Aufspüren und retten
In unseren Priestertumsberufungen … werden wir die weitreichenden Auswirkungen unseres Dienens vielleicht nie ganz erfahren.
In den scheinbar nie endenden Jahren des Vietnamkonflikts hörte man im Geplärr der Medien häufig den Ausspruch Aufspüren und Vernichten. Damit wollte man dem Publikum die besondere Kampfesweise in dieser Region des dichten Dschungels, der drückenden Hitze und der zehrenden Krankheiten begreiflich machen.
Der damalige Kampf war nicht durch großräumige Schlachten auf offenem Gelände gekennzeichnet. Vielmehr war der Feind oft unsichtbar - aber nichtsdestoweniger höchst gefährlich -, und das führte zu der Methode Aufspüren und Vernichten. Die Verluste waren hoch, das Leiden nahm überhand und überall stieß man auf Anzeichen der Vernichtung. Wir werden nie wissen, wie viele Menschen ihre eigene Version der biblischen Frage hinausgeschrien haben: „Gibt es denn keinen Balsam in Gilead?” (Jeremia 8:22.) Die Welt atmete voll Erleichterung auf, als der Konflikt endete und wieder Frieden einsetzte.
Im vergangenen Winter dachte ich an dieses Aufspüren und Vernichten, als ich einen Nachbarn und Freund im schönen Heber-Valley östlich von Salt Lake City besuchte. Dort, im abgelegenen Land der heftigen Stürme, der durchdringenden Kälte und unheimlichen Stille waren einige Snowmobile-Fahrer seit mehreren Tagen vermißt. Mein
Freund Johnny berichtete mir von ihrer schrecklichen Lage und sprach auch von der Sorge der betroffenen Familien. Er sagte, er gehöre dem Rettungsdienst an, dessen Mitglieder ihre Farmen und Geschäfte verlassen mußten, um Vermißte aufzuspüren und zu retten.
Die Suchtrupps hatten um Wetterumschwung gebetet, denn sie wußten, wie sehr es auf eine schnelle Rettung ankam. Die Gebete wurden erhört: es klarte auf. Jedes Landkartenquadrat dieses riesigen Gebiets wurde mit starken Ferngläsern abgesucht, als die Hubschrauber kreuz und quer über die Berge und Schluchten flogen. Endlich wurden die Verirrten gefunden. Dann kam die schwierige Aufgabe, zu ihnen zu gelangen und sie wieder zurückzubringen. Alles ging gut aus. Die Verirrten waren gefunden, Leben war erhalten geblieben. Sorge und Angst machten Freude und Jubel Platz.
Mit bewegter Stimme sagte Johnny zu mir: „Ich liebe das Aufspüren und Retten. Wenn ich den knapp Entronnenen ins Gesicht blicke und ihre tiefe Dankbarkeit nicht nur sehe, sondern auch spüre, bin ich von Mitgefühl und Dankbarkeit erfüllt. Nie vorher habe ich etwas Ähnliches erlebt.”
Vielleicht wollte er damit bezeugen, daß er das Wort des Herrn verstand: „Denkt daran: Die Seelen haben großen Wert in den Augen Gottes!” (LuB 18:10.) Vielleicht verspürte Johnny aber auch den ergreifenden Ausspruch des Propheten Joseph Smith: „Es ist besser, einem Menschen das Leben zu retten, als einen vom Tod zu erwecken.” (History ofthe Church, 5:366.)
Ich dachte an das bekannte Lied aus der Sonntagsschule, das mir jedesmal Tränen in die Augen treibt und mein Herz mit Anteilnahme erfüllt:
Teuer und lieb sind dem Hirten alle die „neunzig und neun”; euer auch, die sich verirrten und sich des Lichts nicht erfreun. Horcht nur, er ruft jetzt voll Sorge, bittet um Hilfe sogleich: „Wollt ihr beim Suchen nicht helfen, heimführen sie in mein Reich?”
Die nächste Strophe schildert, wie wir auf die Bitte des Hirten reagieren:
Grün sind die saftigen Weiden, klar ist das Wasser und still. Und, Herr, wir sagen dir freudig: „Ja, guter Hirte, ich will! Laß mich die Herde bewachen, von deiner Liebe mir gib; laß in der Wüste mich suchen nach deinen Schafen so lieb!” (Hymns, Nr. 221,3. und 4. Strophe)
Heute abend danke ich im Namen der Ersten Präsidentschaft und des Rates der Zwölf Apostel sowie sämtlicher Generalautoritäten Ihnen, den Mitgliedern auf der ganzen Welt, daß Sie so großherzig und freigebig sind, indem Sie Ihre Zeit, Ihre Talente und - durch das Fastopfer und andere Spenden - auch von Ihren Mitteln opfern, um Leiden zu mindern und Menschen Gutes zu tun.
In den vergangenen zwölf Monaten hat sich die HLT-Kirche beispielsweise an mehr als 350 Projekten für die Hungernden, für den Ausbau von Gemeinwesen und ähnliche Vorhaben in Asien, Osteuropa, Afrika, Lateinamerika, in der Karibik sowie in den Vereinigten Staaten und Kanada beteiligt.
Im Rahmen der Projekte im Jahr 1992 wurden mehr als 3400 Tonnen sortierte gebrauchte Kleidung - das sind 190 Container voll - nach Übersee und Bestimmungsorten im Inland versandt, um Flüchtlingen, Ausgesiedelten und anderen Notleidenden zu helfen. Besondere Aufmerksamkeit wurde den Bedürfnissen in Afrika zugewendet, wo Kleidung, Decken und andere Bedarfsgüter sowie 450 Tonnen Lebensmittel für die Hungerhilfe und die sonstige Unterstützung der Bevölkerung verteilt wurden. Weitere mehr als 200 Tonnen Lebensmittel wurden an Lagerhäuser gesandt und für Ernährungsprojekte gespendet, um Heimatlose in den Vereinigten Staaten und auswärts zu unterstützen.
In Europa, Afrika, Asien und Lateinamerika dienen jetzt Ehepaare als Vollzeitmissionare in humanitären Aufgaben. Einzelne Ärzte, Krankenpfleger, Erzieher und andere dienen als kurzzeitige Berater in vielen Regierungsbereichen, Krankenhäusern, Schulen und anderen Institutionen in vielen Ländern. Einige Projekte nehmen die Ursachen von Armut und Leiden in Angriff, indem sie die Verbesserungsbestrebungen der örtlichen Bevölkerung unterstützen.
Zwar nimmt die Kirche manche Programme direkt in die Hand, aber oft beteiligen wir uns zwecks Durchführung von Hilfsprojekten an den Bemühungen anderer Institutionen, die sich als vertrauenswürdig und wirksam erwiesen haben, darunter das Amerikanische Rote Kreuz, die Internationale Gesellschaft vom Roten Kreuz und Roten Halbmond, die Heilsarmee, der katholische Wohlfahrtsverband (Caritas) und andere religiöse und zivile Organisationen. Das alles zusätzlich zu den unermeßlichen Hilfsmaßnahmen, die die Bischöfe, Zweigpräsidenten und Leiter der Missionen den Mitgliedern der Kirche auf der ganzen Welt zukommen lassen. Die Worte eines Propheten auf der westlichen Erdhälfte, vor Hunderten von Jahren ausgesprochen, klingen heute noch nach und werden befolgt. König Benjamin erinnerte sein Volk daran: „Wenn ihr euren Mitmenschen dient, allein dann dient ihr eurem Gott.” (Mosia 2:17.)
Demselben heiligen Bericht entnehmen wir die denkwürdigen Worte, die während der Regierung von Alma, Almas Sohn, über das Volk gesagt wurden: „Und so, in ihren gedeihlichen Umständen, ließen sie keinen fort, der nackt oder hungrig oder durstig oder krank war und den sie nicht unterstützt hatten, und sie setzten ihr Herz nicht auf Reichtümer, darum waren sie freigebig zu allen, alt und jung, geknechtet und frei, männlich und weiblich, sei es außerhalb der Kirche oder in der Kirche, und sie kannten da keinen Unterschied, wenn jemand bedürftig war.” (Alma 1:30.)
Das Buch Lukas bringt in einem Kapitel zwei Gleichnisse, die uns zum Denken anregen und unsere Schritte lenken, wenn wir dem Meister folgen: das erste ist das Gleichnis vom verlorenen Schaf, das zweite das Gleichnis vom verlorenen Sohn.
Der Herr hob an: „Wenn einer von euch hundert Schafe hat und eines davon verliert, läßt er dann nicht die neunundneunzig in der Steppe zurück und geht dem verlorenen nach, bis er es findet?
Und wenn er es gefunden hat, nimmt er es voll Freude auf die Schultern, und wenn er nach Hause kommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: Freut euch mit mir; ich habe mein Schaf wiedergefunden, das verloren war.
Ich sage euch: Ebenso wird auch im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren.” (Lukas 15:4-7.)
Beim Gleichnis vom verlorenen Sohn erinnern wir uns, daß der Sohn seine Habe vergeudet hatte und dem Hungertod nahe war. Ich mache mir Gedanken über die Worte „ … aber niemand gab ihm …” (Vers 16.) Endlich kam er wieder zu sich und kehrte in das Land seines Vaters zurück, wo ihn, wie er meinte, nur Tadel und Vorwürfe erwarteten.
„Dann brach er auf und ging zu seinem Vater. Der Vater sah ihn schon von weitem kommen, und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küßte ihn.
Da sagte der Sohn: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt; ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein.
Der Vater aber sagte zu seinen Knechten: Holt schnell das beste Gewand, und zieht es ihm an, steckt ihm einen Ring an die Hand, und zieht ihm Schuhe an.
Bringt das Mastkalb her, und schlachtet es; wir wollen essen und fröhlich sein.
Denn mein Sohn war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden.” (Vers 20-24.)
Dem anderen, getreuen Sohn, der das Verhalten seines Vaters gegen seinen Bruder kritisierte, gab er dieselbe Antwort: „Dein Bruder war tot, und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden.” (Vers 32.)
Ich möchte jetzt die längst vergangene Zeit und den weit entfernten Ort verlassen und einige Beispiele vom lenkenden Einfluß des Meisterhirten erzählen, wie wir - wenn wir unsere wie immer gearteten Aufträge in seinem Dienst erfüllen - die Beweise für seine göttliche Hilfe sehen und die Berührung seiner sanften Hand fühlen.
Zur Zeit des Koreakriegs diente ich als Bischof. Wir hatten vom Hauptsitz der Kirche ein Schreiben erhalten, worin die Bischöfe aufgefordert wurden, allmonatlich jedem Soldaten einen persönlich gehaltenen Brief zu schreiben, ein Exemplar der damaligen Kirchenzeitschrift, der Improvement Era, beizulegen, dazu auch ein Abonnement der Church News. Das war ein ziemlicher Auftrag. In unserer großen Gemeinde hatten wir an die achtzehn Soldaten, aber nicht sehr viel Geld. Mit Mühe brachten die Priestertumskollegien die Mittel für die Zeitschriften zusammen, und ich machte mich ans Briefeschreiben. Aus meiner Zeit bei der Kriegsmarine zu Ende des Krieges wußte ich, wie wichtig es ist, Nachrichten von daheim zu bekommen.
Eines Tages sagte die Schwester, der ich meine an jeden einzelnen individuell gerichteten Briefe diktierte: „Bischof Monson, sind Sie denn nie entmutigt?”
Ich sagte: „Nein; warum sollte ich?”
„Wissen Sie eigentlich, daß dies schon der siebzehnte monatliche Brief an Lawrence Bryson ist, und er hat noch nie geantwortet?”
Ich sagte zu ihr: „Gut, schicken Sie den Brief Nummer siebzehn ab. Vielleicht schafft er es.” Und er schaffte es. Ich erhielt über San Francisco Antwort von einer Feldpostnummer. Bruder Bryson, weit draußen im Pazifik, hatte einen Brief geschrieben, der folgendermaßen begann: „Lieber Bischof. Ich bin nicht sehr gut im Briefe schreiben [das hätte ich ihm schon vor siebzehn Monaten sagen können], aber heute ist ein besonderer Tag. Ich bin zum Lehrer im Aa-
ronischen Priestertum ordiniert worden. Mein Gruppenführer hat sich immer um mich gekümmert, und ich bin ihm dankbar.” Dann schrieb er: „Übrigens danke für die Church News; danke für die Improvement Era. Ein besonderes danke für den Brief, den Sie mir jeden Monat schreiben.”
Jahre danach, es war auf der Konferenz des Pfahles Cottonwood, als Elder James E. Faust dort Pfahlpräsident war, erwähnte ich die Begebenheit in der Pfahl - Priesterumsversammlung. Nach der Versammlung kam ein Mann zu mir und sagte: „Erinnern Sie sich an mich?”
Ich sah ihn an - es waren immerhin zweiundzwanzig Jahre vergangen, seit ich ihn das letztemal gesehen hatte. Ich sagte: „Lawrence Bryson!”
„Ja, das bin ich. Danke für die Briefe. Die sind der Grund, warum ich heute hier bin.”
Wo ist Lawrence Bryson jetzt? Er und seine Frau sind derzeit auf Vollzeit-Mission. Ihr Leben zeigt, daß sie in der Kirche voll aktiv sind. Sie suchen die Schafe, die verlorengegangen sind. Ich glaube, sie wissen, wo sie zu finden sind. Ich weiß, daß sie sie retten werden.
Ich habe diesen wunderbaren Brief von Lawrence Bryson noch immer; er trägt das Datum: „Weihnachtstag, den 25. Dezember 1953”. Er ist eines der kostbarsten Weihnachtsgeschenke, die ich je erhalten habe. Sicher, nach siebzehn Briefen wundert man sich vielleicht, warum keine Antwort gekommen ist, aber ich erinnere mich an die wahren Worte: „Die Weisheit Gottes mag den Menschen als Torheit erscheinen. Aber dies ist die bedeutendste Lektion, die wir auf Erden lernen können: Wenn Gott spricht und der Mensch gehorcht, wird dieser Mensch immer recht haben.” Die Führer der Kirche hatten gesprochen. Wir Bischöfe brauchten nur zu gehorchen. Die Segnung folgte sicher.
Brüder, ich bin überzeugt, daß wir uns in unseren Priestertumsberufungen manchmal fragen, ob wir das Leben anderer günstig beeinflussen. Als Lehrer eines Kollegiums, der sich eifrig vorbereitet, als Heimlehrer, der seine Bequemlichkeit zurückstellt und den besuchten Familien eine Botschaft bringt, und als Kollegiumsführer, der anderen die Hand entgegenstreckt, um sie zu retten, werden wir die weitreichenden Auswirkungen unseres Dienens vielleicht nie ganz erfahren. Dies trifft besonders auf die treuen Missionare zu, die Tag für Tag im Dienst des Herrn stehen. Ohne sich zu beklagen, immer dienend, stets zum Nutzen anderer opfernd, verdienen solch edle Diener unvergänglichen Dank und die inbrünstigsten Gebete.
Einfache Worte aus dem Buch Kohelet vermitteln eine Gewißheit, die uns Mut macht und zu Anstrengung inspiriert: „Leg dein Brot auf die Wasserfläche, denn noch nach vielen Tagen wirst du es wiederfinden.” (Kohelet 11:1.)
Diese Erfahrung machte ich auch mit Präsident George H. Watson, der heute Erster Ratgeber in der Präsidentschaft des Pfahles Naperville im Bundesstaat Illinois ist.
Bruder Watson schrieb mir am 3. Oktober 1978 einen Brief, den er aber nie zur Post gab und worin er von seiner Bekehrung zur Kirche und seiner Taufe berichtete, die im Sommer 1959 in Ostkanada stattgefunden hatte. Ich war damals dort Missionspräsident. Ich erhielt den Brief erst im vergangenen Jahr, als Eider John E. Fowler ihn mir überbrachte. Er hatte ihn entdeckt, als er die Familie Watson nach der Pfahlkonferenz in Naperville besuchte. Bruder Watson und ich hatten ein paar Bedenken, Ihnen diesen privaten Brief vorzulesen, aber in dem Gefühl, daß dieser Bericht viele von euch Brüdern, die Ihr heute abend an dieser weltweiten Priestertumsversammlung teilnehmt, ermutigen könnte, werden wir es doch tun.
Ich schließe mit Präsident Watsons eigenen Worten. Er schrieb:
„Lieber Elder Monson,
ich schreibe Ihnen ganz spontan. Ich möchte Ihnen für die Briefe danken, die Sie vor zwanzig Jahren geschrieben haben einen an mich und einen über mich -, und Sie sollen wissen, wie sie sich auf mein Leben ausgewirkt haben.
Ich heiße George Watson. Im Jahre 1957 war ich 21 Jahre alt. Ich wanderte aus Irland, wo ich aufgewachsen war, nach Kanada aus. Der Grund, warum ich nach Kanada ging, war vor allem, daß ich mir genügend Geld verdienen wollte, um an der Londoner Universität meine Arbeiten als Doktorand machen zu können.
Die Firma, für die ich arbeitete, befand sich in Niagara Falls, und ich hatte ein Zimmer zum lächerlich geringen Preis von sechs Dollar pro Woche gefunden. Der einzige Nachteil war der, daß ich die dreiundsiebzigjährige Vermieterin jeden Sonntag mit dem Auto nach St. Catharines in Ontario zur Kirche bringen mußte.
Diese Mühe war für mich bald ärgerlich, weil sie mich während dieser 25minütigen Fahrt immer dazu überreden wollte, ich solle mit den Missionaren ihrer Kirche zusammenkommen. Ich leistete mehr als ein Jahr lang Widerstand, bis sie mir eines Tages sagte, es würden zwei junge Frauen zum Abendessen kommen, und ob ich Lust hätte, daran teilzunehmen. Es ist wirklich schwer, zu Missionarinnen unhöflich zu sein!
In den nächsten paar Monaten machte ich mir viel Gedanken, und ich kam zu dem Schluß, auch wenn mir das, was mir elf Paare von Missionaren sagten, richtig erschien, so würde ich doch zu vieles aufgeben müssen, und außerdem hatte ich es satt, meine bejahrte Vermieterin ständig zur Kirche zu fahren. Um sie davon abzubringen, daß sie mich um das Mitfahren anging, beschloß ich, am nächsten Sonntag eine halbe Stunde zu spät zu kommen, mit ihr hineinzugehen und mich dort mit offenem Hemdkragen, Turnschuhen und Sporthose neben sie zu setzen. Das müßte ihr peinlich sein, und sie würde mich nicht mehr bitten.
Mein Plan funktionierte prächtig, außer daß sie wegen des Zuspätkommens nicht ärgerlich war und ich soviel Aufsehen erregte wie ein blaues Veilchen. Wir kamen an, als sich die Sonntagsschule gerade in die einzelnen Klassen trennte. Ich wollte nicht mit zum Unterricht, sondern unterhielt mich derweil mit einem netten Mann, der gelähmt war. Er sagte, er habe Verständnis für mich. Da ich acht Tage später nach Irland zurückkehren wollte (Juli 1959), schlug er vor, ich solle mich am Samstag vor meiner Abreise der Kirche anschließen. Er wolle mich in der kommenden Woche anrufen und die Abmachung bestätigen, aber ich wirkte dem sehr gut entgegen - ich ging die ganze Woche nicht ans Telefon. Am Sonntag, nach einer schlaflosen Nacht, rief ich ihn an, um mich zu entschuldigen, und wurde, praktisch auf dem Weg zum Flughafen, in Hamilton getauft. Ich wußte, ich würde in Irland keine Mormonen treffen und die Kirche würde mich aus den Augen verlieren.
Ich habe keine Ahnung, Präsident Monson, wie Sie meine Adresse in Irland herausgefunden haben, aber am Freitag nach meiner Rückkehr bekam ich einen Brief von Ihnen, worin Sie mich in der Kirche willkommen hießen, und am Sonntag, um 9 Uhr morgens, klopfte es an der Tür, und ein Präsident Lynn stand davor und sagte, Präsident Monson in Toronto habe ihm geschrieben, er solle auf mich achtgeben.
Die nächsten Monate und Jahre waren ein Trauma. Drei Versammlungen am Sonntag waren völlig unvernünftig; ich werde nie vor den Leuten eine Ansprache halten; sie können nicht 10 Prozent und mehr erwarten. Noch mehr Trauma: meine Freundin machte sich die Mühe, mir zu zeigen, wie lächerlich ich war. Es endete damit, daß sie sich taufen ließ.
Wir wohnen jetzt in Illinois und haben drei wunderbare Kinder. Ich sitze oft da und denke nach, warum der Herr uns so sehr gesegnet hat. Wir haben allen Grund zu der Annahme, daß seine Hand uns in schweren Zeiten geholfen hat.
Es ist unwahrscheinlich, daß wir uns je wieder begegnen, und so möchte ich Ihnen aufrichtig dafür danken, daß Sie sich die Mühe genommen und diese zwei Briefe geschrieben haben, die unser Leben völlig verändert haben. Ich bin dankbar, daß ich weiß, warum der Erretter auf die Erde gekommen ist, welche Beziehung ich zu ihm habe und was er von mir erwartet. Der Mut und die Standhaftigkeit des Propheten Joseph Smith und die Erkenntnis, die er uns vermittelt hat, werden für mich immer eine Quelle der Inspiration sein. Ich freue mich sehr, daß ich in der Kirche des Herrn dienen darf.
Möge der Herr Sie in seinem Werk auch weiterhin segnen, und danke, daß Sie so auf mein Leben eingewirkt haben.”
Unterschrift: „George Watson”
Diese letzten Weihnachten, als George Watson und seine geliebte Chloe nach Salt Lake City kamen, um zwei von ihren Kindern und einen Schwiegersohn zu besuchen, kamen sie in mein Büro, damit wir uns
endlich offiziell kennenlernen konnten. Sie brachten ihr Zeugnis zum Ausdruck, ebenso ihren Dank für alle, die an diesem Drama, diesem Wunder in unserer Zeit, beteiligt waren. Tränen flössen, es wurde gebetet, Dank übermittelt.
Für unser Zusammentreffen war es die richtige Jahreszeit: die ganze Christenheit hält kurz inne und denkt an ihn - an Jesus Christus -, der starb, damit wir ewiges Leben haben können. Er, der es bemerkt, wenn ein Spatz fällt, hat sicherlich diese Aktion Aufspüren und Retten zusammengefügt, die die Familie Watson in seine Herde führte. Mögen wir immer in seinem Dienst befunden werden, in seinem Werk - darum bete ich demütig. Im Namen Jesu Christi. Amen.