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Zu streng mit uns selbst
Du schlägst dich weitaus besser, als du meinst
Die Verfasserin lebt in Utah.
Sehr viele von uns haben mehr oder weniger damit zu kämpfen, dass sie meinen, sie seien nicht gut genug oder täten nicht genug. Auch ich habe Zeiten erlebt, als es mir so ging. Ein besonders bewegendes Erlebnis hatte ich in dieser Hinsicht kurz vor dem Ende meiner Mission.
Bei einer meiner letzten Missionskonferenzen las mein Missionspräsident wie schon so oft einen Brief vor, die er von einem Missionar oder einer Missionarin bekommen hatte. Manchmal waren diese Briefe lustig, manchmal inspirierend und manchmal machten sie etwas deutlich. Dieser Brief sollte vermutlich inspirieren, aber stattdessen traf er mich sehr. Er handelte davon, wie sehr die anonyme Schreiberin ihre Mitarbeiterin schätzte. Der Missionspräsident las vor, dass diese Missionarin sich von ihrer Mitarbeiterin sehr geschätzt und fürsorglich behandelt fühlte und ein großartiges Vorbild in ihr sah. Als ich das hörte, spürte ich ein unglaubliches Sehnen in mir, doch wie diese Mitarbeiterin zu sein. Ich wünschte mir verzweifelt, ich könne so fürsorglich und liebevoll sein und so viel Gutes tun. Doch dann brach ich innerlich zusammen, als mir klar wurde, dass das nicht zutraf.
So war ich nicht, und so würde ich auch nie sein. Ich hatte nicht einmal mehr Zeit, mich zu ändern, und selbst wenn ich sie hätte, wäre ich dazu wahrscheinlich sowieso nicht fähig.
Später an diesem Tag, als meine Mitarbeiterin und ich wieder in unserer Wohnung waren, erwähnte sie genau den Teil der Ansprache unseres Missionspräsidenten, der mich so völlig niedergeschmettert hatte, und gestand mir, sie habe das über mich geschrieben. Diese Worte stammten von ihr und sie meinte damit mich! Ich hatte nur noch ein endloses, finsteres Nichts vor mir gesehen, weil ich mir so verzweifelt wünschte, der Mensch zu sein, der ich sein wollte – und kläglich zu versagen schien. Aber mit ihren Worten ging plötzlich die Sonne in mir auf und ich sah vor mir kein endloses Nichts mehr, sondern eher einen Spiegel, der mich selbst so zeigte, wie ich bereits war. Ihre Worte bedeuteten mir sehr viel. Selbst wenn sie in mir auch nur halb so viel gesehen hätte, wie sie in ihrem Brief an den Missionspräsidenten geschrieben hatte, hätte mich das schon überglücklich gemacht.
Ich erzähle dieses Erlebnis nicht, um damit anzugeben – dazu bedeutet es mir zu viel –, sondern um zu zeigen, wie unnötig (und oft fälschlich) streng wir manchmal mit uns sind. Ich hatte ausgerechnet dieses für mich gemeinte Lob dazu benutzt, mich selbst überkritisch zu betrachten.
Damit will ich allerdings auch nicht sagen, dass wir unser Bestreben, mehr wie Christus zu werden, einstellen können. Ich habe ja nicht gedacht: „Cool! Mich um andere Menschen zu kümmern kann ich jetzt abhaken. Daran brauche ich nie wieder einen Gedanken zu verschwenden.“ Aber wir müssen den Fortschritt, den wir schon gemacht haben, erkennen und würdigen und uns vor Augen führen, dass wir viel mehr wert sind, als wir manchmal denken. Elder Dieter F. Uchtdorf vom Kollegium der Zwölf Apostel hat dazu gesagt: „Zu viele gehen mit dem Empfinden durchs Leben, dass sie nur geringen Wert haben, während sie in Wirklichkeit doch vornehm und ewig sind – Geschöpfe von unendlichem Wert, mit Möglichkeiten, die unsere Vorstellungskraft übersteigen.“1
Also halte doch bitte einmal inne und mach eine Bestandsaufnahme von allem Guten, was du schon getan hast, und von den Eigenschaften, die du entwickelt hast oder gerade entwickelst. Denk daran, dass du angenommen und geliebt wirst und gut genug bist.
Und wenn es hier und da etwas gibt, worin du deiner Meinung nach wirklich noch nichts erreicht hast, dann arbeite daran. Gib nicht auf. Setz dir auf jeden Fall Ziele, aber leg nicht willkürlich fest, bis wann du mehr wie Christus werden musst – das hatte ich ja getan. Ich bildete mir damals ein, es gäbe eine Mauer, die es mir nach meiner Mission unmöglich machen würde, mich zu ändern. Aber selbst wenn das schöne Lob meiner Mitarbeiterin sich nicht auf mich bezogen hätte, hätte das Ende meiner Mission ja nicht bedeutet, dass jegliche Hoffnung auf Verbesserung nun dahin wäre.
Es ist nicht immer leicht, diese Einstellung zu bewahren – nämlich, dass wir gut genug sind. Auch ich muss von Zeit zu Zeit daran erinnert werden, mich nicht niederzumachen. Aber denk daran, dass du in den Augen Gottes großen Wert hast (siehe Lehre und Bündnisse 18:10). Denk daran, dass du ein Kind Gottes bist und dass wir uns „als Kinder Gottes nicht selbst verachten oder herabwürdigen dürfen“2. Sei immer bestrebt, mehr wie Christus zu sein, aber mach dich deswegen nicht selbst fertig. Möglicherweise bist du schon näher daran, der Mensch zu werden, der du sein möchtest, als du es je für möglich gehalten hättest.