Die Ohrringe
Einen Tag, nachdem meine Frau ihren goldenen Ohrring verloren hatte, erkannte ich, dass wir etwas verloren hatten, was weitaus wichtiger war.
Einmal schenkte ich meiner Frau zum Geburtstag ein wunderschönes Paar Ohrringe aus Gold. Sie standen ihr ausgezeichnet, denn sie hat einen langen, anmutigen Hals, und die Ohrringe waren geformt wie zusammenhängende konzentrische Kreise, die sich bewegen und im Sonnenlicht spielen konnten. Meine Frau Jelena sah umwerfend aus, wenn sie sie trug. Sie liebte diese Ohrringe.
Dann kam der Tag mit dem schönsten aller Feste – unser Zweig hatte die Weihnachtsfeier. Ich war verantwortlich für diese Veranstaltung in unserem Zweig im russischen Pensa und war in Eile; ich wollte so schnell wie möglich dorthin, um mich zu vergewissern, dass für die Feier alles bereit war. Jelena ließ sich Zeit, aber machte sich weiter geflissentlich fertig. Mir riss der Geduldsfaden, und ich sagte zu ihr, dass sie es mit dem Make-up gut sein lassen solle, denn sie sehe auch ohne großartig aus. Damit hatte ich etwas angerichtet – sie sagte mir, sie werde nirgendwo hingehen und ich könne ohne sie zur Feier gehen.
Es kam zu einem Wortgefecht, in dem wir uns unschöne Worte an den Kopf warfen. Am Ende machte sie ihre Drohung dann doch nicht wahr, aber auf dem Weg zur Feier sprachen wir im Auto kein Wort miteinander, als würden wir uns gar nicht kennen.
Unsere Weihnachtsfeier fand in der Aula einer Schule in der Nähe statt. Freunde und einige Mitglieder des Zweiges hatten uns geholfen, den Raum mit Blumen und Bildern vom Leben und Tod unseres Herrn zu schmücken. Nachdem wir angekommen waren und auf unseren Stühlen Platz genommen hatten, bemerkte meine Frau, dass sie nur einen Ohrring trug. Das war eine böse Überraschung, und der Streit war auf einmal vergessen. Wir schauten uns überall um, doch vergebens – der Ohrring war nirgendwo zu finden. Wir beschlossen, für den Augenblick nicht mehr daran zu denken und lieber dem herrlichen Konzert zu lauschen, das unsere Freunde vorbereitet hatten.
Das Konzert war wirklich fabelhaft, aber meine Frau und ich konnten es nicht richtig genießen. Unser Tag war ruiniert, und bei unserer Heimkehr herrschte gedrückte Stimmung. Der Verlust des Ohrrings machte uns traurig, nicht nur, weil er teuer und schön gewesen war, sondern vor allem, weil ich ihn meiner Frau als Zeichen meiner Liebe geschenkt hatte.
Als ich am nächsten Tag erwachte, erkannte ich, dass wir etwas weitaus Wichtigeres verloren hatten als einen Goldohrring: die Harmonie zwischen uns. Ich wandte mich Jelena zu und sagte: „Schau dir den anderen Ohrring an. Sieh nur, wie schön er ist und wie das Licht darauf spielt. Stell dir vor, wie viel Gold und Mühe für seine Herstellung gebraucht wurden, und jetzt liegt er da allein auf dem Tisch. Jetzt, wo der andere verloren gegangen ist, ist dieser hier viel weniger wert als zuvor als Teil eines Paares. Wir sind genauso. Wenn wir einig sind, können wir eine schöne, machtvolle und kreative Kraft zum Guten sein. Sind wir uns aber uneins, haben wir nicht dieselbe Kraft, Macht oder Schönheit.“
Tränen erschienen auf dem Gesicht meiner Frau. Sie kam zu mir und umarmte mich. Sie sprach mit brüchiger Stimme, aber ihre Worte gingen mir durch Mark und Bein: „Wir dürfen niemals streiten. Wir sollen so sein wie der himmlische Vater und sein Sohn Jesus Christus. Wir lieben uns, und wir haben unsere Ehe im heiligen Tempel für die Ewigkeit siegeln lassen. Der Teufel möchte alle Familien auf der Erde vernichten, aber das wird ihm nicht gelingen, wenn wir einig sind. Nach allem, was geschehen ist, liebe ich dich jetzt sogar noch mehr. Gott hat uns gezeigt, was eine Familie wirklich ist.“
Ich hielt sie in den Armen, während mir Tränen über die Wangen liefen. Jetzt wusste ich, dass ich da meinen größten Segen in den Armen hielt.