2022
Ahnenforschung einmal andersherum
August 2022


Ahnenforschung einmal andersherum

Hannover (MS): Von jeher hat mich die Ahnensuche fasziniert. Weil ich anfangs viele Verwandte, auch etwas weiter entfernte, der Namen und Daten wegen kontaktierte, fasste ich einige Jahre später den Entschluss, Familientreffen mit den Nachkommen meiner Vorfahren zu arrangieren. Diese Treffen stießen bei den Beteiligten auf große Begeisterung. Anlässlich dieser Treffen wandte sich ein Cousin meiner Mutter an mich und forderte mich auf, einen Bruder ihres gemeinsamen Großvaters Schlösser zu suchen, der angeblich vor vielen Jahren ins Rheinland abgewandert war. Genaue Ortsangaben konnte er nicht machen, aber er meinte, weil ich Ahnenforschung betreibe, könnte ich ihn doch leicht finden. Weil er und andere Verwandte aber weder Vornamen noch Geburtsdatum dieses Verwandten kannten und die Familie etliche Söhne hatte, war es auch mir nicht möglich, irgendwelche Auskünfte über dessen ursprünglichen Heimatort zu erhalten.

Eines Tages, während der Beschäftigung mit dem PAF-Programm, kam mir der Gedanke, die Nachkommen sämtlicher Geschwister dieses Urgroßvaters ausfindig zu machen. In seiner Geburtsregion im Harz war er als Erbauer der ersten Skibretter in Deutschland bekannt. So fuhr ich ins Museum nach Braunlage und fragte, ob dort etwas über die weitere Familie bekannt wäre. Der Museumsleiter war von meinem Besuch begeistert, suchte er doch schon viele Jahre nach einem Foto dieses Vorfahren, das er zu den dort an der Wand des Museums hängenden ersten Skiern hängen wollte. Leider hatte ich keines, versprach aber, in der Verwandtschaft danach zu fragen. Gleichzeitig gab ich ihm meine Adresse mit der Bitte, sie an die Besucher des Museums weiterzugeben, die nach meinem Vorfahren oder dessen Familie fragten. Zunächst lehnte er die Entgegennahme ab, aber schließlich willigte er doch ein. Drei oder vier Tage später teilte er mir telefonisch mit, ein Herr namens Friedrich Schlösser hätte sich bei ihm gemeldet und nach Nachkommen dieses Skibauers gefragt. Dieser Herr Schlösser wolle sich in den nächsten Tagen mit mir in Verbindung setzen. Der sehr kurzfristige Erfolg meines Vorhabens machte mich fassungslos, weil ich eine so rasante Rückmeldung nicht erwartet hatte.

Als Herr Schlösser mich dann anrief, stellte sich heraus, dass es ein Nachkomme dieses angeblich ins Rheinland abgewanderten Bruders meines Urgroßvaters war. Der hatte es zwar nicht bis ins Rheinland, sondern zunächst nur nach Osnabrück geschafft, übersiedelte aber einige Jahre später mit seiner Familie in die Nähe von Dortmund, wo etliche seiner Nachkommen heute noch leben.

Diesem entfernten Verwandten erzählte ich von meinem Plan, die anderen Nachkommen der Geschwister dieses Vorfahren ausfindig zu machen, zu denen auch er schließlich gehörte. Von dieser Idee war er begeistert und schlug vor, dieses als gemeinsames Projekt anzugehen und noch eine Generation weiter zurückzugehen, zu unserem gemeinsamen Ururgroßvater, und die Nachkommen seiner Familie und seiner Geschwister zu suchen. Wir machten uns an die Arbeit und fanden sie neben denen, mit denen ich bereits Kontakt hatte, in der damaligen DDR, in Schleswig-Holstein, in Westfalen, in Süddeutschland, in Schweden und auch in Südafrika.

Bei den von uns für diese nun große Verwandtschaft angesetzten Familientreffen war sofort eine Vertrautheit zu spüren, wie sie nur unter Verwandten zu finden ist. Die Freude über unsere Begegnung überstrahlte alles. Bei der ersten Einladung dazu bat ich darum, alte Familienfotos mitzubringen. Bei der gemeinsamen Betrachtung stellte sich heraus, dass die Familie, die nach Osnabrück und später Dortmund verzogen war, noch lange Zeit mit den im Harzgebiet und Kassel verbliebenen Verwandten persönlichen Kontakt hatte. Viele erkannten auf den Bildern der anderen Familie noch ihre Großeltern und ihre Eltern als Kinder. Das Erstaunen darüber und die Freude waren unbeschreiblich. Bei diesen Gelegenheiten referierte ich auch darüber, was ich bei meinen Forschungen über die einzelnen Familien unserer gemeinsamen Vorfahren in Erfahrung bringen konnte. Teilweise waren es tragische Schicksale.

Nachdem ich an alle interessierten Verwandten den damals bereits vorhandenen Stammbaum ausgeteilt hatte, entdeckten einige plötzlich ein neues Hobby: die Ahnenforschung. Ihre Ergebnisse davon übersandten sie mir dann – nicht abgesprochen – voller Stolz. Dabei fühlte ich mich allerdings etwas überfordert, weil ich neben den meinen auch die Vorfahren meines Mannes erforschte und viel Material zu verwalten hatte. Aber eines Nachts hörte ich eine Stimme leise zu mir sagen: „Auch diese Verstorbenen warten darauf, erlöst zu werden“ – und ich fand Frieden damit.

Obwohl wir anlässlich der Familientreffen mit fast allen Anwesenden über unsere Mitgliedschaft in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage sprachen, konnten wir zunächst keine Grundlage für nähere Nachfragen zu unserem Glauben legen.

Friedrich Schlösser und einige Verwandte waren wie ich fest der Ansicht, dass unsere gemeinsamen Vorfahren alles für unsere Begegnung arrangiert hatten. So, wie alles gelaufen war, konnte es gar nicht anders sein. Auch die Anwesenheit unserer Vorfahren bei unseren mehrjährigen Treffen verspürten viele.

Das Kuriose an dieser Sache ist, dass ich die vorherigen Jahrzehnte nie weit von dem nach Westfalen abgewanderten Zweig der Familie entfernt war. Mein Vater, der aus Dortmund stammte, hatte dort eine nahe Verwandte, die sechs Jahre älter war als ich. Diese Eva war genau in dem Ort aufgewachsen, wo sich die ursprünglich aus dem Harz stammenden Verwandten meiner Mutter angesiedelt hatten. Friedrich Schlösser, der mich fand, und zwei seiner Cousins waren über viele Jahre Klassenkameraden von Eva gewesen, mit der ich guten Kontakt hatte. Obwohl sie nicht der Schlösser-Linie entstammte, nahm sie manchmal an unseren Familientreffen teil, weil sie viele der Teilnehmer kannte. Zeit ihres Lebens lachten wir über diesen von uns als Witz empfundenen Zufall.

Die Erforschung unserer gemeinsamer Vorfahren brachte die Familien näher zusammen, was ein echter Segen war und ist.