1990–1999
Die Hände der Väter
April 1999


Die Hände der Väter

Das Größte ist sicher, daß ein Vater alles tut, was er kann, damit die Kinder, die ihm anvertraut sind, glücklich und in geistiger Hinsicht sicher sind.

An diesem Osterwochenende möchte ich nicht nur dem auferstandenen Herrn Jesus Christus Dank sagen, sondern auch seinem wahren Vater, dem Vater unseres Geistes, unserem Gott, der dadurch, daß er das Opfer seines erstgeborenen und vollkommenen Sohnes annahm, ein jedes seiner Kinder in jenen Stunden des Sühnopfers und der Erlösung segnete. Jetzt zu Ostern sind die Worte, mit denen der Lieblingsjünger Johannes den Vater und den Sohn preist, besonders bedeutsam: “Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.” 1

Ich bin auch Vater, selbstverständlich ein unvollkommener Vater, aber ich kann die schwere Last nicht begreifen, unter der der Gott des Himmels gelitten haben muß, als er den tiefen Schmerz, die Kreuzigung seines geliebten Sohnes auf solche Weise miterleben mußte. Alles in ihm muß ihn doch unwillkürlich dazu getrieben haben, dem ein Ende zu bereiten, Engel zu senden, damit sie eingriffen ­ aber er griff nicht ein. Er ertrug, was er sah, denn es war die einzige Möglichkeit, wie für die Sünden aller anderen Kinder ­ von Adam und Eva bis an die Enden der Welt ­ eine errettende, stellvertretende Sühne zustande gebracht werden konnte. Ich bin ewig dankbar für diesen vollkommenen Vater und seinen vollkommenen Sohn, denn beide schreckten nicht zurück vor dem bitteren Kelch, beide ließen sie uns, die wir unvollkommen sind, nicht im Stich ­ uns, die wir es an so vielerlei mangeln lassen, die wir stolpern und allzu oft nicht dem Ideal entsprechen.

Wer sich die Erhabenheit des Sühnopfers an jenem ersten Ostermorgen vor Augen hält, das uns mit Gott versöhnt, muß dabei auch an die Beziehung zwischen Christus und dem Vater denken, die ja eines der ergreifendsten Themen ist, die das Wirken Christi durchziehen. Sein ganzes Wesen, sein Lebenszweck, seine einzige Freude zielten darauf ab, seinem Vater Freude zu bereiten und seinen Willen zu tun. Stets schien er an ihn zu denken, stets zu ihm zu beten. Im Gegensatz zu uns bedurfte er keiner Krise, keiner enttäuschenden Wendung im Leben, um seine Hoffnung gen Himmel zu richten. Er blickte ja stets instinktiv und sehnsüchtig nach oben.

Während seines ganzen Erdenlebens scheint Christus nie auch nur einen Augenblick lang an sich selbst gedacht oder eigene Interessen verfolgt zu haben. Als ihn ein junger Mann “gut” nennen wollte, bezog er dieses Kompliment nicht auf sich, sondern sagte sogleich, nur einer verdiene solches Lob, nämlich der Vater.

Zu Beginn seines Wirkens sagte Jesus demütig: “Von mir selbst aus kann ich nichts tun; … weil es mir nicht um meinen Willen geht, sondern um den Willen dessen, der mich gesandt hat.”2

Und jedesmal, wenn seine Lehren seine Zuhörer durch ihre Macht und Vollmacht beeindruckten, sagte er: “Meine Lehre stammt nicht von mir, sondern von dem, der mich gesandt hat… . Ich bin nicht in meinem eigenen Namen gekommen, sondern er, der mich gesandt hat, bürgt für die Wahrheit.” 3 Und weiter erklärte er: “Denn was ich gesagt habe, habe ich nicht aus mir selbst, sondern der Vater, der mich gesandt hat, hat mir aufgetragen, was ich sagen und reden soll.”4

Denen, die den Vater sehen wollten, die von Gott selbst hören wollten, daß Jesus derjenige war, als der er sich ausgab, erklärte er: “Wenn ihr mich erkannt habt, werdet ihr auch meinen Vater erkennen … Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen.”5 Als Jesus unter seinen Jüngern Einigkeit bewahren wollte, betete er und verwendete dabei als Beispiel seine Beziehung zu Gott. “Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast, damit sie eins sind wie wir.”6

Und selbst kurz vor der Kreuzigung hielt er seine Apostel, die bereit waren, für ihn einzutreten, zurück und sagte: “Der Kelch, den mir mein Vater gegeben hat ­ soll ich ihn nicht trinken?” 7 Und als die unfaßbare Pein zu Ende ging, sprach er jene wohl friedlichsten und wohlverdientesten Worte seines irdischen Wirkens. Er flüsterte am Ende alles Leidens: “Es ist vollbracht… . Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.”8 Nun war alles vollendet. Nun konnte er endlich zum Vater zurückkehren.

Ich gestehe, ich habe über diesen Augenblick sehr lange nachgedacht. Ich habe mich gefragt, wie dieses Wiedersehen wohl ausgesehen haben mag: Hier der Vater, der seinen Sohn so sehr liebte, dort der Sohn, der seinem Vater durch alles, was er sagte und tat, Respekt und Ehrerbietung erwies. Wie mag wohl eine Umarmung für zwei gewesen sein, die so sehr eins waren wie diese beiden? Und was muß dieses göttliche Beisammensein jetzt noch alles umfassen? Wir können uns das nur staunend fragen. Und wir können uns heute zum Osterfest danach sehnen, selbst würdig zu werden für einen gewissen Anteil an dieser Beziehung.

Als Vater frage ich mich, ob ich, ob alle die anderen Väter mehr tun können, um eine liebevollere, innigere Beziehung zu unseren irdischen Söhnen und Töchtern aufzubauen. Väter, ist die Hoffnung zu kühn, daß die eigenen Kinder in geringem Ausmaß solche Gefühle für uns hegen, wie sie der Gottessohn für seinen Vater hegte? Könnten wir uns diese Liebe mehr verdienen, wenn wir uns bemühten, mehr das zu sein, was Gott für sein Kind war? Auf jeden Fall wissen wir, daß die Vorstellung, die sich ein junger Mensch von Gott macht, auf den Eigenschaften beruht, die er bei seinen irdischen Eltern sieht.9

Aus diesem und vielen weiteren Gründen hat mich wohl keines der Bücher, die ich in den vergangenen Monaten gelesen habe, so sehr schockiert wie das Buch Fatherless America (Vaterloses Amerika). In dieser Studie nennt der Autor die “Vaterlosigkeit” “die verhängnisvollste Tendenz unserer heutigen Gesellschaft”, weil sie den Kindern den meisten Schaden zufügt. Sie ist die Hauptursache, so sagt er, für die gravierenden Probleme unserer Gesellschaft, angefangen von Armut bis hin zum Verbrechen, von Mädchen, die schwanger werden, bis zu Kindesmißbrauch und Gewalt in der Familie. Eins der Hauptprobleme unserer Gesellschaft liegt darin, daß sich die Väter aus dem Leben ihrer Kinder zurückziehen.10

Noch beunruhigender als die körperliche Abwesenheit so manchen Vaters ist die geistige oder seelische Abwesenheit. Hierbei handelt es sich um Unterlassungssünden der Väter, die größere Auswirkungen haben und, auf lange Sicht gesehen, wahrscheinlich noch viel schädlicher sind als Begehungssünden. Es wundert uns ja nicht, daß auf die Frage, was sie an ihrem Vater am liebsten mögen, 2000 Kinder verschiedenen Alters und verschiedener sozialer Herkunft dasselbe geantwortet haben: “Er hat Zeit für mich.” 11

Ein Lorbeermädchen, das ich vor nicht allzu langer Zeit bei einer Konferenz kennengelernt habe, hat mir nach unserem Gespräch einen Brief geschickt, in dem sie schreibt: “Ich wünsche mir, mein Vater wüßte, wie sehr ich ihn geistig und seelisch brauche. Ich sehne mich so sehr nach einem netten Wort, nach einer liebevollen Geste. Ich glaube, er weiß gar nicht, was es für mich bedeuten würde, wenn er sich wirklich dafür interessierte, wie es mir geht; wenn er mir Fragen stellte und mir Rat erteilte; wenn er mir anböte, mir einen Segen zu geben, oder wenn er sich einfach Zeit für mich nähme. Ich weiß schon, er macht sich Sorgen, daß er nicht alles richtig machen oder nicht das Richtige sagen würde. Aber wenn er es bloß versuchte ­ schon das würde mir mehr bedeuten, als er je wissen kann. Ich will ja nicht undankbar scheinen, denn ich weiß, er liebt mich. Er hat mir mal eine Notiz geschrieben mit dem Gruß: In Liebe, Vati.’ Ich hüte diese Notiz wie einen Schatz. Sie ist mit das Kostbarste, was ich habe.”12

So wie dieses Mädchen will auch ich nicht durch meine Worte undankbar scheinen. Meine Ansprache soll auch nicht in den Vätern das Gefühl aufkommen lassen, sie hätten versagt. Die meisten Väter sind wundervoll. Die meisten sind phantastisch. Ich kann mich nicht an den Verfasser dieses kleinen Kindergedichts erinnern, das ich in meiner Jugend gelernt habe, aber es lautet ungefähr so:

Ein Vater nur, der mit müdem Blick

am Abend erschöpft kehrt nach Hause zurück.

Das Leben ist oft hart und schwer,

und Tag für Tag müht er sich sehr.

Nur eines zählt und erfüllt seinen Sinn:

Am Abend erwarten die Seinen ihn!

Ein Vater nur, der alles gibt

für die Kinder, die er über alles liebt.

So wie sein Vater einst für ihn,

so schafft auch er mit stetem Sinn.

Ein Vater nur, der tut, was er kann -

ein Vater nur, doch der beste Mann!

Brüder, selbst wenn wir nicht “der beste Mann” sind, selbst mit unseren begrenzten Möglichkeiten und unserer Unvollkommenheit können wir doch die richtige Richtung verfolgen, denn unser göttlicher Vater hat uns durch seine Lehren Mut gemacht, und sein göttlicher Sohn hat es uns vorgelebt. Mit der Hilfe des himmlischen Vaters können wir als Eltern mehr bewirken, als wir denken.

Ein junger Vater schreibt: “Wenn ich so zusehe, wie mein Sohn mich beobachtet, dann denke ich oft zurück an die Zeit mit meinem Vater, und ich denke daran, wie sehnlich ich mir gewünscht habe, ihm ähnlich zu sein. Ich hatte ein Plastikrasiermesser und meine eigene Dose Rasierschaum, und jeden Morgen rasierte ich mich, wenn er sich rasierte. Ich weiß noch, wie ich hinter ihm hergegangen bin ­ immer in seinen Fußstapfen ­ wenn er im Sommer den Rasen mähte.

Und jetzt wünsche ich mir, daß mein Sohn mir nachfolgt, und doch erschreckt mich der Gedanken, daß er das auch tun wird. Ich kann nur hoffen, daß wir beide ­ so wie ich mich damals danach gesehnt habe, meinem Vater gleich zu sein, und so wie sich mein Sohn heute danach sehnt, mir gleich zu sein ­ durch die gleiche Sehnsucht verbunden sein werden, nämlich, einmal dem Vater im Himmel gleich zu sein. Wenn ich diesen kleinen Jungen im Arm halte, verspüre ich Heimweh nach dem Himmel’ ­ die Sehnsucht, so zu lieben, wie Gott liebt, so zu trösten, wie Gott tröstet, so zu behüten, wie Gott behütet. Alle ängste meiner Kindertage wurden stets weggewischt durch die Antwort auf die Frage: Was würde Vati tun?’ Und nun habe ich ein Kind, das ich erziehen soll, und ich verlasse mich darauf, daß mir der himmlische Vater kundtut, was ich tun soll.”13

Einer meiner Studienkollegen, dessen Kinderzeit nicht immer einfach war, hat mir vor kurzem geschrieben: “So vieles war in meiner chaotischen Kinderzeit unsicher, aber eines wußte ich mit Bestimmtheit: Vati liebt mich.’ Diese Gewißheit war der Anker in meinem jungen Leben. Ich habe den Herrn verstehen und lieben gelernt, weil mein Vater ihn geliebt hat. Ich habe nie jemand einen Dummkopf genannt oder den Namen des Herrn mißbraucht, weil mir ja mein Vater gesagt hat, in der Bibel stehe, daß wir das nicht tun sollen. Ich habe immer den Zehnten gezahlt, weil er mir beigebracht hat, daß das ein Vorzug ist. Ich habe mich immer bemüht, die Verantwortung für meine Fehler und Schwächen zu übernehmen, weil mein Vater das getan hat. Obwohl er sich zwischendurch von der Kirche entfernt hatte, hat er doch am Ende seines Lebens eine Mission erfüllt und treu im Tempel gedient. In seinem Testament hat er verfügt, daß das Geld, das übrigbliebe, nachdem die Familie ausbezahlt worden ist, der Kirche vermacht werden solle. Er liebte die Kirche von ganzem Herzen. Und deswegen liebe ich sie auch.”14

Der folgende Zweizeiler von Lord Byron muß doch wohl auch für Geistiges gelten: “Erkennen läßt sich am Gesicht, daß Vaters Wesen aus mir spricht.” 15

In einem empfindsamen Augenblick im Leben des jungen Nephi stand dessen zukünftige Aufgabe als Prophet fest, als er sagte: “Ich [glaubte] alle die Worte …, die mein Vater gesprochen hatte.”16 Und an einem Wendepunkt in seinem Leben erklärt der Prophet Enos, es seien die Worte gewesen, die er seinen Vater “oft hatte sprechen hören”,17 die ihn dazu bewegt hätten, eine der bedeutendsten Offenbarungen im Buch Mormon niederzuschreiben. Und der sündhafte Alma der Jüngere dachte in seiner Trauer, als er von der Erinnerung an seine vielen Sünden gequält wurde, daran, daß er “gehört hatte, wie [sein] Vater … prophezeite, daß … Jesus Christus, ein Sohn Gottes, kommen werde, um für die Sünden der Welt zu sühnen.”18 Diese Erinnerung, das Zeugnis, das sein Vater ihm möglicherweise zu einer Zeit gegeben hatte, als er meinte, nichts davon dringe zu seinem Sohn durch, hat nicht nur das geistige Leben dieses Sohnes gerettet, sondern auch den Werdegang der Völker des Buches Mormon von Grund auf verändert.

Von Abraham, dem großen Patriarchen, hat Gott gesagt: “Ich habe ihn dazu ausersehen, daß er seinen Söhnen und seinem Haus nach ihm aufträgt, den Weg des Herrn einzuhalten und zu tun, was gut und recht ist.”19

Ich gebe heute zu Ostern Zeugnis, daß “von [den] Vätern Großes gefordert werden” wird, wie es der Herr dem Propheten Joseph Smith gesagt hat.20 Das Größte ist sicher, daß ein Vater alles tut, was er kann, damit die Kinder, die ihm anvertraut sind, glücklich und in geistiger Hinsicht sicher sind.

In dem allerschwersten Augenblick in der Geschichte der Menschheit, als Blut aus jeder Pore trat und sich ein qualvoller Schrei von seinen Lippen löste, da wandte sich Christus an den, an den er sich stets gewandt hatte ­ an seinen Vater. “Abba,” rief er. “Papa,” oder, wie ein kleines Kind sagen würde: “Vati.”21

Das ist ein so persönlicher Augenblick, daß man ihn beinahe schon entweiht, wenn man davon erzählt. Ein Sohn in größter Pein und ein Vater, die einzige Stütze des Sohnes ­ trotz allem unbeirrt durchstehen sie die Nacht ­ gemeinsam.

Väter, mögen wir uns an diesem Osterwochenende erneut unserer Aufgabe als Eltern verpflichten und Kraft schöpfen, indem wir uns das Bild dieses Vaters, dieses Sohnes vor Augen halten; nehmen wir unsere Kinder in den Arm und bleiben wir für immer an ihrer Seite. Darum bete ich im Namen Jesu Christi, amen.

  1. Johannes 3:16.

  2. Johannes 5:30.

  3. Johannes 7:16,28.

  4. Johannes 12:49.

  5. Johannes 14:7,9.

  6. Johannes 17:11.

  7. Johannes 18:11.

  8. Johannes 19:30; Lukas 23:46.

  9. Siehe “Parent-Child Relationships and Children’s Images of God,” Journal for the Scientific Study of Religion, März 1997, 25­43.

  10. Siehe David Blankenhorn, Fatherless America: Confronting Our Most Urgent Social Problem (1995), 1.

  11. “Becoming a Better Father,” Ensign, Januar 1983, 27.

  12. Privatkorrespondenz.

  13. Privatkorrespondenz.

  14. Privatkorrespondenz.

  15. “Parisina”, in Byron: Poetical Works (1970), 333.

  16. 1 Nephi 2:16.

  17. Enos 1:3.

  18. Alma 36:17.

  19. Genesis 18:19.

  20. LuB 29:48.

  21. Markus 14:36.