2010
Mögen wir ihn niemals verlassen
November 2010


Mögen wir ihn niemals verlassen

Wenn Sie sich vornehmen, weder Anstoß zu nehmen noch sich zu schämen, werden Sie die Liebe und die Zustimmung des Herrn spüren. Sie werden wissen, dass Sie mehr so werden, wie er ist.

Elder Neil L. Andersen

Meine lieben Brüder und Schwestern in aller Welt, ich bewundere Sie zutiefst für den Glauben und den Mut, die ich in Ihrer Lebensführung erkenne. Wir leben in ganz erstaunlichen Zeiten – aber diese Zeiten fordern uns auch.

Der Herr warnt uns vor den Gefahren, die vor uns liegen

Der Herr hat uns in unserem Streben zurück zu ihm nicht allein gelassen. Mit folgenden Worten hat er uns vor den Gefahren gewarnt, die vor uns liegen: „Seht euch also vor und bleibt wach!“1 „Hütet euch, dass ihr euch nicht täuschen lasst.“2 „Ihr sollt aufmerksam und vorsichtig sein.“3 Gebt Acht, dass ihr nicht euren Halt verliert.4

Niemand von uns ist gegen die Einflüsse der Welt immun. Der Rat des Herrn hilft uns, auf der Hut zu sein.

Sicher wissen Sie noch, wie es Jesus in Kafarnaum erging, wo Jünger, die dem Heiland nachgefolgt waren, nicht akzeptieren wollten, dass er der Sohn Gottes war. In der Schrift heißt es: „Daraufhin [wanderten viele Jünger] nicht mehr mit ihm umher.“5

Da wandte Jesus sich an die Zwölf und fragte: „Wollt auch ihr weggehen?“6

Wollt auch ihr weggehen?

In Gedanken habe ich diese Frage viele Male beantwortet: „Auf keinen Fall! Nicht ich! Ich werde ihn nie verlassen! Ich stehe für immer zu ihm!“ Ich weiß, Sie haben auch so geantwortet.

Aber die Frage „Wollt auch ihr weggehen?“ lässt uns über unsere Anfälligkeit nachdenken. Das Leben ist in geistiger Hinsicht kein Spaziergang. Leise kommen uns die Worte in den Sinn, die Apostel in einer anderen Situation einst sprachen: „Bin ich es etwa, Herr?“7

Wir steigen voll Freude und erwartungsvoll ins Wasser der Taufe. Der Heiland fordert uns auf, zu ihm zu kommen8, und wir folgen und nehmen seinen Namen auf uns. Keiner von uns möchte, dass unsere Reise nur ein kurzes Liebäugeln mit dem Geistigen ist oder ein bemerkenswertes Kapitel, das dann aber endet. Der Weg des Jüngers ist nichts für diejenigen, die im Herzen schwach sind. Jesus sagte: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken.“9 „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“10

Wenn wir dem Erlöser folgen, werden uns zweifelsohne Herausforderungen begegnen. Wenn wir uns ihnen glaubensvoll stellen, werden sie zu Erfahrungen, die uns läutern und unser Bewusstsein, dass der Erlöser lebt, noch vertiefen. Wenn wir sie auf die weltliche Art angehen, trüben dieselben Erfahrungen unseren Blick und schwächen unsere Entschlossenheit. Einige, die wir gern haben und bewundern, kommen vom engen und schmalen Pfad ab und „wandern nicht mehr mit ihm umher“.

Wie bleiben wir treu?

Wie bleiben wir dem Erlöser, seinem Evangelium und den Verordnungen seines Priestertums treu? Wie entwickeln wir den Glauben und die Kraft, ihn nie zu verlassen?

Jesus sagt: „Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen.“11 Wir brauchen das gläubige Herz eines Kindes.

Durch die Macht des Sühnopfers müssen wir werden „wie ein Kind, fügsam, sanftmütig, demütig, geduldig, voll von Liebe und willig, [uns] allem zu fügen, was der Herr für richtig hält, [uns] aufzuerlegen, so wie ein Kind sich seinem Vater fügt“.12 Das ist die mächtige Wandlung im Herzen.13

Schon bald sehen wir, warum eine Herzenswandlung erforderlich ist. Zwei Begriffe signalisieren, dass Gefahr im Verzug ist: Anstoß nehmen und Scham.

Nehmen Sie sich vor, nicht Anstoß zu nehmen

Diejenigen, die angesichts der Göttlichkeit Jesu beunruhigt waren, fragte er: „Daran nehmt ihr Anstoß?“14 Im Gleichnis vom Sämann warnte Jesus davor, dass so mancher eine Weile ausharrt, aber dann, wenn sich um des Wortes willen Bedrängnis und Verfolgung einstellen, allmählich Anstoß nimmt.15

Die Gründe, weshalb man Anstoß nehmen kann, sind vielfältig und erscheinen immer wieder auf der Bildfläche. Menschen, an die wir glauben, enttäuschen uns. Wir haben unerwartet Schwierigkeiten. Unser Leben entwickelt sich nicht ganz so, wie wir es erwartet haben. Wir machen Fehler, fühlen uns unwürdig oder machen uns Sorgen, ob uns vergeben wird. Wir machen uns Gedanken über einen Punkt der Lehre. Wir erfahren etwas, was vor 150 Jahren in der Kirche an einem Rednerpult gesagt wurde und was uns zu schaffen macht. Unsere Kinder werden unfair behandelt. Wir werden übersehen oder nicht genügend gewürdigt. Es kann hunderte Gründe geben, die wir alle im Augenblick nicht von der Hand weisen können.16

In Zeiten, da wir geschwächt sind, versucht der Widersacher, uns um unsere Verheißungen zu bringen. Wenn wir nicht wachsam sind, zieht sich unser kindlicher Geist gekränkt in die kalte, dunkle Schale unseres alten aufgeblasenen Ichs zurück und lässt das warme, heilende Licht des Erlösers hinter sich.

Parley P. Pratt wurde im Jahr 1835 fälschlich beschuldigt. Er und seine Familie sahen sich bloßgestellt und empfanden große Scham. Der Prophet Joseph Smith riet ihm: „Parley, steh über diesen Dingen, … und Gott, der Allmächtige, wird mit dir sein.“17

Noch ein Beispiel: Im Oktober 1830 ließ sich Frederick G. Williams, ein angesehener Arzt, taufen. Sofort ließ er die Kirche an seinen Talenten und seinem Besitz teilhaben. Ihm wurden Führungsaufgaben übertragen. Er spendete Land für den Kirtland-Tempel. Im Jahr 1837 – ganz eingenommen von den Problemen der damaligen Zeit – beging er schwerwiegende Fehler. Der Herr erklärte in einer Offenbarung, dass Williams infolge seiner Übertretungen sein früherer Stand in der Führerschaft der Kirche genommen worden sei.18

Die großartige Lektion, die wir von Frederick G. Williams lernen, ist, dass „er ungeachtet seiner persönlichen Schwächen die Charakterstärke hatte, seine Treue zum Herrn, zum Propheten und … zur Kirche zu erneuern, als es so leicht gewesen wäre, in Bitterkeit zu verfallen“.19 Im Frühjahr 1840 erschien er bei einer Generalkonferenz. Er bat demütig um Vergebung für sein früheres Verhalten und sagte, dass er fest entschlossen sei, künftig den Willen Gottes zu tun. Sein Fall wurde von Hyrum Smith vorgetragen, und ihm wurde bereitwillig vergeben. Er starb als treues Mitglied der Kirche.

Vor kurzem lernte ich den Präsidenten des Recife-Tempels in Brasilien kennen. Er heißt Frederick G. Williams. Er erzählte mir, wie segensreich sich die Charakterfestigkeit seines Ururgroßvaters auf die Familie und hunderte Nachkommen ausgewirkt habe.

Nehmen Sie sich vor, sich nicht zu schämen

Das Anstoßnehmen hat einen üblen Spießgesellen, nämlich die Scham.

Im Buch Mormon erfahren wir von Lehis Vision vom Baum des Lebens. In der Vision ist von den guten Menschen die Rede, die „durch den Nebel der Finsternis [vorwärtsstrebten und] sich an der eisernen Stange [festhielten]“, an ihrem Ziel anlangten „und von der Frucht des Baumes aßen“.20

Nephi bezeichnete den Baum als die „Liebe Gottes“21 und dessen Frucht als eine, welche die „Seele mit überaus großer Freude“ erfüllte.22

Nachdem Lehi von der Frucht gekostet hatte, sah er „ein großes und geräumiges Gebäude … voll von Menschen, alt und jung, männlich und weiblich; und sie waren überaus fein gekleidet [und sie spotteten und] zeigten mit [dem Finger der Verachtung] auf diejenigen, die … von der Frucht aßen“.23 Ein Engel erklärte, dass das Spotten, das Verhöhnen, das verächtliche Fingerzeigen dem Stolz und der Weisheit der Welt entsprächen.24

Nephi erklärte schlicht: „Wir beachteten sie nicht.“25

Leider gab es andere, die der Mut verließ. In der Schrift heißt es: „Nachdem [sie] von der Frucht gekostet hatten, schämten sie sich, weil die anderen sie verspotteten; und sie fielen ab auf verbotene Pfade und gingen verloren.“26

Als Jünger Christi heben wir uns in vielerlei Weise von der Welt ab. Bisweilen ist uns unwohl zumute, wenn die Finger der Verachtung das, was uns heilig ist, verspotten und verwerfen.27 Präsident Thomas S. Monson warnte: „Wenn euer Zeugnis nicht fest verwurzelt ist, wird es euch schwerfallen, dem Spott derer standzuhalten, die euren Glauben anzweifeln.“28 Nephi sagte: „[Beachten wir] sie nicht.“29 Paulus ermahnte uns: „Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben … Schäme dich also nicht, dich zu unserem Herrn zu bekennen.“30 Wir verlassen ihn nie.

Als ich Präsident Dieter F. Uchtdorf im letzten Jahr nach Osteuropa begleitete, bewunderte ich den Glauben und den Mut der Heiligen. Ein Priestertumsführer in der Ukraine erzählte uns, dass er im Frühjahr 1994 in die Zweigpräsidentschaft berufen worden war, nur sechs Monate nach seiner Taufe. Daraus ergab sich, dass er sich öffentlich zu seinem Glauben bekennen und mithelfen musste, die Kirche in der Stadt Dnjepropetrowsk offiziell anzumelden. Es war eine unsichere Zeit in der Ukraine. Wenn er offen seinen Glauben an Christus und an das wiederhergestellte Evangelium zeigte, konnte das Schwierigkeiten mit sich bringen, möglicherweise auch, dass er seine Arbeit als Pilot verlor.

Der Priestertumsführer erzählte uns: „Ich betete und betete. Ich hatte ein Zeugnis und hatte ein Bündnis geschlossen. Ich wusste, was der Herr von mir erwartete.“31 Mutig gingen er und seine Frau im Glauben voran, ohne sich des Evangeliums Jesu Christi zu schämen.

Wo viel gegeben wird, wird auch viel verlangt

Manche fragen: „Muss ich mich so sehr von anderen unterscheiden?“ „Kann ich nicht ein Jünger Christi sein, ohne so viel über mein Verhalten nachzudenken?“ „Kann ich Christus nicht lieben, ohne dass ich das Gesetz der Keuschheit halte?“ „Kann ich ihn nicht lieben und sonntags das tun, was ich möchte?“ Jesus hat darauf eine einfache Antwort gegeben: „Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten.“32

Manche fragen: „Gibt es nicht auch in anderen Kirchen viele, die Christus lieben?“ Natürlich! Als Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage haben wir jedoch nicht nur aus der Bibel, sondern auch aus dem Buch Mormon ein Zeugnis, dass er lebt; wir wissen, dass sein Priestertum auf der Erde wiederhergestellt wurde; wir sind heilige Bündnisse eingegangen, ihm zu folgen, und haben die Gabe des Heiligen Geistes empfangen; wir wurden in seinem heiligen Tempel mit Kraft ausgestattet und haben teil an der Vorbereitung seiner herrlichen Wiederkehr auf die Erde. Wir können das, was wir sein sollen, nicht mit denen vergleichen, die diese Wahrheiten noch nicht empfangen haben. „Wem viel gegeben ist, von dem wird viel gefordert.“33

Der Herr hat gesagt: „Du magst dich selbst entscheiden.“34

Ich verheiße Ihnen: Wenn Sie sich vornehmen, weder Anstoß zu nehmen noch sich zu schämen, werden Sie seine Liebe und seine Zustimmung spüren. Sie werden wissen, dass Sie mehr so werden, wie er ist.35

Werden wir alles verstehen? Natürlich nicht. Wir werden einiges, was uns bewegt, zurückbehalten und erst später verstehen.

Wird alles gerecht zugehen? Das wird es nicht. Wir werden einiges hinnehmen, was wir nicht in Ordnung bringen können, und anderen vergeben, wenn es wehtut.

Werden wir manchmal das Gefühl haben, von unseren Mitmenschen abgesondert zu sein? Ganz bestimmt.

Werden wir mitunter überrascht sein, wenn wir erkennen, wie zornig einige auf die Kirche des Herrn sind und wie sie versuchen, den Schwachen auch noch das letzte Fünkchen Glauben zu nehmen?36 Ja. Doch das wird weder das Wachstum noch die Bestimmung der Kirche behindern, auch muss es unseren geistigen Fortschritt als Jünger des Herrn Jesus Christus nicht aufhalten.

Mögen wir ihn niemals verlassen

Mir gefallen diese Worte aus einem meiner Lieblingslieder:

Mein Herz, das an Jesus sich lehnt mit Vertraun,

kann sicher auf deine Verheißungen baun;

und mag alle Hölle auch gegen mich sein:

Du lässest mich nimmer, du lässest mich nimmer,

du lässest mich nimmer, o nimmer allein.37

In diesem Leben erreichen wir keine Vollkommenheit. Aber wir üben Glauben an den Herrn Jesus Christus und halten unsere Bündnisse. Präsident Monson hat verheißen: „Euer Zeugnis wird euch schützen, wenn ihr es beständig nährt.“38 Wir schlagen geistig tiefe Wurzeln, wenn wir uns täglich an den Worten Christi in den heiligen Schriften weiden. Wir vertrauen den Worten lebender Propheten, die uns an die Spitze gestellt wurden, damit sie uns den Weg zeigen. Wir beten ohne Unterlass und lauschen der leisen Stimme des Heiligen Geistes, der uns führt und uns im Innersten Frieden zuspricht. Welche Schwierigkeiten sich auch einstellen mögen, wir werden ihn niemals, nein, niemals verlassen.

Der Erlöser fragte seine Apostel: „Wollt auch ihr weggehen?“39

Petrus antwortete:

„Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.

Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes.“40

Dieses Zeugnis habe auch ich. Das bezeuge ich im Namen Jesu Christi. Amen.