Christus am Teich Betesda
Jeder von uns muß dieselbe Frage beantworten: Was soll ich mit Jesus tun? Er selbst hat uns die Antwort gegeben: „Folgt mir nach!”
Eine der berühmtesten Kunstgalerien der Welt ist die National Gallery of Art, die Nationale Kunstgalerie, am Trafalgar Square in London. Dort sind viele kostbare Meisterwerke ausgestellt.
Vor einigen Wochen haben meine Frau Frances und ich die National Gallery besucht und die genialen und inspirierten Werke bewundert, die uns zutiefst berührt haben. In einem Raum nahm ein großes Bild fast eine ganze Wand ein. Es war ein unvergleichliches Werk des berühmten Bartoleme Esteban Murillo von 1670; es trägt den Titel Christus heilt den Gelähmten am Teich Betesda. Die Jahrhunderte haben seine Schönheit nicht getrübt, seine Ausstrahlung nicht gedämpft und seine Wirkung nicht gemindert.
Ich konnte den Blick nicht abwenden, die Gedanken nicht davon lösen. Ich wurde durch die Zeit zurückgetragen und sah vor mir den verkrüppelten Mann auf seiner einfachen Trage, wie er die Arme ausstreckt und den Erretter der Welt mit offenen Händen um Hilfe bittet. Mir kamen die Worte aus dem Johannesevangelium in den Sinn, und ich möchte sie Ihnen vorlesen:
„In Jerusalem gibt es beim Schaftor einen Teich, zu dem fünf Säulenhallen
gehören; dieser Teich heißt auf hebräisch Betesda. In diesen Hallen lagen viele Kranke, darunter Blinde, Lahme und Verkrüppelte, die auf die Bewegung des Wassers warteten. Ein Engel des Herrn aber stieg zu bestimmter Zeit in den Teich hinab und brachte das Wasser zum Aufwallen. Wer dann als erster hinabstieg, wurde gesund, an welcher Krankheit er auch litt. Dort lag auch ein Mann, der schon seit achtundreißig Jahren krank war. Als Jesus ihn dort liegen sah und erkannte, daß er schon lange krank war, fragte er ihn: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich, sobald das Wasser aufwallt, in den Teich trägt. Während ich mich hinschleppe, steigt schon ein anderer vor mir hinein. Da sagte Jesus zu ihm: Steh auf, nimm deine Bahre und geh!
Sofort wurde der Mann gesund, nahm seine Bahre und ging/’1 Nachdem ich über diese Schriftstelle nachgedacht hatte, verließ ich den Ort meines Tagtraums, aber die Wirkung des Meisterwerks war meiner Seele unauslöschlich eingeprägt. Ich habe seitdem darüber nachgedacht, wie majestätisch doch der Befehl des Herrn war, wie liebevoll sein Herz war und welch unglaubliche Freude seine Tat dem geplagten Mann bereitet hat. Jesus, wenn ich nur denk an dich, füllt sich mein Herz mit Freud! Wie schön einst Äug in Äug zu sehn dich in der Herrlichkeit!
Kein Lied vermag zu loben dich, kein Herz erfaßt dich ganz, du schöner Name Jesus Christ mit deinem Himmelsglanz.2
Wissen wir noch, was ein gewisser Pontius Pilatus diejenigen fragte, die das Blut Jesu vergießen und seinem Erdenleben ein Ende bereiten wollten? „Was soll ich dann mit Jesus tun, den man den Messias nennt? Da schrien sie: Ans Kreuz mit ihm!”3 Und so geschah es. Ein jeder von uns muß dieselbe Frage beantworten: Was soll ich mit Jesus tun? Er selbst hat uns die Antwort gegeben: „Folgt mir nach und tut das, was ihr mich habt tun sehen!”4
Die irdische Mission unseres Herrn wurde von heiligen Propheten vorhergesagt, ebeso auch seine Geburt. Über Generationen haben erleuchtete Menschen in der Alten und der Neuen Welt eifrig nach der Erfüllung dessen Ausschau gehalten, was rechtschaffene Männer, vom allmächtigen Gott inspiriert, prophezeit hatten.
Dann „lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde.” Und ihnen wurde vom Himmel kundgetan: „Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr.”5 Er kam in einem Stall zur Welt und wurde in eine Krippe gebettet. Er kam aus dem Himmel zur Erde und lebte als sterblicher Mensch, um das Reich Gottes zu errichten. Sein herrliches Evangelium hat das Denken der Welt verändert. Er segnete die Kranken, er machte die Gelähmten gehen, die Blinden sehen und die Tauben hören. Er holte sogar Tote ins Leben zurück. Er machte uns allen das größte Geschenk, das wir je erhalten werden: das Sühnopfer und alles, was es nach sich zieht. Er gab willig sein Leben hin, damit wir ewig leben mögen. Hin und wieder wird gefragt: „Wenn Jesus heute erschiene - was würdest du ihn fragen?” Darauf antworte ich immer: „Nicht ein einziges Wort. Ich würde ihm zuhören.”
Durch alle Generationen der Zeit ist die Botschaft Jesu immer dieselbe geblieben. Am Seeufer im schönen Galiläa sagte er zu Petrus: „Folge mir nach!”6 Zu Philippus sagte er: „Folge mir nach!”7 Levi, der am Zoll saß, bekam die Anweisung: „Folge mir nach!”8 Und an uns, wenn wir nur hören, ergeht dieselbe freundliche Einladung: „Folge mir nach!”
„Jesus wuchs heran, und seine Weisheit nahm zu, und er fand Gefallen bei Gott und den Menschen.”9 Und wir? Von ihm wird gesagt, er zog umher und tat Gutes.10 Und wir?
Seine geliebten Apostel merkten sich sein Beispiel gut. Er war „nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen”;11 nicht um zu nehmen, sondern um zu geben; nicht um sein Leben zu retten, sondern um es für andere hinzugeben. Es heißt: „Wenn du den Stern sehen willst, der gleich deine Schritte lenken und dein Geschick bestimmen soll, so mußt du danach Ausschau halten - nicht am wechselvollen Himmel äußerlicher Umstände, sondern jeder in der Tiefe des eigenen Herzens und nach dem Muster, das der Herr gegeben hat.”
Denken Sie einen Augenblick an das, was Petrus an der Schönen Pforte des Tempels erlebt hat. Unser Mitgefühl gilt hier einem gelähmten Mann in seinem Elend, der von Geburt an jeden Tag zum Tor des Tempels getragen werden mußte, damit er die Menschen, die dort hineingingen, um Almosen anbettelte. Da er auch von Petrus und Johannes ein Almosen erbat, sah er in ihnen wohl nichts anderes als in all den Menschen, die jeden Tag an ihm vorübergingen. Mir gefällt die einfache und direkte Anweisung des Petrus sehr: „Sieh uns an!”12 Der Gelähmte wandte sich ihnen zu.
„Petrus aber sagte: Gold und Silber habe ich nicht. Doch was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, geh umher!
Und er faßte ihn an der rechten Hand und richtete ihn auf. … Er … konnte stehen und ging umher. Dann ging er mit ihnen in den Tempel.”13 Nicht alle, die zum Herrn kamen, befolgten seine göttliche Weisung:
„Als sich Jesus wieder auf den Weg machte, lief ein Mann auf ihn zu, fiel vor ihm auf die Knie und fragte ihn: Guter Meister, was muß ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Jesus antwortete: …
Du kennst doch die Gebote: Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen, du sollst keinen Raub begehen; ehre deinen Vater und deine Mutter!
Er erwiderte ihm: Meister, alle diese Gebote habe ich von Jugend an befolgt.
Da sah ihn Jesus an, und weil er ihn liebte, sagte er: Eines fehlt dir noch: Geh, verkaufe, was du hast, gib das Geld den Armen, und du wirst einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach!
Der Mann aber war betrübt, als er das hörte, und ging traurig weg; denn er hatte ein großes Vermögen.”14
Vor einiger Zeit habe ich von Randy Spaulding aus Nord-Utah einen zu Herzen gehenden Brief erhalten. Er schildert die Lebensumstände seiner Familie und schildert dann, wie eine Krankheit nach und nach seinen Vater von einem gesunden und starken Menschen in einen schwachen und verkrüppelten Mann mittleren Alters verwandelt hat. Die Gesundheit des Vaters verfiel immer mehr, bis er schließlich nicht mehr arbeiten und nicht mehr gehen konnte und nun fast hilflos an einen Rollstuhl gefesselt war.
Randy schreibt, daß Angehörige und Gemeindemitglieder sich um die Farm kümmern und der Familie schon sehr geholfen haben. Der Vater kann nicht mehr sprechen. Die Mutter sorgt ständig für ihn - und doch hat keiner von ihnen je gesagt oder geschrieben: „Warum wir?”
Ich möchte vorlesen, was Randy noch schreibt: „Eines Morgens dachte ich an das, was die Welt so zu bieten hat, und wollte eilig zur Tür hinaus und den Tag beginnen. Da sah ich in einer Ecke meinen Vater sitzen und in den heiligen Schriften lesen. Ich ging zu ihm, um mit ihm zu sprechen. Ich sah, wie schwer ihm alles fiel. Mit der rechten Hand versuchte er den Kopf hochzuhalten, damit er mich ansehen und im Buch Mormon lesen konnte. Ich stellte fest, daß er selbst in diesen für ihn doch schwierigsten Umständen immer noch genug Glauben hatte, von einem Gott der Liebe zu lesen, einem Gott der Wunder, der heilt und gesund macht, einem Gottes des Lebens des ewigen Lebens. Mein Vater glaubt noch immer. Wie gern würde ich ihn in die Vergangenheit bringen, an den Teich Betesda, und unseren Herrn bitten, ob er uns vielleicht gnädig sein möchte, damit auch mein Vater seine Bahre nehmen und gehen kann.”
Der Brief endet: „An jenem Tag ging ich in mein Zimmer zurück und dankte dem himmlischen Vater dafür, daß ich einen Vater und eine Mutter habe, wie sie besser nicht sein könnten.”
Halten wir uns vor Augen, daß nicht das Wasser von Betesda den gelähmten Mann geheilt hat. Es war der Segen, der aus der Berührung durch die Hand des Herrn kam. Aus einem schönen Psalm lernen wir: „Herr, du hast die Sehnsucht der Armen gestillt, du stärkst ihr Herz, du hörst auf sie.”15
Er hat gehört, und er hat dich und die Deinen wirklich gesegnet. Eine engelgleiche Ehefrau und Mutter gibt für ihren ewigen Partner vorbehaltlos ihre eigene Bequemlichkeit auf. Nachbarn mit helfender Hand und mitfühlendem Herzen, die herbeieilen und ihre Talente zur raschen Hilfe einsetzen - all das sind greifbare Segnungen aus den Verheißungen des Herrn. Obgleich Betesda winkt, hat der Herr doch gehört. Er spricht: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wie du es von mir begehrst, so soll es mit dir sein.”16
Eider Harold B. Lee hat uns mit den folgenden Worten getröstet: „Wem in diesem Leben Segnungen vorbehalten sind wer im Herzen sagt: Ich würde es tun, wenn ich nur könnte, oder: Ich würde etwas geben, wenn ich etwas hätte, aber ich kann nicht, weil ich nichts habe - den wird der Herr so segnen, als hätte er es getan; und die künftige Welt wird es an denen gutmachen, die sich im Herzen die rechtschaffenen Segnungen gewünscht haben, die ihnen ohne eigenes Verschulden vorenthalten geblieben sind.”17
Überall gibt es Menschen, die Schmerzen leiden, die zehrende Krankheiten erdulden, die gegen den Dämon Depression kämpfen. Wir fühlen von Herzen mit ihnen. Ihnen gilt unser Beten. Helfende Hände strecken sich ihnen entgegen.
Es gibt ein Gedicht, das ich wegen seiner Innigkeit sehr mag; es heißt „Meinem Beten folgt die Tat”.
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Ich bat Gott, als der Abend kam: „Herr, segne bitte jedermann; nimm jedem Herzen seine Pein, dem Kranken laß es besser sein.” Am nächsten Morgen wurd’ ich wach und dachte nicht darüber nach. So lang der Tag, war Zeit doch knapp; ich wischte keine Träne ab. Nicht einmal bot ich Hilfe an dem Bruder, welcher übel dran. Auch nicht der kranke Nachbar sah in mir den Freund, der immer nah. Und doch, als dann der Abend kam, sprach ich: „Herr, segne jedermann.” Doch plötzlich kam es mir so vor, als flüst’re jemand mir ins Ohr: „Sag, eh du betest für die Leut, wen hast denn du gesegnet heut? Was Gott vom Himmel ausgesandt, wird hier gewährt durch Menschenhand.”
Verhüllten Hauptes rief ich dann:, Vergib mir, Gott, hab’s nicht getan! Laß Morgen sein nach deinem Rat, und meinem Beten folgt die Tat.”
Eine Zeile dieses Gedichts, nämlich „Verhüllten Hauptes rief ich dann”, ruft mir aus den heiligsten Räumen der Erinnerung eine Begebenheit vor Augen; sie ist mir sehr nahe gegangen, und es drängt mich, Ihnen davon zu erzählen.
Vor vielen Jahren, als ich Bischof war, erhielt ich die Nachricht, daß Mary Watson aus meiner Gemeinde im Kreiskrankenhaus lag. Als ich sie besuchte, traf ich sie in einem Saal mit so vielen Betten an, daß ich sie kaum entdecken konnte. Endlich sah ich sie, ging zu ihrem Bett und sagte: „Hallo, Mary!” Sie antwortete: „Hallo, Bischof!”
Dabei bemerkte ich, wie sich die Patientin im Nachbarbett die Decke über das Gesicht zog.
Ich gab Mary Watson einen Segen, schüttelte ihr die Hand und verabschiedete mich. Aber ich konnte nicht fortgehen. Es war, als läge eine unsichtbare Hand auf meiner Schulter, und im Innern meinte ich die Worte zu hören: „Geh zu dem anderen Bett mit der kleinen Dame, die ihr Gesicht versteckt hat, als du hereinkamst!” Ich tat es. Ich habe nämlich gelernt, niemals eine Eingebung auf die lange Bank zu schieben.
Ich ging zum Bett der anderen Patientin, tippte ihr sanft auf die Schulter und zog ihr vorsichtig die Decke vom Gesicht. Und siehe da! Auch sie gehörte zu meiner Gemeinde. Ich wußte gar nicht, daß sie im Krankenhaus lag. Sie hieß Kathleen McKee. Als wir uns ansahen, rief sie unter Tränen: „Ach, Bischof, als Sie hereinkamen, dachte ich, daß Sie als Antwort auf mein Beten gekommen wären, um mir einen Segen zu geben. Ich jubelte innerlich, weil Sie wußten, daß ich hier bin. Aber als Sie zu dem anderen Bett gingen, verließ mich der Mut, weil ich sah, daß Sie nicht meinetwegen gekommen waren.”
Ich sagte zu Kathleen McKee: „Es macht nichts, daß ich nicht wußte, daß Sie hier sind. Es ist aber wichtig, daß unser himmlischer Vater es weiß und daß Sie still um einen Priestertumssegen gebetet haben. Gott hat mich dazu bewegt, Sie aus dem Versteck zu holen.”
Ein Segen wurde gespendet, ein Gebet war erhört. Ich küßte sie auf die Stirn und verließ das Krankenhaus, das Herz voll Dankbarkeit für die Eingebungen des Geistes. Es war das letzte Mal in diesem Leben, daß ich Kathleen McKee sah, aber es war nicht das letzte Mal, daß ich von ihr hörte.
Als sie gestorben war, rief man mich aus dem Krankenhaus an. Jemand sagte: „Bischof Monson, Kathleen McKee ist heute nacht gestorben. Sie hat verfügt, daß wir in diesem Fall Sie benachrichtigen sollen. Sie hinterläßt Ihnen den Schlüssel zu ihrer Wohnung.”
Kathleen McKee hatte keine Angehörigen. Meine Frau und ich gingen zu ihrer schlichten Wohnung. Ich schloß die Tür auf und schaltete das Licht an. In ihrer makellos sauberen Zwei-Zimmer-Wohnung stand ein kleiner Tisch, auf dem unter einer Medizinflasche eine Nachricht lag. Da stand in ihrer Handschrift: „Bischof, mein Zehnter ist in diesem Umschlag. Die Münzen in dem Glas sind für mein Fastopfer. Damit ist mein Konto beim Herrn glatt.” Die Quittungen wurden ausgestellt.
Jene Nacht ist nicht vergessen worden. Meine Seele war von Tränen der Dankbarkeit erfüllt. Vor ein paar Wochen bekam ich eine Geburtstagskarte von einem Paar, das letztes Jahr seine wunderschöne Tochter durch Krebs verloren hat. Darauf stand dieser tiefschürfende Gedanke:
„Was ist wohl so wichtig wie das Wissen”, fragt der Verstand.
„Mit dem Herzen sehen und mitfühlen”, antwortet die Seele.
Und das beschreibt genau den Segen von Betesda. Von dieser göttlichen Wahrheit gebe ich Zeugnis. Im Namen Jesu Christi, amen.