Schizophrenie und Krebs oder den Verlust eines Kindes, doch er spürte den Schmerz aller davon Betroffenen und die Auswirkungen auf sie. Gleiches gilt auch für all die zahllosen anderen Bürden und tiefen Betrübnisse im Leben.

Unter diesem Gesichtspunkt ist das Sühnopfer das einzige wahre, göttliche Beispiel für Einfühlungsvermögen, das die Welt je gesehen hat. Ganz offensichtlich lässt sich diese Tat, deren Tragweite im ganzen Universum unübertroffen ist, mit keinem Wort auch nur annähernd beschreiben. Doch da ich heute kein treffenderes Wort finde, werde ich es dennoch verwenden.

Einfühlungsvermögen bezeichnet die Anteilnahme an gegenwärtigen oder früheren Gefühlen, Gedanken und Erfahrungen eines anderen sowie die Fähigkeit, diese nachzuvollziehen und nachzuempfinden.4 Wie oben geschildert, passt diese Beschreibung recht genau auf das Sühnopfer, insbesondere, wenn wir zusätzlich zum Gegenwärtigen und Vergangenen auch Zukünftiges einbeziehen.

Wir alle wissen, dass es allzu viele Kinder Gottes gibt, die im Stillen und ganz für sich allein leiden. So etwa auch ein junger Mann, der mir einen Brief schrieb und darin mit eindrucksvollen Worten Zeugnis gab. Doch dann fügte er hinzu, dass er großen Kummer habe, denn wegen seiner gleichgeschlechtlichen Neigungen sehe er keinerlei Erfüllung oder Freude vor sich:

„Mein Leben lang werde ich abends einsam sein und jeder Morgen wird trostlos und öde sein. Ich besuche ja regelmäßig meine JAE-Gemeinde, doch jede Woche wird mir nach der Kirche bewusst, dass ich da nie richtig hineinpassen werde. Ich werde niemals meinem Sohn beibringen können, wie man Fahrrad fährt. Ich werde niemals wissen, wie es sich anfühlt, wenn meine kleine Tochter sich beim Laufenlernen an meinem Finger festhält. Ich werde niemals Enkelkinder haben.

Wenn ich nach Hause komme, wird niemand da sein, und das Tag für Tag, Monat für Monat – jahrzehntelang. Rückhalt finde ich nur in meiner Hoffnung auf Christus. Manchmal frage ich mich, warum er mir so etwas nur antun und solch ein unmögliches Opfer von mir erwarten mag. Ich weine nur nachts, wenn mich niemand dabei sieht. Ich habe noch niemandem davon erzählt, nicht einmal meinen Eltern. Wenn sie oder meine Freunde das wüssten, … würden sie mich verstoßen, so wie sie auch diejenigen verstoßen haben, die diesen Weg bereits vor mir gegangen sind. Ich werde immer ein Außenseiter sein. Ich habe die Wahl, entweder gemobbt und gemieden zu werden, weil ich alleinstehend bin – oder ich nenne die wahren Gründe und werde deshalb bemitleidet oder ignoriert. Ein ganzes langes Leben mit solchen Aussichten ist doch schrecklich! Gibt es denn keinen Balsam in Gilead?“5

Wenn jemand so leidet und so verzweifelt und hoffnungslos ist, sollten wir unbedingt versuchen, dem Betroffenen die Gewissheit zu vermitteln, dass er nicht allein ist. Wir sollten unerschütterlich betonen, dass Gott bei ihm ist, dass Engel um ihn sind und dass wir an seiner Seite sind.

Einfühlungsvermögen. Es mag sich ziemlich unzureichend anhören, doch es ist ein Anfang. Wir mögen den Weg nicht ändern können, den jemand vor sich hat, doch wir können dafür sorgen, dass niemand ihn allein gehen muss. Ganz bestimmt ist das mit der Aufforderung gemeint, einer trage des anderen Last – so etwas ist tatsächlich eine Last. Und wer weiß, wann oder ob diese im Erdenleben leichter gemacht wird. Wir können jedoch den Weg gemeinsam gehen und die Last gemeinsam tragen. Wir können unsere Brüder und Schwestern aufrichten, so wie Jesus Christus uns aufrichtet (siehe Alma 7:11-13).

Durch all das lernen wir zudem einmal mehr und mit größerem Verständnis zu schätzen, was der Erretter letztlich für uns tut. Hierzu habe ich einmal gesagt:

„Bei unserem Streben nach ein wenig Ruhe und Verständnis in diesen schwierigen Fragen dürfen wir auf keinen Fall vergessen, dass wir in einer gefallenen Welt leben – und leben wollten –, wo unser Bemühen um Frömmigkeit mit göttlicher Absicht immer wieder auf die Probe gestellt wird. Unser Vertrauen in Gottes Plan beruht vor allem darauf, dass uns ein Erretter verheißen wurde – ein Erlöser, der uns durch unseren Glauben an ihn emporhebt und uns über all diese Prüfungen und Schwierigkeiten triumphieren lässt, auch wenn der Preis dafür sowohl für den Vater, der ihn sandte, als auch für den Sohn, der kam, unermesslich hoch war. Nur wenn wir die Liebe Gottes dankbar annehmen, wird unser eigenes, geringeres Leid erst erträglich, dann verständlich und schließlich erlösend.“6

Wir merken schnell, dass unser Beistand, so gut und selbstlos er sein mag, dennoch oft nicht ganz passend oder ausreichend ist, um andere so zu trösten und zu ermutigen, wie sie es brauchen. Oder wenn wir doch einmal wirklich helfen können, gelingt es uns häufig nicht erneut. Außerdem sind wir keine Superhelden, die verhindern könnten, dass es bei denen, um die wir uns kümmern, auch einmal Rückschritte gibt. Aus all diesen Gründen müssen wir uns letztendlich Jesus Christus zuwenden und auf ihn bauen (siehe 2 Nephi 9:21).

Oft genug sind wir nicht imstande zu helfen – oder zumindest können wir keine nachhaltige oder wiederholte Unterstützung bieten, auch wenn es uns gelegentlich gelingen mag. Aber Christus kann helfen. Gottvater kann helfen. Der Heilige Geist kann helfen. Wir müssen stets bemüht sein, in ihrem Auftrag zu helfen – wo und wann wir können.

Sammeln Sie neue Kräfte

Für diejenigen von Ihnen, die ernsthaft bemüht sind, des anderen Last zu tragen, ist es angesichts dessen, dass andere so viel von Ihnen erwarten und Sie wirklich sehr beanspruchen, wichtig, dass Sie neue Kräfte sammeln und sich regenerieren. Niemand ist so stark, dass er nicht auch einmal erschöpft oder frustriert ist oder feststellt, dass er sich um sich selbst kümmern muss. Auch Jesus verspürte gewiss solche Erschöpfung und merkte, wie seine Kraft schwand. Er gab und gab, doch das hatte auch seinen Preis. So viele Menschen verließen sich auf ihn, und er bekam die Auswirkungen davon zu spüren. Als die Frau, die an Blutungen litt, ihn in der Menge berührte, heilte er sie, stellte dabei jedoch fest, „dass eine Kraft von ihm ausströmte“ (siehe Markus 5:25-34).

Ich war schon immer davon beeindruckt, dass der Herr schlafen konnte, als der Sturm auf dem See Gennesaret so schlimm tobte, dass sogar seine Jünger – erfahrene Fischer! – glaubten, das Schiff gehe unter. Wie müde muss er wohl gewesen sein? Wie oft kann man predigen und andere segnen und heilen, ohne völlig erschöpft zu sein? Auch wer andere Menschen pflegt und sich um sie kümmert, hat Pflege und Fürsorge nötig. Man braucht Kraftstoff im eigenen Tank, um ihn mit anderen teilen zu können.

Rosalynn Carter, Vorstandsvorsitzende des Rosalynn-Carter-Instituts für Menschen, die andere pflegen, sagte einmal: „Auf dieser Welt gibt es viererlei Arten von Menschen: solche, die schon einmal jemanden gepflegt haben, solche, die derzeit jemanden pflegen, solche, die künftig jemanden pflegen werden, sowie solche, die auf Pflege angewiesen sein werden.“7

Selbstverständlich ist „die Beziehung zwischen dem, der pflegt, und dem zu Pflegenden [ernst zu nehmen, ja, sie ist] heilig“8. Denken wir bei der Herausforderung, des anderen Last zu tragen, jedoch auch daran: Keiner von uns ist immun dagegen, dass sich das Einfühlen in den Schmerz und das Leid des betreuten Menschen auch auf uns selbst auswirkt.

Streben Sie nach Ausgewogenheit

helping a woman put shoes on

Es ist wichtig, dass man nach Wegen sucht, wie man für Ausgewogenheit zwischen der Aufgabe als Pflegender und seinen anderen Lebensbereichen sorgen kann – darunter Beruf, Familie, Beziehungen und Aktivitäten, die einem Freude bereiten. Bei einer Generalkonferenzansprache habe ich einmal zu diesem Thema gesagt: „Ich zolle Ihnen allen Hochachtung, die Sie so viel leisten, intensiv Anteil nehmen und sich bemühen, Gutes zu tun. So viele von Ihnen sind überaus großzügig. Ich weiß, dass manche unter Ihnen möglicherweise selbst [in seelischer oder finanzieller Hinsicht zu kämpfen haben] und doch immer noch etwas finden, woran sie [andere Menschen] teilhaben lassen können. Wie König Benjamin sein Volk mahnte, sollen wir nicht schneller laufen, als wir Kraft haben, und alles soll in Ordnung getan werden (siehe Mosia 4:27).“9 Dennoch weiß ich, dass viele von Ihnen sehr schnell laufen und dass Ihre Kraft und Ihr seelischer Energievorrat oftmals nahezu erschöpft sind.

Wenn die Probleme überhandzunehmen drohen, denken Sie an folgende Zeilen aus einem Artikel von David Batty:

„Hoffnung ist kein freudiges Gefühl, das uns inmitten von Problemen plötzlich überflutet. …

Hoffnung ist kein Zauberstab, der ein Problem einfach verschwinden lässt. Hoffnung ist die Rettungsleine, die Sie in den Stürmen des Lebens vor dem Untergang bewahren kann.

Wenn Sie Ihre Hoffnung in Jesus setzen, vertrauen Sie seinen Verheißungen, dass er Sie niemals verlässt oder gar aufgibt – dass er das tut, was für Sie am besten ist. Auch wenn Sie mitten in einem gewaltigen Problem stecken, schenkt Ihnen die Hoffnung Frieden, weil Sie wissen, dass Jesus Sie bei jedem Schritt begleitet.“10

Mir gefällt, wie Paulus mit dieser Herausforderung und dem Gefühl der Unzulänglichkeit umging. In den heiligen Schriften erklärte der Herr, dass seine Gnade ausreichend für Paulus sei und dass sie „ihre Kraft in der Schwachheit“ erweise. Paulus schreibt: „Viel lieber also will ich mich meiner Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi auf mich herabkommt.“ (2 Korinther 12:9.)11

Vertrauen Sie auf den Vater und den Sohn

Wir müssen darauf vertrauen, dass dem Vater im Himmel und Jesus Christus viel an uns und unserem Handeln liegt – dass sie möchten, dass wir durch „Kraft in der Schwachheit“ vollkommen gemacht werden, genauso wie Sie es sich für jene wünschen, die Sie betreuen.

Ich bezeuge, dass Gott unsere Last kennt und dass er uns die Kraft gibt, andere zu stärken. Das bedeutet nicht, dass unsere Probleme stets verschwinden oder dass auf der Welt plötzlich Frieden herrscht. Doch ebenso wenig stoßen Ihre Gebete auf taube Ohren. Dasselbe gilt für die Gebete derjenigen, um die Sie sich kümmern: die Verwitweten, die Geschiedenen, die Einsamen, die Überforderten, die Suchtkranken oder an anderen Krankheiten Leidenden und die Menschen ohne Hoffnung – Gott hört jedes Gebet.12

Brüder und Schwestern, der Dienst, den wir leisten, wenn wir des anderen Last tragen, ist von entscheidender Bedeutung – das ist buchstäblich das Werk des Meisters. Die Anzahl an Briefen, die mein Büro erreichen, zeigt, wie viel Hilfe notwendig ist. Diese Hilfe ist für diejenigen, die zu kämpfen haben, wie Manna vom Himmel.

Ich habe einmal gesagt: „Wenn wir von Wesen sprechen, die ein Werkzeug in der Hand Gottes sind, denken wir auch daran, dass nicht alle Engel von der anderen Seite des Schleiers kommen. Manche von ihnen sehen und sprechen wir jeden Tag – hier und jetzt! Manche von ihnen wohnen nebenan. Manche dieser Engel haben uns zur Welt gebracht, und in meinem Fall hat so ein Engel eingewilligt, mich zu heiraten. In der Tat scheint der Himmel nie näher zu sein als dann, wenn sich die Liebe Gottes in der Güte und dem Einsatz von Menschen äußert, die so gut und rein sind, dass Engel das einzige Wort ist, das einem in den Sinn kommt.“13

Für mich sind Sie im wahrsten Sinne des Wortes Engel der Barmherzigkeit, wenn Sie bemüht sind, einem anderen die Last zu erleichtern. Mögen Sie hundertfach zurückerhalten, was Sie anderen zu geben bemüht sind.

Anmerkungen

  1. Siehe „Mental Health by the Numbers“, National Alliance on Mental Illness, nami.org

  2. Siehe „World’s Largest Porn Site Reveals the Most-Searched Porn Genre of 2016“, Fight the New Drug, 9. Januar 2017, fightthenewdrug.org

  3. „Parenting in America“, Pew Research Center, 17. Dezember 2015, pewsocialtrends.org; siehe auch D’Vera Cohn und Andrea Caumont, „10 Demographic Trends That Are Shaping the U. S. and the World“, Pew Research Center, 31. März 2016, pewsocialtrends.org

  4. Vgl. Merriam-Webster’s Collegiate Dictionary, 11. Auflage, 2003, „empathy“

  5. Privatkorrespondenz

  6. Jeffrey R. Holland, „Wie ein zerbrochenes Gefäß“, Liahona, November 2013, Seite 40

  7. rosalynncarter.org/UserFiles/Jensen.pdf; siehe auch Rosalynn Carter, zitiert in Randi Kaplan, „How to Care for the Caregiver“, 13. Mai 2015, health.usnews.com

  8. Nancy Madsen-Wilkerson, „When One Needs Care, Two Need Help“, Ensign, März 2016, Seite 38

  9. Jeffrey R. Holland, „A Handful of Meal and a Little Oil“, Ensign, Mai 1996, Seite 31

  10. David Batty, „Finding Hope in the Midst of Life’s Problems“, livingfree.org

  11. Siehe Anne C. Pingree, „Making Weak Things Become Strong“, Ensign, Dezember 2004, Seite 28ff.

  12. Siehe Dallin H. Oaks, „Er heilt alle, die schwere Lasten zu tragen haben“, Liahona, November 2006, Seite 6–9

  13. Jeffrey R. Holland, „Mit der Zunge von Engeln“, Liahona, Mai 2008, Seite 30