2013
Die Hoffnung auf das Licht Gottes
Mai 2013


Die Hoffnung auf das Licht Gottes

Wenn wir danach streben, mehr Liebe für Gott zu empfinden und unseren Nächsten zu lieben, wird das Licht des Evangeliums uns umfangen und uns erheben.

Präsident Dieter F. Uchtdorf

Der Eingang zur Erleuchtung

Bei mir im Büro hängt ein Gemälde, das ich sehr mag. Es trägt den Titel Der Eingang zur Erleuchtung. Geschaffen hat es ein Freund von mir, der dänische Künstler Johan Benthin, der auch der erste Pfahlpräsident in Kopenhagen war.

Das Gemälde zeigt einen dunklen Raum mit einer geöffneten Tür, durch die Licht einfällt. Interessant finde ich, dass das Licht, das durch die Tür einfällt, nicht den gesamten Raum erleuchtet, sondern nur ein kleines Stück unmittelbar vor der Tür.

Die Dunkelheit und das Licht in diesem Gemälde sind für mich ein Sinnbild für das Leben. Es gehört zu den Bedingungen unseres irdischen Daseins, dass wir manchmal meinen, wir seien von Dunkelheit umgeben. Vielleicht haben wir einen geliebten Menschen verloren oder ein Kind ist vom Weg abgekommen; vielleicht hat uns der Arzt eine beunruhigende Diagnose gestellt; vielleicht haben wir Schwierigkeiten am Arbeitsplatz und werden von Zweifeln und Ängsten geplagt, oder wir fühlen uns verlassen und ungeliebt.

Doch auch wenn wir uns in unseren gegenwärtigen Verhältnissen verloren vorkommen mögen, hat Gott uns Hoffnung auf sein Licht verheißen – er hat versprochen, den Weg vor uns zu erleuchten und uns den Weg aus der Dunkelheit zu weisen.

Ein Raum voller Dunkelheit

Ich möchte Ihnen von einer Frau erzählen, die in einem Raum voller Dunkelheit aufwuchs – nennen wir sie einmal Jane.

Seit Jane drei Jahre alt war, wurde sie immer wieder geschlagen, erniedrigt und misshandelt. Sie wurde bedroht und verspottet. Wenn sie morgens aufwachte, wusste sie nicht, ob sie den nächsten Tag noch erleben würde. Diejenigen, die sie eigentlich hätten beschützen sollen, waren entweder ihre Peiniger oder ließen es zu, dass sie weiter misshandelt wurde.

Um sich selbst zu schützen, lernte Jane, nichts mehr zu empfinden. Da keine Aussicht auf Rettung bestand, verhärtete sie sich gegenüber den Schrecken ihrer Lebenswirklichkeit. Es gab kein Licht in ihrer Welt, und so fand sie sich mit der Dunkelheit ab. Mit einer Stumpfheit, die nur daher kommen kann, dass man ständig unerbittlich dem Bösen ausgesetzt ist, nahm sie die Tatsache hin, dass jeder Augenblick ihr letzter sein könnte.

Dann aber, mit 18 Jahren, lernte Jane die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage kennen. Die Freude und die Hoffnung des wiederhergestellten Evangeliums drangen ihr ins Herz, und sie nahm die Aufforderung an, sich taufen zu lassen. Zum ersten Mal fiel Licht in ihr Leben, und sie erblickte vor sich einen strahlend hellen Pfad. Sie verließ die Dunkelheit ihrer Welt und beschloss, ein gutes Stück von ihrem Peiniger entfernt zur Schule zu gehen. Endlich fühlte sie sich frei von diesem Dunstkreis der Dunkelheit und des Bösen – frei, den sanften Frieden zu genießen, den der Erlöser bringt, und eine wundersame Heilung.

Jahre später jedoch, nachdem ihr Peiniger gestorben war, machten die schrecklichen Ereignisse ihrer Jugend Jane abermals zu schaffen. Eine tiefe Traurigkeit und Wut drohten das wunderbare Licht zu vernichten, das sie im Evangelium gefunden hatte. Sie erkannte: Wenn sie es zuließe, dass diese Dunkelheit sie verzehrte, dann würde ihr Peiniger doch noch den Sieg davontragen.

Und so suchte sie Rat und ärztliche Hilfe und wurde sich allmählich bewusst, dass der beste Weg zur Heilung für sie darin bestand, sich damit abzufinden, dass es zwar Dunkelheit gibt, sie sich aber nicht darin aufhalten muss. Immerhin wusste sie mittlerweile, dass es auch das Licht gibt – und genau darin wollte sie sich aufhalten.

In Anbetracht ihrer finsteren Vergangenheit hätte Jane leicht rachsüchtig, boshaft oder gewalttätig werden können. Wurde sie aber nicht. Sie widerstand der Versuchung, die Dunkelheit weiterzuverbreiten, sie ließ nicht zu, dass sie wütend, verletzt oder zynisch um sich schlug. Stattdessen vertraute sie auf die Hoffnung, dass sie mit Gottes Hilfe geheilt werden konnte. Sie beschloss, Licht auszustrahlen und ihr Leben anderen zu widmen. Dieser Beschluss befähigte sie, ihre Vergangenheit abzuschütteln und in eine herrliche, strahlende Zukunft einzutreten.

Sie wurde Lehrerin. Heute, Jahrzehnte später, hat sie mit ihrer Zuneigung das Leben hunderter Kinder beeinflusst. Sie gab ihnen zu verstehen, dass sie einen Wert besitzen und dass sie wichtig sind. Unermüdlich verteidigt sie die Schwachen, die Opfer von Misshandlungen und die Mutlosen. Sie richtet jeden, der ihr begegnet, auf, stärkt ihn und inspiriert ihn.

Jane hat erfahren, dass man geheilt wird, wenn man sich von der Dunkelheit entfernt und der Hoffnung auf ein helleres Licht entgegengeht. Durch praktische Anwendung von Glaube, Hoffnung und Nächstenliebe hat sie nicht nur ihr eigenes Leben umgewandelt, sondern war auch unzähligen anderen ein Segen.

Licht hält fest an Licht

Möglicherweise hat der eine oder andere unter Ihnen das Gefühl, die Dunkelheit bemächtige sich seiner. Vielleicht plagen Sie Sorgen, Ängste und Zweifel. Ihnen und allen anderen bestätige ich eine wunderbare und unzweifelhafte Wahrheit: Das Licht Gottes gibt es wirklich. Ein jeder kann es haben! Es gibt allem das Leben.1 Es hat die Macht, den Schmerz der tiefsten Wunden zu lindern. Es kann ein heilsamer Balsam sein für die einsame, verkümmerte Seele. Es kann der gramzerfurchten Stirn den Schimmer einer strahlenderen Hoffnung aufsetzen. Es kann das tiefste Jammertal hell erleuchten. Es kann den Weg vor uns anstrahlen und uns durch die finsterste Nacht dem verheißenen neuen Morgen entgegenführen.

Dies ist „der Geist Jesu Christi“, der „jedem Menschen, der in die Welt kommt, Licht [gibt]“2.

Allerdings fällt dieses geistige Licht kaum auf diejenigen, die lediglich im Dunkeln sitzen und darauf warten, dass jemand einen Schalter umlegt. Es ist ein Akt des Glaubens, seine Augen dem Licht Christi zu öffnen. Das geistige Licht ist für fleischlich gesinnte Augen nicht zu erkennen. Jesus Christus selbst hat gesagt: „Ich bin das Licht, das in der Finsternis leuchtet, und die Finsternis erfasst es nicht.“3 Denn „der irdisch gesinnte Mensch … lässt sich nicht auf das ein, was vom Geist Gottes kommt. Torheit ist es für ihn, und er kann es nicht verstehen, weil es nur mit Hilfe des Geistes beurteilt werden kann.“4

Wie öffnet man nun seine Augen der Hoffnung auf das Licht Gottes?

Erstens: Fangen Sie dort an, wo Sie gerade sind.

Ist es nicht großartig, dass wir nicht vollkommen sein müssen, um in den Genuss aller Segnungen und Gaben des himmlischen Vaters zu kommen? Wir müssen nicht warten, bis wir die Ziellinie überschritten haben, um Gottes Segnungen zu empfangen. Vielmehr tun sich mit dem allerersten Schritt, den wir in Richtung des Lichts machen, die Himmel auf und lassen ihre Segnungen auf uns herabträufeln.

Der ideale Ort, um anzufangen, ist genau da, wo man gerade steht. Es kommt nicht darauf an, für wie ungeeignet man sich vielleicht hält oder wie weit man hinter anderen zurückzuliegen glaubt. Exakt in dem Augenblick, da Sie sich auf die Suche nach Ihrem himmlischen Vater begeben, wird die Hoffnung auf sein Licht Ihre Seele wachrütteln, beleben und veredeln.5 Die Dunkelheit wird sich vielleicht nicht im Handumdrehen verflüchtigen, aber so sicher, wie auf die Nacht der Tag folgt, wird das Licht erstrahlen.

Zweitens: Wenden Sie Ihr Herz dem Herrn zu.

Lassen Sie im Gebet Ihre Seele emporschwingen und schildern Sie dem Vater im Himmel, was in Ihnen vorgeht. Gestehen Sie Ihre Unzulänglichkeiten ein. Schütten Sie Ihr Herz aus und sagen Sie Dank. Lassen Sie ihn wissen, welche Prüfungen Sie durchmachen. Flehen Sie ihn im Namen Christi um Kraft und Unterstützung an. Bitten Sie ihn, Ihnen die Ohren zu öffnen, damit Sie seine Stimme hören. Bitten Sie ihn, Ihnen die Augen zu öffnen, damit Sie sein Licht sehen.

Drittens: Wandeln Sie im Licht.

Ihr Vater im Himmel weiß, dass Sie Fehler machen. Er weiß, dass Sie ins Wanken geraten – möglicherweise mehrfach. Es wird ihn betrüben, aber er liebt Sie. Er möchte Ihren Geist nicht brechen. Im Gegenteil. Er möchte, dass Sie sich erheben und der Mensch werden, der sie werden sollten.

Zu diesem Zweck hat er seinen Sohn auf diese Welt gesandt, der uns den Weg erleuchtet und uns zeigt, wie wir über die Stolpersteine, die auf unserem Weg liegen, sicher hinwegkommen. Er hat uns das Evangelium gegeben, aus dem der Weg eines Jüngers hervorgeht. Es lehrt uns alles, was wir wissen, tun und sein müssen, um in Gottes Licht zu wandeln und den Fußstapfen seines geliebten Sohnes zu folgen.

Das Licht bezwingt die Dunkelheit

Ja, wir werden Fehler machen.

Ja, wir werden Schwäche zeigen.

Doch wenn wir danach streben, mehr Liebe für Gott zu empfinden und unseren Nächsten zu lieben, wird das Licht des Evangeliums uns umfangen und uns erheben. Die Dunkelheit wird ohne jeden Zweifel weichen, weil sie in der Gegenwart des Lichts nicht bestehen kann. Wenn wir uns Gott nahen, wird er sich uns nahen.6 Und die Hoffnung auf Gottes Licht wird in uns Tag für Tag zunehmen, sie wird „heller und heller bis zum vollkommenen Tag“7.

Alle, die glauben, sie wandelten in Dunkelheit, lade ich ein, auf die sichere Verheißung zu bauen, die der Erretter der Menschheit ausgesprochen hat: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.“8

Ein Licht in Afrika

Vor ein paar Jahren hatten meine Frau Harriet und ich ein denkwürdiges Erlebnis, bei dem wir diese Verheißung erfüllt sahen. Wir waren in Westafrika, einem schönen Fleckchen Erde, wo die Kirche wächst und es ganz reizende Mitglieder gibt. Aber Westafrika hat auch etliche Probleme. Mir bereitete vor allem die Armut, die ich dort sah, Sorgen. In den Städten herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit und es fällt Familien oft schwer, den täglichen Bedarf zu decken und in Sicherheit zu leben. Es bekümmerte mich zutiefst, dass viele liebe Mitglieder der Kirche unter großen Entbehrungen leiden. Ich erfuhr aber auch, dass diese guten Mitglieder einander helfen, ihre schwere Last leichter zu machen.

Schließlich kamen wir bei einem Gemeindehaus in der Nähe einer großen Stadt an. Doch anstatt auf bedrückte Menschen zu treffen, die ganz von Dunkelheit umfangen waren, stießen wir auf fröhliche Menschen, die vor Licht nur so strahlten! Das Evangelium machte sie so glücklich, dass dieses Glück auf uns übersprang und uns geistig wieder aufrichtete. Wir waren beschämt, wie liebevoll sie sich uns gegenüber verhielten. Ihr Lächeln war aufrichtig und ansteckend.

Ich weiß noch, dass ich mich damals fragte, ob es irgendwo auf der Welt glücklichere Menschen geben könne. Obwohl diese lieben Heiligen von Problemen und Prüfungen bedrängt waren, waren sie voller Licht!

Die Versammlung fing an und ich begann zu sprechen. Doch schon bald fiel der Strom in dem Gebäude aus und wir standen völlig im Dunkeln.

Einen Moment lang konnte ich kaum jemanden in der Gemeinde erkennen, aber das strahlende, schöne Lächeln der Heiligen konnte ich sehen und spüren. Wie schön war es doch, unter diesen wunderbaren Menschen zu sein!

Es blieb dunkel in der Kapelle, und so setzte ich mich neben meine Frau und wartete darauf, dass der Strom wieder anging. Als wir warteten, geschah etwas Bemerkenswertes.

Einige wenige begannen, eines unserer Kirchenlieder anzustimmen. Ein paar weitere fielen ein, dann immer mehr. Schon bald erfüllte ein herrlicher, brausender Chor die Kapelle.

Diese Mitglieder brauchten kein Gesangbuch, sie kannten jedes Wort des Liedes, das sie sangen, auswendig. Und sie sangen ein Lied nach dem anderen mit einer Kraft und in einem Geist, der mir das Herz erwärmte.

Schließlich ging die Beleuchtung wieder an und der Raum wurde mit Licht überflutet. Meine Frau und ich sahen einander an – uns beiden liefen Tränen über die Wangen.

Inmitten großer Dunkelheit hatten diese lieben, großartigen Mitglieder dieses Kirchengebäude und unser Herz mit Licht erfüllt.

Es war ein zutiefst bewegender Moment, den Harriet und ich niemals vergessen werden.

Kommen Sie ins Licht

Ja, von Zeit zu Zeit scheint uns im Leben Dunkelheit zu erfassen oder gar einzuhüllen. Manchmal wirkt die Nacht, die uns umgibt, bedrückend, entmutigend und beängstigend.

Es betrübt mich, mit wie vielen Sorgen einige von Ihnen sich plagen, wie sehr sie die Einsamkeit drückt und Ängste sie zermürben.

Und doch gebe ich Zeugnis, dass Jesus Christus unsere lebende Hoffnung ist! Er ist der wahre, reine und machtvolle Eingang zur göttlichen Erleuchtung.

Ich bezeuge, dass die Dunkelheit an Christus scheitern muss. Die Dunkelheit wird über das Licht Christi niemals den Sieg erringen.

Ich gebe Zeugnis, dass die Dunkelheit dem strahlenden Licht des Sohnes des lebendigen Gottes nicht standhalten kann.

Ich lade jeden von Ihnen ein: Öffnen Sie ihm Ihr Herz! Suchen Sie ihn durch Studium und Gebet. Kommen Sie in seine Kirche, die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Erfahren Sie von ihm und von seinem Evangelium, beteiligen Sie sich aktiv, helfen Sie einander und dienen Sie mit Freuden unserem Gott.

Brüder und Schwestern, selbst nach der dunkelsten Nacht wird der Erretter der Welt Sie einem lieblichen, strahlenden Morgen entgegenführen, dessen Licht mit Sicherheit nach und nach in Ihnen aufgehen wird.

Wenn Sie voller Hoffnung auf das Licht Gottes zugehen, werden Sie einen liebevollen Vater im Himmel entdecken. Er ist mitfühlend und gütig, „und keine Finsternis ist in ihm“9. Davon gebe ich Zeugnis im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.