Kapitel 28
Der Weg des Herrn
„Er ist heimgegangen.“
Präsident Gordon B. Hinckley fühlte sich wie betäubt, als er die Worte ins Telefon sprach. Am anderen Ende der Leitung war seine Frau Marjorie. Er hörte sie weinen. Beide hatten darum gebetet, dieser Tag möge doch niemals kommen.
Es war der 3. März 1995. Nicht lange vorher, am selben Vormittag, hatte Präsident Hinckley erfahren, dass Präsident Howard W. Hunter zuhause verstorben war. Präsident Hunter war wegen einer Krebserkrankung in Behandlung gewesen, und sein Gesundheitszustand hatte sich rapide verschlechtert. Dennoch war Präsident Hinckley erschüttert. Er und Präsident Thomas S. Monson waren sogleich zur Wohnung des Propheten gefahren, um Inis Hunter ihr Beileid auszusprechen. Dann waren sie in ein anderes Zimmer gegangen und hatten die nun notwendigen Telefonate geführt.
Als Präsident Hinckley sein Gespräch mit Marjorie beendete, verspürte er tiefe Traurigkeit. Er hatte dem Herrn über dreißig Jahre lang Seite an Seite mit Präsident Hunter gedient. Nun hatte er einen guten, liebevollen und weisen Freund verloren. Der Tod des Propheten machte ihn auch zum dienstältesten Apostel, was bedeutete, dass die Führung der Kirche jetzt auf seinen Schultern ruhte. Unversehens fühlte er sich völlig einsam.
„Ich kann nur beten und um Hilfe bitten“, dachte er.
Fünf Tage später führte Präsident Hinckley bei der Trauerfeier für Präsident Hunter im Tabernakel in Salt Lake City den Vorsitz. „Für Präsident Hunter war das Leben eher eine Mission als eine Karriere“, sagte er den Trauergästen. „Seine Stimme war, was die Verkündigung der Lehren des Evangeliums Jesu Christi und den Fortschritt des Werkes der Kirche anbelangt, tonangebend und kraftvoll.“
Obwohl Präsident Hunters Amtszeit mit neun Monaten die kürzeste aller Präsidenten in der Geschichte der Kirche gewesen war, hatte er viel bewirkt. Die Erste Präsidentschaft hatte für umfangreiche humanitäre Hilfe gesorgt, beispielsweise für die Opfer der Lebensmittelknappheit in Laos in Südostasien, des Bürgerkriegs in Ruanda in Ostafrika und der Überschwemmungen und Brände im Süden der Vereinigten Staaten. Obwohl sein schlechter Gesundheitszustand seine Reisefähigkeit einschränkte, hatte er in zwei Städten der USA – in Orlando in Florida sowie in Bountiful in Utah – einen Tempel geweiht. Am 11. Dezember 1994 war er nach Mexiko-Stadt gereist und hatte dort den zweitausendsten Pfahl der Kirche gegründet.
Eines der größten Vermächtnisse Howard W. Hunters als Apostel war seine Liebe zu allen Menschen, unabhängig von ihrer Religion. Er empfand auch eine tiefe geistige Verbundenheit zum Heiligen Land. Noch kurz vor seinem Tod hatte er geplant, mit Elder Jeffrey R. Holland, der mittlerweile dem Kollegium der Zwölf Apostel angehörte, zu einem letzten Besuch nach Jerusalem zurückzukehren. Es stimmte ihn traurig, dass er wegen seiner nachlassenden Gesundheit dann doch nicht reisen konnte.
Am 9. März, dem Tag nach der Beisetzung Präsident Hunters, wachte Präsident Hinckley früh auf und konnte nicht wieder einschlafen. Das Gewicht seiner neuen Verantwortung – und der Entscheidungen, die er treffen musste – lastete auf ihm.
Also beschloss er, zu fasten und einige Zeit allein im Salt-Lake-Tempel zu verbringen. Er holte sich den Schlüssel zu einem Raum im dritten Stock, wo die Erste Präsidentschaft und das Kollegium der Zwölf Apostel jede Woche tagten. Dort zog er die Schuhe aus und schlüpfte in seine weißen Tempelschuhe. Dann las er in den heiligen Schriften.
Schließlich wanderte sein Blick zu drei Bildern des Erretters an der Wand. Auf einem war die Kreuzigung dargestellt. Präsident Hinckley dachte intensiv über den Preis nach, den der Erretter gezahlt hatte, um auch ihn zu erlösen. Wieder kam ihm seine enorme Verantwortung als Prophet des Herrn in den Sinn. Er weinte, und Gefühle der Unzulänglichkeit überkamen ihn.
Dann richtete er das Augenmerk auf das Gemälde von Joseph Smith an der Wand gegen Norden. Zu seiner Rechten, an der östlichen Wand, hingen die Porträts aller Präsidenten der Kirche – von Brigham Young bis Howard W. Hunter. Präsident Hinckley betrachtete jedes Gemälde der Reihe nach eingehend. Ab Heber J. Grant hatte er jeden Präsidenten der Kirche persönlich gekannt. Sie hatten großes Vertrauen in ihn gesetzt, und er hatte sie ins Herz geschlossen. Jetzt, da er die Porträts betrachtete, schienen sie fast lebendig zu werden. Er spürte ihre Blicke auf sich, hatte den Eindruck, sie würden ihn leise ermutigen und ihm ihre Unterstützung zusagen. Es gab keinen Grund für ihn, sich zu fürchten.
Auf den Knien brachte Präsident Hinckley seine Fragen vor den Herrn und empfing durch die Macht des Geistes göttliches Wort dazu. Präsident Hinckleys Herz und Sinn füllten sich mit Frieden und Zuversicht. Er wusste, er besaß den festen Willen, das Werk voranzubringen.
Er hatte bereits beschlossen, Thomas S. Monson als Ersten Ratgeber zu berufen. Nun hatte er die Eingebung, Elder James E. Faust als Zweiten Ratgeber zu wählen. Noch auf den Knien betete er um die Bestätigung dieser Entscheidung, und ein warmes Gefühl durchflutete sein Herz.
Als Präsident Hinckley später den Tag Revue passieren ließ, fühlte er sich in seiner neuen Berufung schon wohler. „Ich hoffe, dass der Herr mich für das geschult hat, was er von mir erwartet“, schrieb er in sein Tagebuch. „Ich werde ihm vollkommene Treue erweisen und gewiss nach seiner Weisung trachten.“
Etwa zur gleichen Zeit besuchten Darius Gray und Marie Taylor regelmäßig das bundesstaatliche Gefängnis von Utah, wo sie sich mit den hunderten von Insassen trafen, die an der Urkundenauswertung der Aufzeichnungen der Freedman’s Bank beteiligt waren.
Die Gefangenen arbeiteten ehrenamtlich in einem Center für Familiengeschichte, das an die Gefängniskapelle angrenzte. Um dorthin zu gelangen, mussten Darius und Marie ein Wirrwarr an bewachten Gängen mit schweren Metalltoren und versperrten Türen durchqueren. Darius war etwas nervös gewesen, als ihn Marie das erste Mal mitgenommen hatte, vor allem in den Bereichen, in denen sie von Häftlingen umgeben waren. Aber jetzt besuchte er das Gefängnis alle paar Wochen und hatte sich daran gewöhnt.
Als das Projekt zur Urkundenauswertung begann, befand sich die familiengeschichtliche Forschung in einem tiefgreifenden Umbruch. Im Nu ersetzten Computer Aktenschränke und gedruckte Verzeichnisse und machten es sehr viel effizienter, Daten zu sammeln und darauf zuzugreifen. In den 1970er und 1980er Jahren hatte die Kirche begonnen, sich bei Tempelarbeit und familiengeschichtlicher Forschung der neuen Technologie zu bedienen. Anfang der 1990er Jahre hatte die Kirche schließlich das Computerprogramm TempleReady entwickelt. Diese Anwendung erleichterte es den Besuchern in einem Center für Familiengeschichte – wie etwa dem im Gefängnis –, Namen für heilige Handlungen im Tempel einzureichen.
Das Center für Familiengeschichte, in dem die Gefängnisinsassen arbeiteten, verfügte über mehrere an den Wänden aufgereihte Mikrofilm-Lesegeräte. Marie hatte mit der Family History Library besprochen, dass eine Kopie des Mikrofilms der Freedman’s Bank im Gefängnis aufbewahrt werden dürfe. Nachdem die ehrenamtlichen Helfer die Angaben in ein speziell für das Projekt entworfenes Formular eingetragen hatten, gingen sie damit in einen Nebenraum und tippten dort die Daten in eine Computerdatenbank ein. Auf Weisung von Marie wurde jeder Datensatz von den dort ehrenamtlich Tätigen mehrfach überprüft. Zwei lasen jeweils unabhängig voneinander dieselben Angaben aus, und ein dritter verglich diese mit dem Originaldokument, um sicherzustellen, dass die Daten auch wirklich korrekt digitalisiert wurden.
Der Leiter des Centers für Familiengeschichte im Gefängnis war ein Mann, der eine lebenslange Haftstrafe verbüßte. Er sorgte dafür, dass die Arbeit voranging und gut organisiert war. Darius war beeindruckt von der Begeisterung der ehrenamtlichen Helfer und ihrer Gewissenhaftigkeit bei jedem Detail. Die Gefängnisbeamten berichteten erfreut, dass die Häftlinge, die an den Bankunterlagen arbeiteten, in der Regel keinerlei Probleme mit anderen Gefangenen verursachten.
Das Projekt stand allen in Frage kommenden Inhaftierten offen, unabhängig von ihrer Religion. Wenn Darius und Marie mit den Ehrenamtlichen zusammenarbeiteten, betonten sie stets den geistigen Aspekt des Projekts. Gefangene, die in der Kirche aufgewachsen waren, verstanden die Rolle familiengeschichtlicher Forschung bei der Zusammenführung von Familien für die Ewigkeit. Einige dieser Männer hatten keinerlei Aussicht darauf, selbst aus dem Gefängnis entlassen zu werden. Aber es brachte ihnen Freude, durch ihre Arbeit andere aus dem Gefängnis der Geister zu befreien. Darius und Marie begannen ihre Termine im Gefängnis immer mit einem Gebet, und sie ermunterten die ehrenamtlichen Helfer, bei der Arbeit an dem Projekt auf ihre Weise zu beten.
Hin und wieder kam ein Häftling zu Darius und bat um einen Priestertumssegen. Darius kam dieser Bitte stets nach. Als er diesen Menschen, die alle Arten von Verbrechen und Vergehen begangen hatten, geistlich diente, wurde er von der Gewissheit erfüllt, dass auch sie Kinder Gottes waren.
Zu dieser Zeit hielt die Kirche ihre Mitglieder dazu an, beim Tempel die Namen eigener Angehöriger einzureichen. Man konnte aber auch Namen von Personen einreichen, mit denen man nicht verwandt war. Die Gefangenen nutzten daher regelmäßig TempleReady, um Namen aus dem Projekt Freedman’s Bank für Tempelverordnungen aufzubereiten. Zur Unterstützung dieser Arbeit hatte Marie für die Tempelarbeit eine Art „Familienkartei“ angelegt, die nach Elijah Able, einem der ersten schwarzen Heiligen, benannt war. Die Datei war Tempelbesuchern in den Vereinigten Staaten und in Südafrika zugänglich. Wenn sie also für jemanden aus den Aufzeichnungen der Freedman’s Bank eine heilige Handlung vollziehen wollten, konnten sie einfach zum Tempel gehen und dort einen Namen aus der Familienkartei anfordern.
Eines Abends gingen Darius und Marie mit einigen Freunden zum Jordan-River-Utah-Tempel, um für Familien aus den Aufzeichnungen der Freedman’s Bank Siegelungen durchzuführen. Obwohl die Gruppe an die zwanzig Personen umfasste, war sie bei der Arbeit noch auf die Hilfe weiterer Tempelbesucher angewiesen. Den ganzen Abend über siegelten sie Familien aneinander, die zu Lebzeiten durch die Sklaverei grausam voneinander getrennt worden waren.
Vor ihrem Tempelbesuch hatten Darius und Marie den Gefängnisinsassen von ihrem Vorhaben erzählt. Darius hatte sich für den Jordan-River-Tempel entschieden, weil er seinem Wohnort am nächsten war – aber auch, weil er relativ nahe beim Gefängnis war.
An diesem Abend versammelten sich mehrere Häftlinge, die an dem Projekt mitarbeiteten, an einem Fenster in einer Ecke des Gefängnisses. Das Fenster war zwar schmal, aber es bot doch einen Blick auf das Salzseetal und den Jordan-River-Tempel.
Obwohl die Ehrenamtlichen nicht persönlich anwesend sein konnten, unterstützten sie Darius und Marie in Gedanken bei ihrer heiligen Arbeit.
In seinem ersten Amtsjahr als Präsident der Kirche beobachtete Gordon B. Hinckley die Kirche in Asien aus der Ferne. Der Bau des Tempels in Hongkong hatte im Januar 1994 begonnen. Präsident Hinckley wurde regelmäßig über die Fortschritte informiert. Bei der Planung von Veranstaltungen rund um die Weihung des Tempels beriet er sich zudem mit den führenden Amtsträgern des Gebiets Asien.
Präsident Hinckley freute sich sehr über die Fortschritte der Kirche in der Region. Seit 1955 war die Kirche in Asien von eintausend Mitgliedern auf fast sechshunderttausend angewachsen. In Japan, Südkorea, Taiwan und den Philippinen war die Kirche jetzt stark vertreten und verfügte jeweils über einen Tempel. Die Kirche begann außerdem, in Ländern wie Thailand, der Mongolei, Kambodscha, Indien und – abermals – auch in Vietnam zu wachsen. In ganz Asien sorgte eine heranwachsende Generation junger, treuer Heiliger für Veränderungen.
In Taipeh hatte Kuan-ling „Anne“ Liu gerade ihr letztes Schuljahr an der ersten Highschool für Mädchen beendet, wo sie unter viertausend Schülerinnen das einzige Mitglied der Kirche war. Wie so viele Schüler in Taiwan hatte auch Anne einen anspruchsvollen Stundenplan. Sie stand kurz vor sechs Uhr auf, stieg um halb sieben in den Bus und verbrachte die nächsten neun Stunden in der Schule. Nach dem Abendessen lernte sie noch einige Stunden in einem Klassenzimmer, bevor sie um acht Uhr am Abend wieder mit dem Bus nach Hause fuhr.
Dennoch nahm sich Anne jeden Abend vor dem Schlafengehen Zeit, in den heiligen Schriften zu lesen. Immer mehr Führer der Kirche betonten, welch wesentlichen Bestandteil der Gottesverehrung das tägliche Schriftstudium darstelle. Anne war der Meinung, dass Gebet und Schriftstudium ihr halfen, nicht mutlos zu werden und in der Schule besser zu lernen. Sonntags, wenn viele ihrer Mitschülerinnen für die Schule lernten, besuchte sie vor den regulären Versammlungen in Taipeh noch den Seminarunterricht. In ihrer Gemeinde begleitete sie zudem den Gesang am Klavier.
„Wenn ich zur Abendmahlsversammlung gehe und den Ansprachen zuhöre“, stellte sie fest, „habe ich immer eine positivere Einstellung und bin glücklicher.“
In der Mongolei unterrichtete die einundzwanzigjährige Sojolmaa Urtnasan in ihrem Zweig in der Hauptstadt Ulan-Bator die Jungen Damen. Der Zweig hatte ein paar hundert Mitglieder. Davon waren die meisten im Teenageralter oder in den Zwanzigern und gehörten der Kirche erst seit weniger als einem Jahr an. Sojolmaa selbst war erst wenige Monate zuvor getauft worden, und sie brannte vor Begeisterung. Als sie im Teenageralter war, starben ihre Eltern beide innerhalb eines Jahres. Sojolmaa war wütend auf Gott.
„Ich hatte im Prinzip zwei Gesichter“, erzählte sie, „äußerlich war ich glücklich und kontaktfreudig, innerlich unglücklich und schüchtern.“ Um ihren Schmerz zu betäuben, ging sie auf Partys und trank.
Das änderte sich erst, als eine Freundin, die sich für die Kirche interessierte, sie zu einer Abendmahlsversammlung einlud. Bereits an ihrem ersten Sonntag spürte Sojolmaa einen Frieden und eine Zugehörigkeit, die sie nie zuvor erlebt hatte. Bald erfuhr sie, dass sie durch Jesus Christus ein neuer Mensch werden könne. Und als ihr der Erlösungsplan erklärt wurde, strömten ihr Tränen über die Wangen.
„Ich wusste, dass ich am richtigen Ort war“, erzählte sie später. Schon bald wurde sie eine der ersten Missionarinnen aus der Mongolei.
In Thailand wussten die Mitglieder, wie wichtig der Tempel war, und brachten große Opfer, um dorthin zu gelangen. 1990 flogen etwa zweihundert thailändische Heilige auf die Philippinen, um in Manila das Haus des Herrn zu besuchen. Die Reise war kostspielig. Um das Flugticket zahlen zu können, mussten viele Heilige über ein Jahr lang sparen.
Als Präsident des Distrikts Khon Kaen in Zentralthailand erlebte Kriangkrai Phithakphong solche täglichen Opfer aus erster Hand. Viele Mitglieder des Distrikts waren arm. Einige besaßen kaum genug Geld zum Überleben, da sie keine feste Arbeit und daher kein regelmäßiges Einkommen hatten. Dennoch brachten sie sich in der Kirche ein und besuchten die Versammlungen, auch wenn sie dafür weite Strecken zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Bus zurücklegen mussten.
„Als wir nach Manila flogen, war das ein Meilenstein in der Geschichte der Kirche in Thailand“, sagte Kriangkrai rückblickend. „Alle hatten hart gearbeitet, um das Geld für die Reise aufzubringen.“ Sogar seine zehnjährige Tochter half mit, die Reise zu finanzieren, indem sie Holzkohle verkaufte. Am Ende schafften es Kriangkrai, seine Frau Mukdahan und ihre Kinder, zum Tempel zu reisen – und ihre Erlebnisse dort waren die Mühsal und die Opfer wert.
„Es brachte einen besonderen Geist in unsere Familie, dass wir im Tempel aneinander gesiegelt sind“, bestätigte Kriangkrai. „Jetzt will nicht nur unser sechzehnjähriger Sohn auf Mission gehen – seine beiden jüngeren Schwestern wollen es ihm gleichtun.“
Am Abend des 9. August 1995 beschloss die neunundfünfzigjährige Celia Ayala de Cruz, zu einer Aktivität der Frauenhilfsvereinigung zu Fuß zu gehen. Zu den Versammlungen kam sie gern pünktlich, doch die Schwester, die versprochen hatte, sie zur Kirche mitzunehmen, war nicht aufgetaucht. Zum Glück war das Gemeindehaus nur acht Minuten Fußweg von ihrem Zuhause entfernt. Wenn sie also sofort losging, würde sie mit ein paar Minuten Reserve rechtzeitig ankommen. Sie gab heute in der Frauenhilfsvereinigung einen Quilting-Kurs.
Celia lebte in der Karibik – in Ponce, einer Stadt an der Südküste Puerto Ricos. Missionare waren in der Karibik bereits seit den 1960er Jahren tätig, vor allem in Puerto Rico und später in der Dominikanischen Republik. In beiden Ländern gab es mittlerweile zehntausende Heilige. Das wiederhergestellte Evangelium hatte auch in anderen Inselstaaten und Territorien Wurzeln geschlagen und Menschen unterschiedlichster Kultur, Religion, Sprache und Ethnie erreicht. Daher gab es in Städten und Dörfern in der gesamten Karibik nun schon Mitglieder der Kirche.
Als Celia sich auf den Weg zu ihrer Aktivität machte, hatte sie eine Handtasche dabei, in der sich ein Fünf-Dollar-Schein und ein als Geschenk verpacktes Buch Mormon befanden. Seit Präsident Ezra Taft Benson die Heiligen aufgefordert hatte, sich wiederum verstärkt dem Buch Mormon zuzuwenden, suchten Celia und viele andere Mitglieder nach Möglichkeiten, das Buch weiterzugeben. Die Initiative „Das Buch Mormon von Familie zu Familie“ hatte die Heiligen dazu angeregt, ihr Zeugnis in ein Buch Mormon zu schreiben und dieses dann zu verschenken. Anfangs mussten sie die diesem Zweck gewidmeten Bücher selbst kaufen. 1990 richtete die Kirche dann aber einen Spendenfonds ein, sodass das Buch weltweit kostenlos verteilt werden konnte.
In den sechzehn Jahren, die Celia Mitglied der Kirche war, hatte sie das Buch Mormon mehrmals gelesen. Nun machte eine Kollegin wegen Eheproblemen eine schwere Zeit durch, und Celia dachte, das Buch könne ihr helfen. Also hatte sie ein Buch Mormon in einen Geschenkkarton gelegt, in schönes Papier eingewickelt und mit einer Schleife versehen. Sie hatte auch eine Postkarte mit ihrer Adresse und ihr Zeugnis vom Buch Mormon beigelegt. An diesem Abend nahm sie das Geschenkpaket mit zur Kirche, um den FHV-Schwestern zu zeigen, wie sich das Buch Mormon weitergeben ließ.
Kurz vor dem Gemeindehaus nahm Celia hinter einem Park eine Abkürzung. Als sie durch ein Tor ging, sprang ein großer junger Mann mit einem Messer auf sie zu. Er stieß sie nieder, und sie fiel rücklings in einen Flecken feuchten Unkrauts.
„Sie greifen eine Dienerin des Herrn an!“, rief Celia dem Unbekannten zu.
Dieser erwiderte nichts. Zuerst dachte Celia, er wolle sie umbringen. Doch dann schnappte er sich ihre Tasche und wühlte darin, bis er den Fünf-Dollar-Schein und das als Geschenk verpackte Buch Mormon fand. Da durchströmte sie ein ruhiges Gefühl. Sie wusste, der junge Mann würde ihr nicht wehtun.
„Herr“, betete sie im Stillen, „wenn das der Weg ist, den du für diesen Jungen gewählt hast, damit er sich zum Evangelium bekehrt, dann wird er mich nicht umbringen.“
Mit dem Messer in der Hand nahm der junge Mann das Geld und das Buch Mormon und rannte hinaus in die Abenddämmerung.
Auf der anderen Seite des Atlantiks lebte Willy Binene noch immer mit seiner Familie in Luputa in Zaire. Es war nicht das Leben, das er sich als Student der Elektrotechnik in Lubumbashi vorgestellt hatte. Luputa war ein Dorf auf dem Lande. Doch solange bei ihnen in Kolwezi ethnische Unruhen herrschten, würden seine Familie und er eben in Luputa bleiben und in der Landwirtschaft arbeiten.
Glücklicherweise hatte Willys Vater ihm schon als Junge Landarbeit beigebracht, sodass er bereits die Grundlagen des Anbaus von Bohnen, Mais, Maniok und Erdnüssen kannte. Bis zur ersten Bohnenernte hatte die Familie jedoch nur sehr wenig zu essen. Sie betrieben Ackerbau für den Eigenbedarf. Das wenige, das ihnen von der Ernte übrigblieb, verkauften sie, um sich Salz, Öl, Seife und etwas Fleisch zu beschaffen.
Von den Mitgliedern der Kirche, die sich aus Kolwezi hierher in Sicherheit gebracht hatten, ließen sich etwa fünfzig in Luputa nieder. Im Dorf gab es zwar keinen Zweig, aber sie kamen jede Woche in einem großen Haus zum Gottesdienst zusammen. Obwohl mehrere Männer aus der Gruppe das Priestertum trugen, unter ihnen etwa auch der frühere Distriktspräsident von Kolwezi, fühlten sie sich nicht befugt, die Abendmahlsversammlung abzuhalten. Stattdessen richteten sie eine Sonntagsschulklasse ein, die abwechselnd von einem der Ältesten geleitet wurde.
Während dieser Zeit bemühten sich Willy und seine Glaubensbrüder und -schwestern mehrfach um Kontaktaufnahme mit dem Missionsbüro in Kinshasa, jedoch ohne Erfolg. Trotz alledem legten die Mitglieder, wann immer sie Geld verdienten, ihren Zehnten beiseite und warteten auf einen Zeitpunkt, da sie ihn einem bevollmächtigten Führer der Kirche aushändigen könnten.
Eines Tages im Jahr 1995 beschloss Willys Familie, er solle nach Kolwezi zurückfahren und versuchen, ihr altes Haus zu verkaufen. Die Heiligen in Luputa wussten, dass er dort den Distriktspräsidenten treffen würde, und sahen darin also eine gute Gelegenheit, ihren Zehnten abzuliefern. So steckten sie das Geld in Umschläge, die sie Willy und einem weiteren Mitglied aushändigten, das mit ihm reiste, und schickten die beiden los.
Auf der viertägigen Zugfahrt nach Kolwezi versteckte Willy die Tasche mit den Zehntenumschlägen unter seiner Kleidung. Sein Reisebegleiter und er waren während der Fahrt nervös und ängstlich. Sie schliefen im Zug und stiegen an den Bahnhöfen nur aus, um Fufu und andere Lebensmittel zu kaufen. Sie waren auch besorgt, was sie wohl in Kolwezi erwartete, wo man den Kasaianern immer noch feindlich gesinnt war. Aber sie fanden Trost in der Geschichte von Nephi, der ja die Messingplatten auch unter schwierigen Umständen geholt hatte, und vertrauten darauf, dass der Herr sie und die Zehntenspenden beschützen würde.
Als sie schließlich in Kolwezi ankamen, gingen sie zum Haus des Distriktspräsidenten, der ihnen sogleich bei sich ein Dach über dem Kopf anbot. Einige Tage später kamen die neuen Leiter der Zaire-Mission Kinshasa, Roberto und Jeanine Tavella, in die Stadt. Der Distriktspräsident stellte ihnen Willy und seinen Reisebegleiter vor.
„Sie gehörten früher dem Zweig Kolwezi an“, erklärte der Distriktspräsident den Tavellas. „Aufgrund der Geschehnisse hier sind sie nach Luputa geflüchtet. Und jetzt sind sie zurückgekommen. Sie wollten Sie kennenlernen.“
„Erzählen Sie mir mehr“, forderte Präsident Tavella sie auf. „Sie sind aus Luputa?“
Willy erzählte dem Präsidenten von ihrem Schicksal und wie weit sie gereist waren. Dann zog er die Zehntenumschläge hervor. „Das ist der Zehnte der Mitglieder in Luputa“, sagte er. „Sie haben ihren Zehnten aufgehoben, weil sie nicht wussten, wo sie ihn abliefern sollten.“
Präsident Tavella und seine Frau brachten kein Wort heraus. Tränen liefen ihnen über die Wange. „Welch unfassbar großen Glauben Sie haben!“, sagte der Missionspräsident schließlich mit zitternder Stimme.
Willy wurde von Freude und innerem Frieden erfüllt. Er glaubte daran, dass Gott die Mitglieder in Luputa für das Zahlen des Zehnten segnen würde. Präsident Tavella riet ihnen, geduldig zu sein. „Richten Sie, wenn Sie zurückkehren, allen in Luputa aus, dass ich sie liebhabe“, trug er ihnen auf. „Sie alle haben den Segen des ewigen Vaters, denn einen solchen Glauben habe ich noch nie erlebt.“
Er versprach, so bald wie möglich einen seiner Ratgeber nach Luputa zu schicken. „Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird“, erklärte er, „aber der Ratgeber kommt ganz bestimmt.“
Kurze Zeit nach dem Überfall fand Celia Ayala de Cruz in ihrem Briefkasten einen kurzen Brief, der nicht unterzeichnet war. „Verzeihen Sie mir, verzeihen Sie mir“, stand da. „Sie können sich gar nicht vorstellen, wie leid es mir tut, dass ich Sie angegriffen habe.“
Celia las weiter. Der junge Mann schilderte, wie das Buch Mormon, das er ihr gestohlen hatte, sein Leben verändert habe. Als er das als Geschenk verpackte Buch gesehen hatte, dachte er zuerst, es sei etwas, was er verhökern könne. Doch dann öffnete er das Paket und las das Zeugnis, das Celia für ihre Kollegin geschrieben hatte. „Die Botschaft, die Sie in dieses Buch geschrieben haben, trieb mir die Tränen in die Augen“, berichtete er Celia. „Seit Mittwochabend kann ich nicht mehr aufhören, in dem Buch zu lesen.“
Den jungen Mann hatte besonders Lehis Geschichte bewegt. „Der Traum, den dieser Mann Gottes hatte, hat mich echt aufgerüttelt“, schrieb er, „und ich danke Gott, dass ich Sie gefunden habe.“ Er wisse nicht, ob Gott ihm den Diebstahl verzeihen werde, aber er hoffte, dass Celia es könne. „Ich lege Ihnen die fünf Dollar bei“, fügte er hinzu, „denn ich kann sie nicht ausgeben.“ Das Geld lag im Brief.
Er schrieb auch über seinen Wunsch, mehr über die Kirche zu erfahren. „Sie sollen wissen, dass Sie mich wiedersehen werden, aber Sie werden mich dann nicht erkennen, denn ich werde Ihr Bruder sein“, schrieb er. „Ich bin nicht aus Ihrer Stadt, aber hier, wo ich wohne, muss ich den Herrn finden und zu der Kirche gehen, der Sie angehören.“
Celia sank auf einen Stuhl. Seit dem Überfall hatte sie oft für den jungen Mann gebetet. „Wenn es Gottes Wille ist“, sagte sie, „so möge sich dieser Junge doch bekehren.“
Ein paar Monate darauf begann das neue Jahr. In der gesamten Kirche stand nun in der Sonntagsschule ein Jahr lang das Buch Mormon auf dem Lehrplan. Um die Heiligen beim Studium zu unterstützen, widmete die Zeitung Church News dem Buch Mormon ihre erste Ausgabe des Jahres. Darin enthalten war ein Überblick über das, was man aus dem Buch Mormon über Jesus Christus erfahren kann, ebenso gab es verschiedene Tabellen und Artikel, die den Lesern die darin beschriebenen Völker und Ereignisse näherbringen sollten, sowie Informationen über eine neue Videokassette mit neun Kurzfilmen zum Buch Mormon; diese dienten zur Ergänzung des Sonntagsschulunterrichts. Mit Celias Erlaubnis erschien auf der letzten Seite der Zeitung ein kurzer Bericht über ihr Erlebnis mit dem jungen Mann – einschließlich des vollständigen Wortlauts seines Briefes.
Im Februar 1996 erhielt Celia einen weiteren Brief von ihm. Der Überfall war ihm immer noch zu peinlich, als dass er Celia seinen Namen verraten wollte. Aber er hatte die Geschichte in den Church News gelesen und wollte ihr mitteilen, dass es ihm gut gehe und er bemüht sei, sein Leben zu ändern. Er denke oft an sie und das Buch Mormon. „Ich weiß, dass es wahr ist“, schrieb er. Tatsächlich hatte er sich kurz zuvor der Kirche angeschlossen und das Priestertum empfangen. „Ich arbeite für den Herrn“, berichtete er ihr.
Er teilte ihr mit, er wohne jetzt in der Nähe eines Tempels, den er kürzlich besucht habe. Obwohl er nicht in das Gebäude hineingegangen sei, habe er den Geist dort stark gespürt und wisse, dass es das Haus des Herrn sei.
Der junge Mann unterzeichnete den Brief als Celias „Bruder im Glauben“. Er schrieb, er habe sie und ihre Familie lieb und er wisse, dass der Herr etwas mit ihm vorhabe.
„Ich will den Weg des Herrn nicht verlassen“, schrieb er Celia. „Ich bin sehr glücklich.“