Liahona
Ein Windstoß in der Hand des Herrn
November 2024


9:46

Ein Windstoß in der Hand des Herrn

Wir können anderen dabei helfen, auf ihrem Weg zu den Segnungen Gottes vorwärtszukommen

Im Jahr 2015 arbeiteten im brasilianischen Bundesstaat Pernambuco 62 Mitglieder der J. Reuben Clark Law Society mit der Staatsanwaltschaft zusammen, um die rechtlichen Schritte zu prüfen, die Bewohner vier verschiedener Pflegeheime eingeleitet hatten. An einem Samstag befragten diese Anwälte fünf Stunden lang mehr als 200 Bewohner, einen nach dem anderen. Jeder von ihnen war von der Gesellschaft im Grunde vergessen worden.

Während dieser Befragungen kamen mehrere Straftaten ans Licht, die an den betagten Bewohnern begangen worden waren, zum Beispiel Vernachlässigung, Misshandlung und Veruntreuung von Geldern. Ein Grundpfeiler dieses Anwaltsverbands besteht darin, sich der Armen und Bedürftigen anzunehmen. Nur zwei Monate später erstattete die Staatsanwaltschaft erfolgreich Anzeige gegen die Verantwortlichen.

Ihre Mithilfe ist ein perfektes Beispiel für etwas, was König Benjamin verkündet hat: „Wenn ihr euren Mitmenschen dient, dann dient ihr eurem Gott.“

Bei einer Bewohnerin, die ich persönlich im Rahmen dieses Pro-bono-Projekts befragte, handelte es sich um eine gutherzige 93-jährige Frau namens Lúcia. Voll Dankbarkeit für unsere Hilfe rief sie scherzhaft aus: „Heiraten Sie mich!“

Überrascht antwortete ich: „Schauen Sie mal, da drüben, die schöne junge Frau! Das ist meine Frau und auch die Staatsanwältin.“

Schlagfertig gab sie zurück: „Na und? Sie ist jung, hübsch und kann leicht nochmal heiraten. Alles, was ich habe, sind Sie!“

Nicht alle Probleme dieser wunderbaren Heimbewohner wurden an diesem Tag gelöst. Von Zeit zu Zeit erlebten sie gewiss noch so manche Bedrängnis – wie die Jarediten in ihren Booten auf ihrer beschwerlichen Reise zum verheißenen Land, die „in den Tiefen des Meeres begraben [waren], wegen der Wellenberge, die über sie hereinbrachen“.

Wenn auch die Welt ihre Namen nicht kannte, wussten die Heimbewohner an jenem Samstag doch eines: Ein liebevoller Vater im Himmel kennt sie persönlich, und er gibt auf selbst das einfachste Gebet Antwort.

Der Meister aller Meister veranlasste, dass „ein ungestümer Wind“ die Jarediten zu verheißenen Segnungen hin trug. Ebenso können wir uns dafür entscheiden, ein leichter Windstoß in der Hand des Herrn zu sein. So wie „der Wind nie aufhörte“, die Jarediten zum verheißenen Land hin zu tragen, können wir anderen dabei helfen, auf ihrem Weg zu den Segnungen Gottes vorwärtszukommen.

Als meine liebe Frau Chris und ich vor einigen Jahren für meine Berufung als Bischof interviewt wurden, bat mich der Pfahlpräsident, gebeterfüllt zu überlegen, welche Brüder als Ratgeber in Frage kämen. Nachdem er die Namen derer gehört hatte, die ich vorschlug, sagte er, dass ich einiges über einen dieser Brüder wissen sollte.

Erstens: Dieser Bruder konnte nicht lesen. Zweitens: Er hatte kein Auto, mit dem er Mitglieder besuchen konnte. Drittens: Er trug immer – immer – eine Sonnenbrille in der Kirche. Trotz der ehrlichen Bedenken des Präsidenten hatte ich das starke Gefühl, ich solle ihn als meinen Ratgeber vorschlagen, und der Pfahlpräsident gab sein Einverständnis.

An dem Sonntag, als meine Ratgeber und ich in der Abendmahlsversammlung im Amt bestätigt wurden, stand den Mitgliedern die Überraschung ins Gesicht geschrieben. Dieser liebe Bruder ging langsam zum Podium. Das Licht der Deckenleuchten spiegelte sich hell in seiner Sonnenbrille.

Als er neben mir Platz nahm, fragte ich ihn: „Lieber Bruder, haben Sie Probleme mit dem Sehen?“

„Nein“, erwiderte er.

„Warum tragen Sie dann eine Sonnenbrille in der Kirche?“, fragte ich. „Mein Freund, die Mitglieder müssen Ihre Augen sehen können, und Sie müssen die Mitglieder auch besser sehen können.“

Augenblicklich nahm er die Sonnenbrille ab, und er trug sie nie wieder in der Kirche.

Dieser geschätzte Bruder stand mir zur Seite, bis ich als Bischof entlassen wurde. Noch heute dient er treu in der Kirche und ist ein Beispiel für Eifer und Hingabe an den Herrn Jesus Christus. Und doch war er vor Jahren nur ein unbekannter Mann mit Sonnenbrille, der einsam und verlassen auf einer Kirchenbank hockte. Ich frage mich oft, wie viele glaubenstreue Brüder und Schwestern heute einsam und verlassen unter uns sitzen – vergessen.

Ob wir nun allgemein bekannt oder einsam und verlassen sind: Jeder von uns wird unweigerlich mit Prüfungen konfrontiert werden. Wenn wir uns dem Erretter zuwenden, kann er uns unsere „Bedrängnisse zum Gewinn weihen“ und uns dabei helfen, auf unsere Prüfungen so zu reagieren, dass es unseren geistigen Fortschritt fördert. Ob es nun um Pflegeheimbewohner, ein falsch eingeschätztes Mitglied der Kirche oder sonst irgendwen geht: Wir können wie Wind sein, der sich nie legt, und so Hoffnung geben und andere zum Weg der Bündnisse führen.

Unser Prophet, Präsident Russell M. Nelson, hat eine aufregende und inspirierende Aufforderung an die Jugendlichen gerichtet: „Ich [bekräftige] nachdrücklich, dass der Herr jeden würdigen jungen Mann, der dazu in der Lage ist, aufgerufen hat, sich auf eine Mission vorzubereiten und sie zu erfüllen. Für die jungen Männer in der Kirche Jesu Christi ist der Missionsdienst eine Priestertumspflicht. … Für euch junge Schwestern, die ihr dazu in der Lage seid, ist eine Mission ebenfalls eine wunderbare Gelegenheit, jedoch keine Pflicht.“

Jeden Tag folgen tausende von jungen Männern und Frauen dem Aufruf des Herrn durch seinen Propheten und gehen auf Mission. Ihr seid großartig und ihr habt, wie Präsident Nelson es gesagt hat, die Fähigkeit, „die Welt mehr zu beeinflussen als jede frühere Generation“! Natürlich bedeutet das nicht, dass ihr schon in dem Augenblick, da ihr die Missionarsschule betretet, euer bestes Selbst seid.

Vielmehr fühlt ihr euch vielleicht wie Nephi, werdet also vom Geist geführt und wisst nicht im Voraus, was ihr tun sollt. Dennoch geht ihr weiter.

Vielleicht seid ihr unsicher wie Jeremia und möchtet sagen: „Ich kann doch nicht reden, ich bin ja noch so jung.“

Vielleicht seht ihr sogar eure Unzulänglichkeiten und wollt wie Mose ausrufen: „Bitte, Herr, ich bin keiner, der gut reden kann. … Mein Mund und meine Zunge sind nämlich schwerfällig.“

Wenn unter euch geschätzten und starken jungen Männern und Frauen manch einer in diesem Moment einen solchen Gedanken hegt, so denkt daran, was der Herr zur Antwort gab: „Sag nicht: Ich bin noch so jung. Wohin ich dich auch sende, dahin sollst du gehen.“ Und er verheißt: „Geh also! Ich bin mit deinem Mund und weise dich an, was du reden sollst.“

Euer Wandel von einem natürlichen in ein geistiges Selbst geschieht „Zeile um Zeile …, Weisung um Weisung“, wenn ihr euch auf Mission ernsthaft bemüht, durch tägliche Umkehr, Glauben, treuen Gehorsam und harte Arbeit Jesus Christus zu dienen, um „beständig interessierte Menschen zu finden, Umkehr zu predigen und Bekehrte zu taufen“.

Auch wenn ihr ein Namensschild tragt, habt ihr manchmal vielleicht das Gefühl, übersehen zu werden oder vergessen zu sein. Ihr müsst aber wissen, dass ihr einen vollkommenen Vater im Himmel habt, der euch persönlich kennt, und einen Erretter, der euch liebt. Ihr habt Missionsführer, die euch trotz ihrer Unvollkommenheiten so dienen wie der Wind, der sich nie legte, und euch auf eurem Weg zur persönlichen Bekehrung betreuen.

In dem „Land, wo Milch und Honig fließen“, werdet ihr eure Mission erfüllen. Dort werdet ihr geistig von neuem geboren und ein beständiger Jünger Jesu Christi werden, wenn ihr euch ihm naht. Ihr könnt zu der Erkenntnis gelangen, dass ihr niemals vergessen werdet.

Obgleich einige „schon lange“ auf Linderung warten, weil sie noch „keinen Menschen“ haben, der ihnen helfen kann, hat der Herr Jesus Christus uns verkündet, dass er keinen von uns jemals vergisst. Im Gegenteil: Zu jedem Zeitpunkt seines irdischen Wirkens war er ein vollkommenes Beispiel dafür, sich dem Einzelnen zuzuwenden.

Jeder von uns und jeder unserer Mitmenschen hat mit seinen eigenen Stürmen des Widerstands und Wellen der Prüfung zu kämpfen, die ihn jeden Tag überschwemmen. Aber der Wind hört nie auf, zum verheißenen Land hin zu wehen; und so werden auch wir vor dem Wind hergetrieben.

Jeder von uns kann ein Teil dieses Windes sein – des Windes, der den Jarediten auf ihrer Reise ein Segen war, und des Windes, der durch unsere Hilfe den Übersehenen und Vergessenen ein Segen ist, damit sie ihr eigenes verheißenes Land erreichen.

Ich bezeuge, dass Jesus Christus unser Fürsprecher beim Vater ist. Er ist ein lebendiger Gott und wirkt wie ein starker Wind, der uns stets den Weg der Bündnisse entlang führt. Im Namen Jesu Christi. Amen.

Anmerkungen

  1. Die J. Reuben Clark Law Society ist eine gemeinnützige Vereinigung von Anwälten und Jurastudenten und hat weltweit über 100 Ortsverbände. Sie trägt ihren Namen zu Ehren von Joshua Reuben Clark Jr., der viele Jahre lang Erster Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage war.

  2. Mosia 2:17

  3. Pro bono ist die verkürzte Form des lateinischen Ausdrucks pro bono publico. Es bedeutet „zum Wohle der Allgemeinheit“. Dies ist eine Form der Freiwilligenarbeit, die im Gegensatz zur herkömmlichen Freiwilligenarbeit berufliche Qualifikationen voraussetzt, jedoch unbezahlt ist.

  4. Ether 6:6

  5. Ether 6:5

  6. Siehe 2 Nephi 2:14,16

  7. Siehe Ether 6:8

  8. Siehe Lehre und Bündnisse 84:106

  9. Siehe Abraham 3:25

  10. Siehe 2 Nephi 2:2; siehe auch Lehre und Bündnisse 122:7

  11. Russell M. Nelson, „Das Evangelium des Friedens verkünden“, Liahona, Mai 2022, Seite 6

  12. Russell M. Nelson, „Hoffnung Israels“, Andacht für Jugendliche in aller Welt, 3. Juni 2018, Archiv Kirchenliteratur

  13. Siehe 1 Nephi 4:6,7

  14. Jeremia 1:6

  15. Exodus 4:10

  16. Jeremia 1:7

  17. Exodus 4:12

  18. Siehe Mosia 3:19

  19. 2 Nephi 28:30

  20. Siehe Alma 26:22

  21. Neil L. Andersen, „The Faith to Find and Baptize Converts“, Ansprache beim Seminar für neue Missionspräsidenten, 25. Juni 2016, Seite 6

  22. Siehe Deuteronomium 11:8,9

  23. Siehe „Beständige Jünger Jesu Christi werden“, Verkündet mein Evangelium! – eine Anleitung zur Verbreitung des Evangeliums Jesu Christi, Seite 85–110

  24. Siehe Johannes 5:6,7

  25. Siehe Lukas 10:29

  26. Siehe Ether 6:8

  27. Präsident Dallin H. Oaks hat einmal ein Gemälde von Maynard Dixon mit dem Titel Forgotten Man [Vergessener Mensch] erwähnt. Es hängt in seinem Büro im Verwaltungsgebäude der Kirche in Salt Lake City: „Man kann die Sonne auf seinen Kopf scheinen sehen. Sein Vater im Himmel weiß, dass es ihn gibt. Die vorbeigehende Menge vergisst ihn wieder, aber in all seinen Schwierigkeiten weiß der Vater im Himmel, dass es ihn gibt. … Fast 40 Jahre lang habe ich dieses Gemälde nun schon. Es spricht mich an und ruft mir etwas ins Gedächtnis, was ich nicht vergessen darf.“ (In: „What I Learned from President Oaks about the ‚Forgotten Man‘“, Church News, 18. September 2022, thechurchnews.com.)