1990–1999
“Durch kleine Mittel kann der Herr etwas Großes vollbringen”
April 1999


“Durch kleine Mittel kann der Herr etwas Großes vollbringen”

Mögen wir … aus den kleinen, stillen und gütigen Taten derer, die liebevolle, gütige, demütige und engagierte Nachfolger Christi sind, Mut, Glauben und Trost schöpfen.

Vor einigen Jahren waren meine Frau und ich für einen kleinen Zweig mitten in einer Großstadt zuständig, der aus etwa 35 Mitgliedern bestand. Der Zweigpräsident, Daniel Sawyer, ein Mann, den ich sehr bewundere, war wohl das einzige Mitglied des Zweiges, das schon länger als drei, vier Jahre in der Kirche war. Wir hielten unsere Versammlungen in einem Reihenhaus in einer der schlimmsten Gegenden dieser großen Stadt im Osten ab. Das Haus befand sich in einer Straße, in der viele Gebäude 1968 bei den vielen Unruhen niedergebrannt und ausgeplündert worden waren, und manche davon waren noch immer nicht aufgebaut oder instandgesetzt. An der Vorderseite des Hauses befand sich eine Außentreppe, die vom Gehweg zu einer Tür hinaufführte. Dahinter lagen einige Räume, die als Klassenzimmer und Büro benutzt wurden. Eine weitere Tür führte direkt vom Gehweg über einige im Haus befindliche Stufen in den Keller hinab, in dem sich ein Abendmahlstisch, ein Podium für den Sprecher und Klappstühle befanden. Meine Frau und ich hatten, was die Kirche betrifft, dort einige unserer denkwürdigsten Erlebnisse.

Eines Sonntags kam mitten in der Abendmahlsversammlung des Zweigs eine obdachlose Frau von der Straße durch die Tür herein. Sie trug schmutzige, zerlumpte Kleider, hustete und würgte und schnaubte in ein schmutziges Taschentuch. Mit lauter, rauher Stimme sagte sie: “Ich will singen! Ich will beten!” Sie ging nach vorn in die erste Reihe und setzte sich neben eine Schwester, die eine weiße Bluse trug, lehnte sich an sie und legte den Kopf an ihre Schulter. Die Schwester legte der Besucherin sofort den Arm um die Schulter und hielt sie so die ganze Versammlung über. Zufälligerweise erzählte der Sprecher, als die Frau hereinkam, gerade das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Während die Frau nun hustete und würgte, sprach er weiter über das Gleichnis. Als er zum Ende seiner Ansprache kam und eine passende Schriftstelle zitierte, beendete plötzlich die obdachlose Frau mit lauter Stimme die Schriftstelle, die er begonnen hatte. Wir sprachen später darüber und kamen zu dem Schluß, daß es wahrscheinlich seit langem das erste Mal gewesen war, daß jemand aus Zuneigung unserem Gast den Arm um die Schulter gelegt hatte. Wir fragten uns, ob es wohl eine bessere Möglichkeit gäbe, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter in die Tat umzusetzen, als die, die wir eben miterlebt hatten, und wir dachten an die Worte, die der Erretter dem Gleichnis vorangestellt hat: “Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst.”

Ein andermal erlebten wir mit, was eine gütige, gewissenhafte Frau tat, die immer gläubig ihr Zehntengeld abgab ­ einen Umschlag, in dem sich ein paar Münzen, die ihren Zehnten darstellten, befanden. Eines Tages kam sie in die Kirche und hielt in der Hand einen Plastikbeutel mit einem Stück trockenem Brot. Sie überreichte uns diesen Beutel und meinte: “Wenn man zur Kirche gehört, sollte man auch etwas beisteuern. Ich kann nicht viel beisteuern, wohl aber das Brot für das Abendmahl.” Daß wir damals ihr Brot verwendeten, machte das ganze Abendmahl bedeutsamer. Mir kam der folgende Vers in den Sinn: “Als Jesus einmal dem Opferkasten gegenübersaß, sah er zu, wie die Leute Geld in den Kasten warfen. Viele Reiche kamen und gaben viel.

Da kam auch eine arme Witwe und warf zwei kleine Münzen hinein.

Er rief seine Jünger zu sich und sagte: Amen, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen als alle anderen. Denn sie alle haben nur etwas von ihrem überfluß hergegeben; diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles gegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt.”

Ein drittes Erlebnis in diesem Zweig hatte ich während einer Diskussion, die die Mitglieder in der Sonntagsschule darüber führten, wann man denen geben soll, die um Hilfe bitten. Ein Mann, der gerade da war, war mit seiner Frau aus Afrika gekommen, um in den USA seine Ausbildung zu vervollständigen. Er zeigte auf und erzählte uns das folgende Erlebnis: Als er einmal in eben dieser Gegend nach Hause gegangen war, war ein Mann auf ihn zugekommen; er hatte ihm eine Pistole vor die Brust gehalten und sein ganzes Geld verlangt. Unser Mitglied hatte sein Geld aus den Hosentaschen geholt, es dem Mann gegeben und gesagt: “Wenn Sie das Geld so dringend brauchen ­ ich habe noch mehr.” Er hatte seine Brieftasche aufgemacht und noch mehr Geld herausgeholt, es dem Räuber gegeben und dazu gesagt: “Verstehen Sie mich richtig: Nicht Sie sind es, der mir dieses Geld wegnimmt. Ich gebe es Ihnen im Namen des Herrn, weil Sie es brauchen.” Er erzählte, der Räuber habe ihn erstaunt angeblickt, die Pistole in den Gürtel gesteckt und gefragt: “Wo wohnen Sie? Ich werde Sie nach Hause begleiten, Sie sind ein so guter Mensch, daß Sie hier nicht auf der Straße sein sollten. Sie sind hier nicht sicher!”

Als sie sich nun auf den Weg zur Wohnung des Mitgliedes machten, waren sie plötzlich von Polizeiautos umringt, denn eine Frau hatte vom Fenster ihrer Wohnung aus den überfall gesehen und die Polizei gerufen. Die Polizei nahm den Räuber fest und führte ihn ab. Das Mitglied wurde, weil es das Opfer gewesen war, später als Zeuge vor Gericht geladen. Während der Verhandlung bezeugte er, daß er dem Räuber, obwohl dieser ja Geld von ihm verlangt hatte, das Geld im Namen des Herrn gegeben hatte und daß er selbst gewollt hatte, daß der Räuber das Geld bekommen sollte, weil er es dringend benötigte.

Wenn ich nun die Worte des Erretters höre: “Dem, der dir den Mantel wegnimmt, laß auch das Hemd”, dann bin ich seitdem in Gedanken nicht bloß im Heiligen Land, sondern auch in den gefährlichen Straßen dieser Stadt im Osten der Vereinigten Staaten.

Dies sind nur ein paar Erlebnisse aus der heutigen Zeit ­ und nur wenige haben sie miterlebt ­ aber sie zeigen, daß dies vorbildliche Menschen waren, die unter schwierigen Umständen lebten. Eins der Mitglieder deutete einmal auf mein vierzig Jahre altes Buch Mormon, dessen Ledereinband sich durch die lange Benutzung schon auflöste und ausgefranste Ecken und den Pappeinband sichtbar werden ließ, und meinte: “Viele aus unserer Gemeinde sind wie Ihr Buch Mormon, … von außen zerlumpt und abgetragen, doch innen stecken große und bedeutsame Gedanken.”

Zum Abschluß möchte ich Ihnen noch von einem neunjährigen Mädchen spanisch-amerikanischer Abstammung erzählen, mit dem ich eines Abends ein Taufgespräch führte. Ich fragte sie, ob sie wüßte, wer Jesus sei. Ihre Antwort lautete: “Ja.” “Wer ist er denn?” fragte ich sie. Sie deutete mit einer Armbewegung auf alles in ihrem Umfeld und sagte: “Ihm gehört das alles!” Kann denn eine Neunjährige oder sonst jemand von uns dies besser zusammenfassen? Mit nur vier Worten hatte sie den Erretter in einfacher Klarheit beschrieben: “Ihm gehört das alles!” Als das Gespräch zu Ende war, erklärte sie ihrer Mutter, daß sie das Gemeindehaus nicht verlassen wolle, sondern bleiben und die Nacht im “Haus Jesu” verbringen wolle. “Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast.”

Zu seinen Jüngern in der Neuen Welt sagte der Erretter: “Dies ist mein Evangelium; und ihr wißt, was ihr in meiner Kirche tun müßt; denn die Werke, die ihr mich habt tun sehen, die sollt ihr auch tun; denn das, was ihr mich habt tun sehen, ja, das sollt ihr tun; darum: Wenn ihr dies tut, seid ihr gesegnet.”

Als der Erretter in der Mitte der Zeit auf der Erde lebte, tat er so vieles ­ er berührte den einen, sagte dem anderen ein freundliches Wort, gab dem Hungrigen Nahrung (sowohl Essen als auch geistige Nahrung) und erteilte den Bedürftigen Rat. Er betete mit den Verängstigten, erwies denen, die abseits standen, Freundlichkeit, begegnete den Kindern mit Respekt und Zuneigung und sorgte liebevoll für die, die schwere Lasten trugen. “Und so sehen wir: Durch kleine Mittel kann der Herr etwas Großes vollbringen.” “Darum werdet nicht müde, das Rechte zu tun, denn ihr legt den Grund für ein großes Werk. Und aus etwas Kleinem geht das Große hervor.”

Mögen wir in der heutigen Zeit, in der wir immer wieder erleben, wie die Welt offensichtlich in die verkehrte Richtung geht, aus den kleinen, stillen und gütigen Taten derer, die liebevolle, gütige, demütige und engagierte Nachfolger Christi sind, Mut, Glauben und Trost schöpfen. Ich bete darum, daß wir jene Lehren, die der Erretter uns vor fast 2000 Jahren gegeben hat, in unserem Leben auf die gleiche Weise verwirklichen, und ich bezeuge, daß er lebt. Im Namen Jesu Christi, amen.

  1. Lukas 10:30­37.

  2. Lukas 10:27.

  3. Markus 12:41­44.

  4. Lukas 6:29.

  5. Johannes 17:3.

  6. 3. Nephi 27:21,22.

  7. 1. Nephi 16:29.

  8. LuB 64:33.