Botschaft von der Ersten Präsidentschaft
Der Meister aller Brückenbauer
Vor vielen Jahren habe ich ein Buch von David S. Lavender mit dem Titel The Way to the Western Sea gelesen. Es bietet einen faszinierenden Bericht über die abenteuerliche Reise von Meriwether Lewis und William Clark, die eine berühmte Expedition über den nordamerikanischen Kontinent führten, um einen Landweg zum Pazifik zu finden.
Ihre Reise war ein Alptraum voll mörderischer Schinderei, tiefer Schluchten, die durchquert werden mussten, und ausgedehnter Fußmärsche, bei denen sie ihre mit Vorräten beladenen Boote tragen mussten, bis sie den nächsten Fluss fanden, auf dem sie ihren Weg fortsetzen konnten.
Als ich über ihre Erlebnisse las, dachte ich oft: Wenn es nur moderne Brücken gäbe, die diese Schluchten und tobenden Wasser überspannen. Ich musste an die prächtigen Brücken denken, die diese Aufgabe heute mit Leichtigkeit erfüllen: die schöne Golden Gate Bridge, die San Francisco berühmt macht, die solide Hafenbrücke in Sydney und andere in vielen Ländern.
In Wahrheit sind wir alle Reisende, genauer gesagt Erforscher des Erdenlebens. Wir können nicht aus der vorhandenen eigenen Erfahrung schöpfen. Wir müssen während unserer Reise hier auf der Erde tiefe Schluchten und unruhiges Wasser überqueren.
Vielleicht inspirierte ein solch düsterer Gedanke Will Allen Dromgoole bei seinem Gedicht „Der Brückenbauer“:
Auf einsamem Weg ging ein alter Mann,
kalt und grau war der Abend, als er kam
zu einer Kluft, die sich dehnte weit und groß
und durch die ein finsteres Wasser floss.
Im Zwielicht quert’ es der alte Mann,
der dunkle Strom bargfür ihn keinen Harm.
Kam sicher am anderen Ufer ans Land
und baut’ eine Brück, die den Fluss überspannt.
„Alter“, so sprach ihn ein Reisender an,
„verschwende nicht Kraft mit so unnützem Plan.
Deine Reise wird heut noch zu Ende gehn,
du wirst diesen Weg hier nie wieder sehn.
Du hast überquert diese weite Kluft –
was ist’s, was zum Bau dieser Brücke dich ruft?“
Das graue Haupt hebt der Erbauer und spricht:
„Mein Freund, auf dem Weg bin alleine ich nicht.
„Heut folgt eine große Schar auf dem Pfad,
der an diesen Ort ihn wohl führen mag.
Die Kluft quert’ zwar ich ohne Fehltritt allein,
doch mag sie dem Jungen gefährlich wohl sein.
Auch er wird im Zwielicht des Weges hier ziehn –
Guter Freund, ich bau diese Brücke für ihn!“1
Die Botschaft dieses Gedichtes hat mich zum Nachdenken angeregt und meiner Seele Trost gegeben, denn unser Herr und Erlöser, Jesus Christus, war der Meister aller Brückenarchitekten und Brückenbauer – für Sie, für mich und für die ganze Menschheit. Er hat die Brücken gebaut, die wir überqueren müssen, wenn wir unser himmlisches Zuhause erreichen wollen.
Das Wirken des Erretters ist vorhergesagt worden. Matthäus schreibt: „Sie wird einen Sohn gebären; ihm sollst du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen.“2
Dann kam das Wunder seiner Geburt, und die Hirten versammelten sich und liefen in aller Eile zu jenem Stall, zu jener Mutter, zu jenem Kind. Selbst die Weisen, die aus dem Osten herbeikamen, folgten dem Stern und gaben dem kleinen Kind ihre kostbaren Geschenke.
Die heilige Schrift berichtet: Jesus „wuchs heran und wurde kräftig; Gott erfüllte [ihn] mit Weisheit und seine Gnade ruhte auf ihm“3, und er zog umher und tat Gutes.4
Vom Erlöser erbaute Brücken
Welche Brücken hat er hier im Erdenleben selbst gebaut und überquert und uns so den Weg gezeigt, dem wir folgen sollen? Er wusste, dass das Erdenleben voller Gefahren und Schwierigkeiten sein würde. Er hat gesagt:
„Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen.
Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele.
Denn mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht.“5
Jesus baute uns die Brücke des Gehorsams. Indem er die Gebote des Vaters hielt, war er ein verlässliches Vorbild für persönlichen Gehorsam.
Als er vom Geist in die Wüste geführt wurde, war er vom Fasten geschwächt. Der Satan lief mit seinen Versuchungen zu Höchstleistungen auf. Die erste bestand darin, körperliche Bedürfnisse des Erlösers, wie den Hunger, zu befriedigen. Darauf erwiderte Jesus: „Der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt.“6
Als Nächstes bot der Satan Macht an. Die Antwort des Erretters: „In der Schrift heißt es auch: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen.“7
Schließlich wurden dem Erlöser Reichtum und irdischer Ruhm angeboten. Seine Antwort: „Weg mit dir, Satan! Denn in der Schrift steht: Vor dem Herrn, deinem Gott, sollst du dich niederwerfen und ihm allein dienen.“8
Der Apostel Paulus wurde vom Herrn inspiriert, unserer wie auch seiner Zeit mitzuteilen: „Noch ist keine Versuchung über euch gekommen, die den Menschen überfordert. Gott ist treu; er wird nicht zulassen, dass ihr über eure Kraft hinaus versucht werdet. Er wird euch in der Versuchung einen Ausweg schaffen, sodass ihr sie bestehen könnt.“2
Damit wir uns nicht herausreden, erwähne ich eine Aussage aus einer Rede, die TV-Nachrichtensprecher Ted Koppel bei einer Universitätsabschlussfeier hielt: „Was Mose vom Berg Sinai herabbrachte, waren nicht die Zehn Anregungen, sondern die Zehn Gebote!“10
Ein feiner Humor findet sich in einem Bericht über eine Unterhaltung zwischen Mark Twain und einem Freund. Der wohlhabende Freund sagte zu Twain: „Ich beabsichtige, vor meinem Tod in das Heilige Land zu pilgern. Ich werde den Gipfel des Berges Sinai erklimmen und die Zehn Gebote laut lesen.“
Twain entgegnete: „Warum bleibst du nicht zu Hause und hältst sie?“
Die zweite Brücke, die der Meister für uns baute, ist die Brücke des Dienens. Wir blicken auf Jesus Christus als unser Vorbild im Dienen. Er kam zwar als Sohn Gottes auf die Erde, diente aber dennoch demütig seinen Mitmenschen. Er kam aus dem Himmel, um wie ein Sterblicher auf der Erde zu leben und das Reich Gottes aufzubauen. Sein herrliches Evangelium veränderte das Denken der Welt. Er segnete die Kranken, gab den Lahmen die Kraft zu gehen, ließ die Blinden sehen und die Tauben hören. Er erweckte sogar Tote zum Leben.
In Matthäus 25 sagt uns Jesus Folgendes über die Glaubenstreuen, die bei seiner triumphalen Wiederkehr zu seiner Rechten sein werden:
„Dann wird der König denen … sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist.
Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen.
Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben?
Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben?
Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?
Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“11
Elder Richard L. Evans (1906–1971) vom Kollegium der Zwölf Apostel hat einmal gesagt: „Wir können nicht überall für jeden alles tun, aber wir können irgendwo für jemanden etwas tun.“12
Ich möchte Ihnen von einer Gelegenheit zu dienen berichten, die sich mir unerwartet und auf ungewöhnliche Weise bot. Die Enkelin eines alten Freundes rief mich an. Sie fragte: „Können Sie sich noch an Ihren früheren Sonntagsschullehrer Francis Brems erinnern?“ Ich bejahte ihre Frage. Darauf sagte sie: „Er ist jetzt 105 Jahre alt. Er lebt in einem kleinen Pflegeheim, trifft sich aber jeden Sonntag mit der ganzen Familie und hält dann einen Sonntagsschulunterricht ab. Letzten Sonntag hat Opa uns angekündigt: ‚Ihr Lieben, diese Woche werde ich sterben. Könnt ihr bitte Tommy Monson anrufen und ihm Bescheid geben? Er weiß, was dann zu tun ist.‘“
Gleich am nächsten Abend besuchte ich Bruder Brems. Ich konnte nicht mit ihm sprechen, denn er war taub. Ich konnte ihm nichts aufschreiben, was er hätte lesen können, denn er war blind. Was sollte ich tun? Ich erfuhr, dass seine Angehörigen mit ihm kommunizierten, indem sie den Finger seiner rechten Hand auf seiner linken Handfläche führten und so schrieben, wer ihn besuchte und was man ihm mitteilen wollte. Das tat ich auch. Ich nahm seinen Finger und buchstabierte auf seiner Hand T-O-M-M-Y M-O-N-S-O-N. Bruder Brems war außer sich vor Freude und nahm meine Hände und legte sie sich auf den Kopf. Ich wusste, dass er sich einen Priestertumssegen wünschte. Der Fahrer, der mich zum Pflegeheim gebracht hatte, kam hinzu und wir legten Bruder Brems die Hände auf und gaben ihm den gewünschten Segen. Anschließend strömten Tränen aus seinen blinden Augen. Er ergriff unsere Hände und wir lasen die Bewegung seiner Lippen. Seine Worte waren: „Vielen Dank.“
In der gleichen Woche starb Bruder Brems, wie er es vorhergesagt hatte. Ich bekam den Anruf und traf mich mit der Familie, als die Vorbereitungen für die Beerdigung getroffen wurden. Wie dankbar bin ich doch, dass ich den erbetenen Dienst nicht aufgeschoben habe.
Die Brücke des Dienens lädt uns ein, sie häufig zu überqueren.
Schließlich hat der Herr für uns die Brücke des Gebets gebaut. Er hat uns angewiesen: „Bete immer, dann werde ich meinen Geist über dich ausgießen, und groß wird deine Segnung sein.“13
Ich lese Ihnen aus einem Brief vor, den eine Mutter mir schrieb und der sich auf das Gebet bezieht. Sie schreibt:
„Manchmal frage ich mich, ob ich im Leben meiner Kinder etwas ausrichte. Als alleinstehende Mutter, die zwei Jobs nachgeht, um über die Runden zu kommen, finde ich zu Hause manchmal ein Durcheinander vor. Aber ich gebe die Hoffnung nie auf.
Meine Kinder und ich sahen uns die Generalkonferenz im Fernsehen an, und Sie sprachen gerade über das Gebet. Da sagte mein Sohn: ‚Mutti, das hast du uns schon beigebracht.‘ Ich fragte: ‚Was meinst du damit?‘ Und er antwortete: ‚Na ja, du hast uns gesagt, dass wir beten sollen, und hast uns gezeigt, wie, aber neulich bin ich abends in dein Zimmer gekommen, um dich etwas zu fragen, und habe gesehen, wie du auf den Knien zum himmlischen Vater gebetet hast. Wenn er dir wichtig ist, dann ist er mir auch wichtig.‘“
Der Brief schloss mit den Worten: „Wahrscheinlich weiß man nie, was für einen Einfluss man hat, bis ein Kind sieht, dass man das, was man ihm beibringen möchte, selbst tut.“
Das Beispiel des Erlösers
Kein Gebet, das je gesprochen wurde, berührt mich so sehr wie das, das Jesus im Garten Getsemani gesprochen hat. Meines Erachtens hat Lukas es am besten beschrieben:
Er „ging … zum Ölberg; seine Jünger folgten ihm.
Als er dort war, sagte er zu ihnen: Betet darum, dass ihr nicht in Versuchung geratet!
Dann entfernte er sich von ihnen ungefähr einen Steinwurf weit, kniete nieder und betete:
Vater, wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen.
Da erschien ihm ein Engel vom Himmel und gab ihm (neue) Kraft.
Und er betete in seiner Angst noch inständiger und sein Schweiß war wie Blut, das auf die Erde tropfte.“14
Bald darauf folgte der harte Weg zum Kreuz. Wie muss er auf diesem beschwerlichen Weg gelitten haben, als er sein Kreuz selbst trug. Man hörte ihn am Kreuz die Worte sagen: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“15
Schließlich erklärte Jesus: „Es ist vollbracht! Und er neigte das Haupt und gab seinen Geist auf.“16
Diese Ereignisse, in Verbindung mit seiner herrlichen Auferstehung, haben die letzte der drei Brücken vollendet: die Brücke des Gehorsams, die Brücke des Dienens, die Brücke des Gebets.
Jesus, der Brückenbauer, hat die weite Kluft überspannt, die wir Tod nennen. „Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden.“17 Er tat für uns das, was wir nicht für uns selbst tun konnten, und infolgedessen kann die Menschheit die Brücken überqueren, die er gebaut hat – hin zum ewigen Leben.
Ich schließe, indem ich das Gedicht „Der Brückenbauer“ etwas umformuliere:
„Du hast überquert diese weite Kluft –
was ist’s, was zum Bau dieser Brücke dich ruft?“
„Heut folgt eine große Schar auf dem Pfad,
der an diesen Ort sie wohl führen mag.
Die Kluft quert’ zwar ich ohne Fehltritt allein,
doch mag sie der Schar doch gefährlich wohl sein.
Auch sie wird im Zwielicht des Weges hier ziehn –
guter Freund, für sie bau ich die Brücke hierhin.“
Ich bete darum, dass wir die Weisheit und Entschlossenheit haben mögen, die Brücken zu überqueren, die der Herr für uns gebaut hat.