Kapitel 13
Unvergängliches Wissen
Anfang Mai 1971 betrat Darius Gray die Marriott-Bibliothek der University of Utah. Sein Freund Eugene Orr, der im Kopierzentrum der Bibliothek arbeitete, hatte ihn und Ruffin Bridgeforth gebeten, sich mit ihm dort zu treffen. In letzter Zeit waren die Probleme der Schwarzen in der Kirche ein wichtiges Gesprächsthema für sie. Sie alle hatten gefastet und gebetet, um herausfinden zu können, wie sie vorgehen sollten.
Darius und seine Freunde fanden ein freies Studierzimmer und begannen zu diskutieren. Viele ihrer Sorgen hatten mit der Einschränkung bei Priestertum und Tempel zu tun. Warum hatten in der Anfangszeit der Kirche einige Schwarze das Priestertum getragen? Und wann würden Schwarze wiederum das Priestertum bekommen?
Während sie diese Fragen besprachen, tauchten weitere auf. Sie wussten, dass es für Schwarze schwierig war, die Einschränkungen zu verstehen und in der Kirche aktiv zu bleiben. Wie konnte man sie motivieren, häufiger an den Versammlungen teilzunehmen? Konnte die Kirche vielleicht einen Zweig speziell für schwarze Mitglieder errichten?
Und wie stand es mit der jüngeren Generation? Als Familienväter sehnten sich Ruffin und Eugene danach, einen Weg zu finden, wie sie die Fragen ihrer Kinder zur Einschränkung beantworten sollten.
Nachdem sie aufgeschrieben hatten, was sie bedrückte, knieten die Freunde nieder. Ruffin sprach ein Gebet, worin er den Herrn um Führung bat. Als sie fertig waren, hatten sie das starke Gefühl, sie sollten ihre Fragen persönlich an Präsident Joseph Fielding Smith und weitere hochrangige Führer der Kirche richten. Aber wie konnten sie ein solches Treffen einfädeln?
Da sie wussten, dass Eugene überzeugend reden konnte und voller Energie steckte, schlugen Darius und Ruffin vor: „Warum nimmst du nicht Kontakt mit ihnen auf?“ Wenn jemand für die Gruppe sprechen konnte, dann war es Eugene.
Ein paar Tage später traf sich Eugene im Verwaltungsgebäude der Kirche mit Arthur Haycock, dem Privatsekretär von Präsident Smith. „Was auch immer Sie für Sorgen haben“, versicherte Arthur Eugene, „ich kann sie für Sie lösen.“
„Gut“, sagte Eugene. „Mein größtes Anliegen ist im Moment, dass wir gerne beim Propheten vorsprechen möchten.“ Er zeigte Arthur die Fragen, die er mit Darius und Ruffin ausgearbeitet hatte. „Schwarze wollen selbstsicher als wichtige und aktive Mitglieder mitwirken“, betonte er. „Sie wollen nicht bloß als Zuschauer in der letzten Reihe herumsitzen.“
Arthur las die Fragen und stimmte zu, dass die Liste stichhaltige Punkte enthielt. „Ich werde sie den führenden Brüdern vorlegen. Mal sehen, was sie sagen“, beschied er.
Eugene hörte danach nichts mehr vom Hauptsitz der Kirche. Also fand er sich drei Wochen später wieder beim Verwaltungsgebäude der Kirche ein. Arthur berichtete ihm, dass Präsident Smith die Apostel Gordon B. Hinckley, Thomas S. Monson und Boyd K. Packer beauftragt hatte, mit Eugene und seinen Freunden zu sprechen. Das Treffen wurde für den 9. Juni vereinbart.
Darius, Eugene und Ruffin kamen mit den drei Aposteln in Elder Hinckleys Büro zusammen. Die Führer der Kirche kannten Ruffin schon seit mehreren Jahren, und auch Darius war ihnen durch seine Arbeit bei KSL bekannt. Keiner der Apostel hatte bislang jedoch Eugene kennengelernt.
„Wir sind ernsthaft besorgt wegen der Probleme, mit denen wir, unsere Familien und unsere Leute konfrontiert sind“, erklärten Darius und seine Freunde den Aposteln. Ruffin erzählte, dass seine Söhne das Interesse an der Kirche verloren hätten, da sie, obwohl sie das entsprechende Alter erreicht hatten, nicht das Aaronische Priestertum tragen durften. Es schmerzte ihn, dass sie nicht mehr in die Kirche gingen.
Die meisten Fragen stellte Eugene:
„Was sagen wir unseren Kindern, wenn sie uns fragen, ob wir sie taufen können, wo doch andere PV-Kinder darüber reden, dass sie von ihrem Vater getauft werden?
Können wir der Priestertumsversammlung beiwohnen?
Kann unter uns Schwarzen Missionsarbeit verrichtet werden?“
Elder Hinckley, Elder Monson und Elder Packer hörten verständnisvoll zu und vereinbarten ein erneutes Treffen mit Ruffin, Darius und Eugene, um diese und weitere Fragen zu besprechen. Sie räumten ein, dass die Kirche mehr für ihre schwarzen Mitglieder tun müsse.
„Wir glauben. Wir haben ein Zeugnis“, bestätigten die drei Freunde den Aposteln. „Wir als Schwarze wünschen uns – unabhängig vom Priestertum –, dass uns der Zugang zu den Segnungen des Evangeliums mehr als bisher gewährt wird.“
In Tokio spielte Kazuhiko Yamashita jedes Wochenende Basketballturniere. Das ließ ihm nur wenig Zeit, mit den Missionaren der Kirche zusammenzukommen. Die Missionare hatten kurz nach der Weltausstellung begonnen, ihn zu besuchen. Er traf sich gern mit ihnen. Sie waren ja Amerikaner, und er unterhielt sich gern mit Ausländern. Aber er vereinbarte oft Termine, die er später wieder absagte.
Religion war in seinem Leben einfach nie wirklich wichtig gewesen. Seine buddhistische Mutter ehrte zwar ihre Vorfahren, indem sie deren Gräber besuchte, aber die Familie betete oder meditierte nicht und befasste sich auch sonst nicht mit den Lehren ihrer Religion. Der Buddhismus war eine Tradition, die Kazuhiko übernommen hatte, aber sie hatte keinen allzu großen Einfluss auf seinen Alltag.
Die Missionare hingegen vertraten eine Kirche, deren Mitglieder mehrmals in der Woche zusammenkamen und zum Studium der heiligen Schriften und zur Einhaltung der Gebote angehalten wurden. Sich der Kirche anzuschließen bedeutete also nicht nur, dem Glauben einen erheblichen Teil seiner Zeit zu widmen. Es war eine lebensverändernde Entscheidung.
Kazuhiko war jedoch von der Botschaft der Missionare beeindruckt. Als er von Joseph Smiths erster Vision erfuhr, war er sprachlos. Er hatte keinerlei Frage. Ohne Weiteres glaubte er daran. Hätte er nur mehr Zeit für die Kirche – er würde ihre Botschaft vielleicht ernster nehmen.
Eines Tages schaute Kazuhiko in der Wohnung der Missionare vorbei, um sich dafür zu entschuldigen, dass er seine Termine nicht immer eingehalten hatte. „Bruder Yamashita“, sagte der eine Missionar, „ich fahre leider bald nach Hause.“ Seine Mission neigte sich dem Ende zu.
Die Nachricht kam überraschend und machte Kazuhiko traurig. Er beschloss, die Zeit der Missionare nicht mehr zu verschwenden. „Ich werde mich mehr anstrengen“, sagte er sich, „und endlich das Buch Mormon lesen.“
Er traf sich nun regelmäßig mit den Missionaren, besuchte die Versammlungen und lernte mehr über das wiederhergestellte Evangelium. Besonders gerne nahm er an den GFV-Aktivitäten am Donnerstagabend teil und schloss Freundschaft mit den Heiligen in Tokio.
Es war für die Kirche in Japan eine durchaus aufregende Zeit. In den fünfundzwanzig Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Zahl der Mitglieder in Japan von einigen Hundert auf mehr als zwölftausend gestiegen. Wie in Brasilien und anderen Ländern, in denen die Kirche schnell wuchs, gab es auch in Japan ein eigenes Übersetzungs- und Versandbüro. Generalautoritäten besuchten das Land regelmäßig, und die alltägliche seelsorgerische Arbeit oblag einheimischen Führungsverantwortlichen. Es gab jetzt vier Missionen in Japan und einen Pfahl in Tokio. Bald wollte die Kirche auch das Religionsinstitut für Universitätsstudenten eröffnen, und die Jüngeren sollten sich für das Seminar im Heimstudium einschreiben können.
Zwar war die Kirche vielen Japanern noch kein Begriff, aber der Pavillon auf der Expo ’70 hatte ihren Bekanntheitsgrad im Land gesteigert. Die Ausstellung hatte pro Tag zehntausende von Besuchern angezogen und damit bei weitem die Besucherzahlen des Kirchenpavillons auf der New Yorker Weltausstellung fünf Jahre zuvor übertroffen. Bis zum Ende der Expo waren von Besuchern im Pavillon über 650.000 Karten ausgefüllt worden, viele mit der Bitte um einen Besuch der Missionare. Zudem waren rund 50.000 Bücher Mormon verkauft worden.
Als Kazuhiko von den Missionaren unterwiesen wurde, verstand er nicht sehr viel von dem, was sie ihm beibringen wollten. Aber ihr Leben und ihr gutes Beispiel wirkten wie eine Botschaft von Gott. Er wünschte sich, er könnte mehr so sein wie die Missionare. Als er zum ersten Mal selbst betete, wie ihn die Missionare angeleitet hatten, spürte er, wie ihn die Gegenwart des Herrn umgab. Und als die Missionare fragten, ob er sich taufen lassen wolle, willigte er ein.
Das Datum wurde auf den 17. Juli 1971 festgelegt. Der Zweig hatte kein Taufbecken, also konstruierten die Missionare in der Küche des Gemeindehauses eines aus Altholz und einer großen Vinylfolie. Das Becken war nicht sehr tief, aber das Wasser reichte gerade aus, sodass Kazuhiko untergetaucht werden konnte.
Als später einer der Missionare eine Frau konfirmierte, die ebenfalls an diesem Tag getauft worden war, hielt er mitten im Segen inne und seine Stimme stockte vor Rührung. Kazuhiko öffnete die Augen, weil er wissen wollte, was los sei. Er sah, wie dem Missionar Tränen über das Gesicht liefen.
In diesem Moment konnte er die Liebe des Missionars – und die Liebe Gottes – zu allen im Raum spüren.
Nachdem Spencer W. Kimball Amtierender Präsident des Kollegiums der Zwölf Apostel geworden war, hatte er mehr zu tun denn je. Er arbeitete oft von frühmorgens bis halb elf oder elf Uhr nachts. Manchmal wachte er mitten in der Nacht auf und machte sich wiederum an die Arbeit. Er versuchte, seine Gewohnheiten ein wenig abzuändern, damit seine Arbeitstage weniger hektisch waren, konnte aber nicht so recht erkennen, wo er Abstriche machen könnte.
Binnen kurzem spürte er stechende Schmerzen in der linken Seite seines Halses. Zunächst waren die Schmerzen nur zeitweise da, aber schließlich schmerzten ihn Hals und Rachen unaufhörlich. Er litt auch häufig unter Schmerzen in der Brust, und selbst leichte körperliche Anstrengungen ermüdeten ihn. Auch Bewegung verbesserte seinen Zustand nicht. Schon bald bemerkte seine Frau Camilla, dass er schwerer atmete.
Im September 1971 sprach er mit Dr. Russell M. Nelson, dem neu berufenen Generalsuperintendenten der Sonntagsschule – einem bekannten Herzchirurgen –, unter vier Augen über seine Symptome. Dr. Nelson hörte aufmerksam zu und riet Elder Kimball, sofort einen Spezialisten aufzusuchen.
Daher wandte sich Elder Kimball schon bald an den Herzspezialisten Dr. Ernest Wilkinson, Sohn des ehemaligen Präsidenten der Brigham-Young-Universität. Dr. Wilkinson sah sich Elder Kimballs frühere Untersuchungsberichte an und führte weitere Tests durch. Als der Arzt die Ergebnisse durchlas, merkte der Apostel diesem seine Besorgnis an. „Sagen Sie es frei heraus“, bat er ihn.
„Aortenstenose“, konstatierte Dr. Wilkinson. Er erklärte, dass Elder Kimballs Aortenklappe, durch die das Blut aus dem Herzen fließt, verhärtet und verengt war. Sein Herz wurde immer schwächer, da es sich übermäßig bemühen musste, durch die defekte Herzklappe Blut zu pumpen.
Elder Kimball fragte, wie lange er noch zu leben habe. Der Arzt schätzte, er habe vielleicht noch ein, zwei Jahre, aber es sei auch möglich, dass es mit ihm jederzeit ohne Vorwarnung zu Ende gehe. Eine Operation könne sein Leben wohl verlängern, aber in Elder Kimballs Alter lägen die Überlebenschancen nur bei 50 Prozent.
Das waren verheerende Nachrichten. Elder Kimball hatte den Tod immer als etwas Unbestimmtes und weit Entferntes betrachtet. Jetzt kam es ihm so vor, als sei das Ende der Welt – oder der Anfang vom Ende – gekommen.
Am nächsten Tag ging Elder Kimball zu einer Versammlung mit der Ersten Präsidentschaft und seinen Mitaposteln im Salt-Lake-Tempel. In der Versammlung betete er im Stillen um Kraft, um trotz der drohenden Aussicht auf sein baldiges Ableben das Amt weiterhin gut ausüben zu können.
Nach dem Ende der Versammlung verließen die Männer den Tempel. Als Elder Kimball sah, wie die anderen in Zweier- oder Dreiergruppen vor ihm hinausgingen, kam ihm ein düsterer Gedanke: Vielleicht würden dieselben Männer bald zu zweit oder zu dritt seinen Sarg tragen.
Elder Kimball wusste, dass der Herr ihn heilen konnte. „Aber warum sollte er das tun?“, fragte sich der Apostel. Schließlich konnte er ja auch andere, besser qualifizierte Männer in das Kollegium der Zwölf Apostel berufen.
„Mein Fehlen würde ungefähr so viel Aufsehen erregen“, grübelte er, „wie das Ausblasen einer einzigen von vielen Kerzen.“
Etwa zu dieser Zeit wurden Ruffin Bridgeforth, Darius Gray und Eugene Orr eines Tages in das Büro von Gordon B. Hinckley gebeten.
Seit Juni hatten sich die drei Männer alle paar Wochen mit Elder Hinckley, Elder Monson und Elder Packer ausgetauscht. Schwierige Fragen zur Einschränkung bei Priestertum und Tempel beherrschten gewöhnlich die Diskussion, doch Ruffin schaffte es immer wieder, die Gemüter zu beruhigen.
Tatsächlich war es so: Je häufiger die Männer miteinander beratschlagten, desto mehr lernten sie einander lieben und achten. Darius war beeindruckt, dass Präsident Smith ihr Anliegen für wichtig genug erachtet hatte, um gleich drei Apostel daran zu beteiligen. Der Herr war bei den Zusammenkünften mit ihnen, und oft weinten sie sich einer an der Schulter des anderen aus.
Diese Sitzung nun eröffnete Elder Hinckley sogleich mit einer guten Nachricht. „Nach Gebet und reiflicher Überlegung“, erklärte er, „haben Präsident Smith und die Brüder des Kollegiums der Zwölf Apostel entschieden, eine Unterstützungsgruppe für schwarze Mitglieder der Kirche zu gründen.“
Die Führer der Kirche hatten über die Einrichtung einer solchen Gruppe gesprochen, seit Darius, Eugene und Ruffin in ihrer Liste der Fragen an den Propheten erstmals die Gründung eines Zweiges für Schwarze ins Spiel gebracht hatten. Elder Hinckley erklärte, die Gruppe solle als Teil des Pfahles Liberty in Salt Lake City agieren. Die Mitglieder der Gruppe sollten weiterhin die Abendmahlsversammlung und die Sonntagsschule in ihrer jeweiligen Heimatgemeinde besuchen, jedoch sollten sie ihre eigene Frauenhilfsvereinigung, Gemeinschaftliche Fortbildungsvereinigung und Primarvereinigung haben. Ziel sei es, den schwarzen Mitgliedern mehr Gemeinschaft zu bieten und auf sie zuzugehen, insbesondere auf junge Menschen, denen es schwerfiel, in der Kirche ihren Platz zu finden.
Die Apostel hatten Ruffin bereits zum Präsidenten der Gruppe berufen, und Ruffin hatte Darius als Ersten und Eugene als Zweiten Ratgeber vorgeschlagen. Elder Hinckley sprach nun die Berufungen aus, und die Berufenen nahmen sie an.
Kurze Zeit später, am 19. Oktober 1971, saß Darius auf dem Podium eines Gemeindehauses in Salt Lake City. Es war ein Dienstagabend, aber die Kapelle war voller Menschen in Sonntagskleidung. Darius sah wohl ein paar Schwarze, aber die meisten waren weiß.
Alle hatten sich versammelt, um der Gründung der von Darius, Ruffin und Eugene so benannten Genesis-Gruppe beizuwohnen, der ersten offiziellen Organisation der Kirche für schwarze Mitglieder. Elder Hinckley leitete die Versammlung und stellte die Gruppe und ihren Zweck vor. Dann bat Ruffin Bridgeforth in seiner Eigenschaft als Präsident der Gruppe um die Bestätigung der Beamten. Lucile Bankhead wurde als FHV-Präsidentin bestätigt. Anschließend gab Ruffin Zeugnis.
„Genesis bedeutet, wie Sie wissen, Anfang“, sagte er. „Dies ist ein Anfang.“ Er sprach von seiner Liebe zum wiederhergestellten Evangelium und seiner Dankbarkeit den Führern der Kirche und allen Anwesenden gegenüber. „Der Herr ist an unserer Seite. Wir werden Erfolg haben“, bekundete er. „Ich werde mich mehr anstrengen als jemals zuvor, damit dies gelingt.“
Als Präsident Bridgeforth sich setzte, forderte Elder Hinckley Darius auf, Zeugnis zu geben – was diesen völlig überraschte. Darius trat ans Rednerpult und bekannte: „Ich wollte heute Abend eigentlich gar nichts sagen. Das hätte ich als vermessen empfunden.“
Als er den Blick in die Runde schweifen ließ, sah er Mitglieder der Familie Felix, die ihn sieben Jahre zuvor mit dem Evangelium bekanntgemacht hatte. „Sie hätten einfach über mich hinwegsehen können – haben sie aber nicht“, erzählte er den Anwesenden. „Es war wichtig für mich, die Gelegenheit zu erhalten, das Evangelium kennenzulernen. Familie Felix hat es mir beharrlich immer wieder angetragen.“
Er zögerte lange und fuhr dann fort: „Ich habe oft gehört, wie Priestertumsträger in der Abendmahls- oder in der Fast- und Zeugnisversammlung aufstehen und sagen: Ich glaube daran, dass das Evangelium wahr ist.“
Nun wolle auch er Zeugnis geben. „Ich weiß, dass das Evangelium wahr ist“, verkündete Darius. „Und das ist ein unvergängliches Wissen.“
Nachdem Isabel Santana als Klassenbeste die Sekundarstufe in Benemérito abgeschlossen hatte, kehrte sie in ihre Heimatstadt Ciudad Obregón im Norden Mexikos zurück. Sie war sich nicht sicher, was sie als Nächstes machen wollte. Sie konnte nach Benemérito zurückkehren und die dreijährige Vorbereitungsschule für angehende Universitätsstudenten absolvieren. Aber sie erwog ernsthaft, zuhause zu bleiben und stattdessen die öffentliche Vorbereitungsschule vor Ort zu besuchen.
Isabels Vater fand es in Ordnung, sie selbst über ihre weitere Ausbildung entscheiden zu lassen. Ihre Mutter wollte jedoch nicht, dass sie in Obregón blieb, da sie befürchtete, Isabel könnte in eine der dort aktiven radikalen Studentenbewegungen hineingezogen werden.
„Wenn sie hier bleibt“, dachte ihre Mutter, „wird sie eine Revolutionärin werden wie alle anderen.“
Isabel war verunsichert. Daher bat sie Agrícol Lozano, ihren Staatsbürgerkundelehrer und Leiter der Vorbereitungsschule in Benemérito, um Rat. Er ermutigte sie, zurückzukehren und die Aufnahmeprüfung abzulegen.
„Komm sofort“, bat Agrícol sie. „Hier ist dein Platz.“
Isabel kehrte nach Mexiko-Stadt zurück, bestand die Prüfung und wurde an der Schule aufgenommen. Aber sie war sich nicht sicher, ob sie die richtige Wahl getroffen hatte, vor allem nachdem ein Eignungstest ergeben hatte, dass sie besonders befähigt für Sozialarbeit war. Doch einen solchen Beruf wollte sie keinesfalls ausüben.
„Ich gehe von der Schule ab“, kündigte sie eines Tages ihrem Mentor Efraín Villalobos an, dem sie voll und ganz vertraute. „Ich möchte die Vorbereitungsschule nicht absolvieren.“
„Nein, nein, nein“, wehrte Efraín ab. „Dein Platz ist hier!“ Er legte ihr nahe, es an der Lehrerausbildungsstätte von Benemérito zu versuchen. Diese dreijährige Schule wollte Studierende nicht nur auf die Universität vorbereiten, sondern auch auf die Lehrtätigkeit an einer der von der Kirche betriebenen Schulen in Mexiko. Das bedeutete, Isabel würde sofort nach Schulabschluss einen Job haben.
Efraín überzeugte sie, und sie wechselte die Schule.
Schnell fand sie Gefallen an den Kursen und mochte ihre Lehrer. In den ersten Jahren belegte sie sowohl Kurse in Allgemeinbildung als auch Kurse in Didaktik, Psychologie im Schulwesen und Geschichte der Pädagogik. Im letzten Jahr spezialisierte sie sich auf Didaktik im Grundschulalter und unterrichtete eine Woche lang an einer von der Kirche betriebenen Grundschule in Monterrey, einer Stadt im Nordosten Mexikos. Isabel hatte nie einen sonderlich ausgeprägten Mutterinstinkt gehabt und befürchtete, ihr fehle die Geduld für die Arbeit mit Kindern. Aber die Woche verlief gut.
Während ihrer Ausbildung freundete sich Isabel mit Juan Machuca an, einem jungen Mann von der Westküste Mexikos. Juan war erst kurz zuvor in der Mexiko-Mission Nord tätig gewesen. Neckend behaupteten einige Klassenkameraden schon, die beiden seien ein Paar. Isabel lachte und erwiderte, Juan sei der allerletzte, den sie heiraten würde. „Er ist ein guter Freund“, betonte sie. „Den werde ich doch nicht heiraten!“
Nach ihrem Abschluss wurden sie jedoch beide als Seminar- und Institutslehrer in Benemérito angestellt. Sie teilten sich ein Klassenzimmer, und es dauerte nicht lange, bis sie miteinander ins Kino gingen und mehr Zeit zusammen verbrachten. Anfang 1972, als Isabel und Juan sich in Isabels Wohnzimmer unterhielten, fragte Juan plötzlich: „Willst du mich heiraten?“
„Ja“, antwortete sie, ohne auch nur einen Moment zu zögern.
Sie heirateten standesamtlich im Mai – während der Sommerferien. Einige Wochen später legten sie zusammen mit anderen Heiligen über zweitausend Kilometer zurück, um im Tempel in Mesa im US-Bundesstaat Arizona in den Genuss der Tempelsegnungen zu kommen. Die dreitägige Busfahrt war sehr anstrengend, denn der Bus hatte keine Klimaanlage und sie klebten fast auf den Plastiksitzen fest.
Aber die Unannehmlichkeiten sollten sich lohnen. Mesa war der erste Tempel, der die Tempelverordnungen auch in spanischer Sprache anbot, und seinerzeit war er für die Mitglieder in Mexiko und Mittelamerika zudem der nächstgelegene Tempel. Die Fahrt dorthin war allerdings lang und verlangten den Heiligen große Opfer ab. Viele nahmen diese Strapazen auch auf sich, um an der Jahreskonferenz für lateinamerikanische Mitglieder teilzunehmen, die von den Pfählen in Mesa ausgerichtet wurde. Diese Konferenz dauerte stets mehrere Tage und vermittelten den Teilnehmern ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und geistigen Gemeinschaft.
Als Isabel und Juan im Tempel ankamen, empfingen sie das Endowment und wurden anschließend für Zeit und Ewigkeit aneinander gesiegelt. Während sie dort Gott verehrten, spürten sie, dass der Tempel ihre Perspektive auf das Leben erweiterte und ihre Hingabe an das Evangelium Jesu Christi vertiefte.
Anfang 1972 waren Billy Johnsons Kirchengruppen in und rund um Cape Coast in Ghana bereits auf hunderte von Gläubigen angewachsen. Zu den allertreuesten Mitgliedern gehörte Billys Mutter Matilda. Jacob und Lily Andoh-Kesson und ihre Kinder, die sich der Gruppe bald nach Billys Ankunft in Cape Coast angeschlossen hatten, waren ebenfalls engagierte Mitglieder und Freunde.
Als die Anzahl der Versammelten wuchs, machte Billy ein altes Gebäude ausfindig, das früher zur Lagerung von Kakaobohnen genutzt worden war. Jetzt war der Raum mit Bänken, einigen kleinen Stühlen und Tischen, einem Rednerpult und einer langen Kirchenbank an der Wand ausgestattet. Einige Leute in der Umgebung von Cape Coast machten sich über Billy und seine Anhänger lustig, weil sie sich in dem heruntergekommenen Gebäude trafen. Sie bezeichneten sie als „Kakaoschuppen-Kirche“. Aber die Zahl der Gläubigen wuchs weiter. Sie hatten kein Problem damit, sich dort zu versammeln, auch wenn durch das löchrige Dach der Regen tropfte und alle zusammenrücken oder Regenschirme aufspannen mussten, um trocken zu bleiben.
Billy tat sein Bestes, um das bescheidene Gebäude einladend und gemütlich zu gestalten. Er hängte zwischen den beiden Doppeltüren am Eingang ein Schild mit der Aufschrift „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen)“ auf. Ein Wandgemälde von Christus am Kreuz zierte eine Wand, an einer anderen war ein Bild des Erretters mit erhobenen Armen und den Worten „Kommt zu mir“ über seinem Haupt zu sehen. An den hellblau gestrichenen Wänden hingen Bilder von Joseph Smith, dem Tabernakelchor und weiteren Szenen aus dem Kirchenleben.
Lily Andoh-Kesson hielt das Gebäude sauber. Sie ging schon frühmorgens hin, um es für die Versammlungen herzurichten. Ihrer Tochter Charlotte erzählte sie, sie habe dort Engel gesehen, und sie wollte, dass die Engel einen sauberen Platz vorfänden.
Billys Gemeinde traf sich dreimal wöchentlich morgens und abends zum Gottesdienst. Dann war der Schuppen erfüllt von Liedern, Tänzen, Händeklatschen, Gebeten, Jubelrufen und Predigten. Manchmal ließ Billy, wenn er predigte, seinen kleinen Sohn Brigham auf seinen Schultern sitzen.
In seinen Predigten vermittelte Billy die Grundsätze, die er dem Material der Kirche, zum Beispiel den dreizehn Glaubensartikeln, entnommen hatte, und erzählte Geschichten von Mitgliedern aus der Anfangszeit der Kirche. Doch am allerliebsten griff er bei der Unterweisung auf das Buch Mormon zurück.
Billy glaubte fest, eines Tages würden Missionare vom Hauptsitz der Kirche kommen. Doch er befürchtete, die Mitglieder seiner Gruppe könnten durch das lange Warten mutlos werden. Einige hatten die Gruppe sogar verlassen, nachdem Kritiker ihnen berichtet hatten, die Kirche möge keine Schwarzen und werde ganz sicher niemals Missionare senden.
Gelegentlich bescherte Billys unermüdliches Predigen ihm Schwierigkeiten mit den Behörden vor Ort. Ihm wurde zur Last gelegt, Irrlehren zu verbreiten, weil er Zeugnis gab, dass die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage die einzige wahre Kirche auf Erden sei.
Einmal wurde er von der Polizei verhaftet. Bevor man ihn auf die Wache bringen konnte, sah er sich um in der Hoffnung, ein bekanntes Gesicht zu entdecken – jemanden, der ihn auf die Wache begleiten könnte. Zunächst war da niemand. Dann jedoch erblickte er einen Passanten, einen jungen Mann namens James Ewudzie, einen Freund seiner Familie.
James hatte Tränen in den Augen, als er auf Billy zukam. Zwar gehörte er nicht zu Billys Gemeinde, aber er berührte ihn am Arm und nannte ihn „Sofo“ – das Fante-Wort für Priester. „Keine Sorge“, sagte er beruhigend zu Billy. „Ich komme mit.“
Nachdem Billy auf die Wache gebracht worden war, verwickelte er James und die Polizisten schnell in ein Gespräch über Religion. Vier der Polizeibeamten waren von seiner Botschaft angetan und glaubten seinen Worten. Der Polizeichef schloss Billy ebenfalls sofort ins Herz, und schon bald ließen die Beamten James und ihn gehen. Später trug der Polizeichef Billy an, er könne der Polizei von Cape Coast jeden Freitagvormittag Evangeliumsunterricht erteilen.
James hatte unterdessen einen Traum gehabt, in dem er Billy im Gemeindehaus traf. Billy forderte ihn auf, sich hinzuknien, und nachdem er dies getan hatte, schien Licht durch das Dach. James schloss die Augen, aber das Licht leuchtete immer noch um ihn her. Dann hörte er eine Stimme, die bedächtig seinen Namen rief.
„Ich will meine Kirche nach Ghana bringen“, sprach der Herr. Er forderte James auf, sich mit Billy zusammenzutun. „Wenn du ihm hilfst, werde ich dich segnen – und ich werde Ghana segnen.“
James wusste: Was der Herr ihm im Traum zugesichert hatte, war wahr, und so folgte er seinem Gebot.