Liahona
Reist mit Gott
Oktober 2024


„Reist mit Gott“, Liahona, Oktober 2024

Stimmen von Heiligen der Letzten Tage

Reist mit Gott

„Halt!“, rief der Soldat und richtete den Lauf eines großen Gewehrs genau auf meinen Vater.

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ein Soldat spielt einem anderen Soldaten etwas auf der Geige vor

Illustration von Michael J. Bingham

Meine Eltern wollten nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA auswandern und sich den Mitgliedern dort anschließen. Doch erst einmal mussten sie und ihre fünf Kinder von Ostdeutschland nach Westdeutschland fliehen.

Mein Vater Walter zog zunächst alleine los, um einen Weg auszukundschaften, auf dem sich die Grenze am sichersten passieren ließ. Obwohl er nur leichtes Gepäck mitführte, nahm er auf eine Eingebung hin seine Geige mit. Er war Geigenvirtuose und hatte den geistigen Eindruck, sein Instrument werde ihm unterwegs irgendwie dienlich sein.

Im Februar 1949 fuhr mein Vater mit dem Zug in eine Stadt, die noch etliche Kilometer von der Grenze entfernt war. Er verließ die Stadt gleich wieder heimlich auf einem Weg, der ihn in einen verschneiten Wald führte. Wer damals auf dem Weg zur westdeutschen Grenze erwischt wurde, stand unter Fluchtverdacht und wurde verhaftet.

Mein Vater traf auf einen anderen Mann, der ebenfalls versuchte, nach Westdeutschland zu fliehen. Sie beschlossen, das Wagnis zusammen anzugehen. Vier wachsame Augen waren ja besser als zwei.

Vorsichtig umgingen sie einen Wachturm. Plötzlich sprang hinter einem Busch ein junger russischer Soldat hervor und rief: „Halt!“

Mein Vater und sein neuer Bekannter erstarrten vor Entsetzen, als der Soldat den Lauf eines großen Gewehrs auf sie richtete. Der Soldat schrie, sie seien verhaftet.

Ganz langsam öffnete der Reisebegleiter meines Vaters seinen Koffer und packte einige leckere Lebensmittel aus. Er signalisierte dem Soldaten, er könne sie haben, wenn er sie freilassen würde. Doch der Soldat ließ sich nicht umstimmen.

In gebrochenem Russisch erzählte mein Vater dem Soldaten, dass er russische Volksmusik liebe. Er zeigte auf seinen Geigenkasten und sagte, er würde gerne für ihn spielen.

Dann holte er seine Geige heraus und begann, eine gefühlvolle russische Melodie zu spielen. Nach kurzer Zeit bemerkte er, dass der junge Soldat Tränen in den Augen hatte. Als er das Lied beendet hatte, fragte ihn der Soldat, ob er noch andere russische Weisen kenne.

Daraufhin spielte mein Vater ein anderes Stück. Als er fertig war, weinte der Soldat. Er hängte sich sein Gewehr wieder über die Schulter und sagte auf Russisch: „Reist mit Gott.“ Dann ließ er die beiden Männer ihre Flucht in den Westen fortsetzen.

Mein Vater kehrte bald sicher nach Ostdeutschland zurück und war dankbar für die Inspiration, die zu seinem Schutz geführt hatte. Drei Jahre später flüchtete er mit seiner Familie über Ost-Berlin, wo er die Grenze in den Westen überquerte.

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