1990–1999
„Weil sie eine Mutter ist”
April 1997


„Weil sie eine Mutter ist”

Wenn Sie Ihr Bestes geben, um der beste Vater beziehungsweise die beste Mutter zu sein, die Sie sein können, dann haben Sie alles getan, was ein Mensch tun kann, und alles, was Gott von Ihnen erwartet.

Von Victor Hugo stammen die folgenden Zeilen: „Sie brach das Brot in zwei Stücke und gab sie ihren Kindern, die sie gierig verschlangen., Sie hat für sich selbst nichts behalten’, brummte der Sergeant.

,Weil sie nicht hungrig ist’, sagte ein Soldat.

,Nein’, sagte der Sergeant,, weil sie eine Mutter ist’.”

In diesem Jahr, in dem wir den Glauben und die Tapferkeit derer preisen, die jene mühsame Reise quer durch lowa, Nebraska und Wyoming unternommen haben, möchte ich den Frauen meine Anerkennung aussprechen, die das heutige Gegenstück jener Pioniermütter sind, die auf diesem langen Weg über ihre kleinen Kinder wachten, für sie beteten und sie, viel zu oft, sogar begraben mußten. Während ich das tue, hören mir auch Frauen zu, die sich sehnlich wünschen, Mutter zu sein, und es nicht sind. Die Brüder und ich wissen das nur zu gut. Doch bei all den Tränen, die Sie und wir deshalb vergießen, sagen wir dennoch, daß Gott, zu einer Zeit, die noch vor uns liegt, dem einsamen Herz „Frieden und Trost” schenken wird.1 Wie die Propheten von dieser Kanzel aus wiederholt gelehrt haben, wird den Glaubenstreuen letztlich „kein Segen vorenthalten bleiben”, auch wenn diese Segnungen nicht unmittelbar eintreten.2 In der Zwischenzeit freuen wir uns darüber, daß der Aufruf, andere zu hegen und zu pflegen, nicht auf unser eigen Fleisch und Blut beschränkt ist.

Wenn ich über die Mütter spreche, heißt das nicht, daß ich die entscheidende, dringliche Rolle des Vaters außer acht lasse, zumal die Vaterlosigkeit in heutigen Familien von manchen als das „zentrale soziale Problem unserer Zeit” betrachtet wird.3 Vaterlosigkeit kann sogar in einer Familie ein Problem sein, in der der Vater anwesend ist, zumindest, sozusagen „auf Knopfdruck”, zum Essen und Schlafen. Aber darüber muß ich an einem anderen Tag zum Priestertum sprechen. Heute möchte ich die Hände der Mütter preisen, die ihr Kind wiegen und dadurch, daß sie es Rechtschaffenheit lehren, im Mittelpunkt dessen stehen, was der Herr in der Sterblichkeit für uns vorgesehen hat.

Dabei wiederhole ich die Worte des Paulus, der den „aufrichtigen Glauben” des Timotheus lobte, der, wie er sagte, „schon in deiner Großmutter Lo’is und in deiner Mutter Eunike lebendig war”.4 „Denn du kennst von Kindheit an die heiligen Schriften”, sagte Paulus.5 Wir sagen allen Müttern und Großmüttern Dank, von denen wir solche Wahrheiten gelernt haben.

Wenn ich über Mütter im allgemeinen spreche, möchte ich vor allem die jungen Mütter loben und ermutigen. Die Arbeit einer Mutter ist harte Arbeit, die viel zu oft nicht gewürdigt wird. In diesen Anfangsjahren sind oft der Mann oder die Frau - oder sogar beide - noch in der Ausbildung oder im frühesten und magersten Entwicklungsstadium des beruflichen Werdegangs des Mannes. Die finanziellen Mittel schwanken täglich zwischen „knapp” und „nicht vorhanden”. Die Wohnung ist gewöhnlich in einer von zwei eleganten Stilrichtungen eingerichtet, nämlich mit gebrauchten Möbeln oder überhaupt nicht. Das Auto, falls überhaupt vorhanden, fährt auf völlig glatten Reifen und mit fast leerem Tank. Aber bei allem nächtlichen Füttern und nächtlichen Zahnen ist die größte Herausforderung für eine junge Mutter schlicht die Übermüdung. In diesen Jahren halten Mütter mit weniger Schlaf länger durch und geben mit weniger eigener Erholung mehr als jede andere Gruppe zu irgendeiner anderen Zeit im Leben. Da überrascht es nicht, daß die Schatten unter ihren Augen manchmal enorme Ausmaße annehmen.

Und ausgerechnet diese Schwester wollen wir - oder müssen wir - berufen, in einer Hilfsorganisation im Pfahl oder in der Gemeinde zu dienen. Das ist verständlich. Wer wollte nicht von dem beispielhaften Einfluß dieser jungen Frauen profitieren, die auf dem besten Weg sind, eine Lo’is oder Eunike zu werden? Mögen wir Weisheit walten lassen. Vergessen Sie nicht, daß die Familie das Allerwichtigste ist, gerade in dieser Zeit, in der die Kinder geformt werden. Wenn wir das tun, können junge Mütter dennoch auf wunderbare Weise treu in der Kirche dienen, so wie andere Ihnen - und Ihrer Familie - auf dieselbe Weise dienen und Sie stärken.

Geben Sie in diesen arbeitsreichen Jahren Ihr Bestes, aber - was immer Sie sonst noch tun - würdigen Sie diese Aufgabe, die Ihnen allein vorbehalten ist und für die der Himmel selbst Engel herabsendet, die über Sie und Ihre Kleinen wachen. Und Ihnen, den Ehemännern - vor allem den Ehemännern - sowie den Führern der Kirche und den Freunden auf allen Seiten sage ich: Helfen Sie mit, und seien Sie einfühlsam und weise. Vergessen Sie nicht: „Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit.”6

Mütter, wir anerkennen und wissen zu schätzen, wie Sie jeden Schritt im Glauben gehen. Sie müssen wissen, daß es sich damals gelohnt hat, heute lohnt und immer lohnen wird. Und wenn Sie in Ihren tapferen Bemühungen aus irgendeinem Grund ganz allein sind, ohne einen Partner an Ihrer Seite, dann sind unsere Gebete für Sie umso intensiver, und wir sind umso entschlossener, Ihnen hilfreich die Hand zu reichen.

Kürzlich schrieb mir eine junge Mutter, daß es dreierlei gab, was Ängste in ihr auslöste. Zum einen weinte sie oft, wenn sie Ansprachen darüber hörte, was von einer Mutter in der Kirche erwartet wird, weil sie das Gefühl hatte, den Anforderungen nicht zu entsprechen oder dieser Aufgabe niemals gerecht werden zu können. Zweitens hatte sie das Gefühl, die Welt erwarte von ihr, daß sie ihre Kinder lesen, schreiben, Innenarchitektur, Latein, höhere Analysis und alles über das Internet beibringt, noch ehe das Baby ein ganz gewöhnliches Wort wie „DaDa” sagen konnte. Drittens fühlte sie sich von anderen oft herablassend behandelt, wenn das auch meist nicht beabsichtigt war, weil der Rat und sogar die Komplimente, die sie erhielt, in keinster Weise zu berücksichtigen schienen, wie viele Gedanken sie investierte, wie groß ihre geistige und seelische Anstrengung war, wie sehr sie von den langen Nächten und den langen Tagen bis an ihre Grenzen beansprucht wurde, von all den Anforderungen, die manchmal notwendig sind, wenn man sich bemüht und sich auch wünscht, eine Mutter zu sein, wie Gott es sich erhofft.

Doch eines, sagte sie, hilft ihr, weiterzumachen. Ich zitiere: „Bei allen Höhen und Tiefen und trotz gelegentlicher Tränen weiß ich tief in meinem Innern, daß ich Gottes Werk tue. Ich weiß, daß ich als Mutter in einer ewigen Partnerschaft mit ihm verbunden bin. Es bewegt mich zutiefst, daß Gott letztlich seinen Zweck und seinen Sinn darin sieht, Vater zu sein, selbst wenn ihn manche seiner Kinder zum Weinen bringen.”

„Diese Erkenntnis”, so schließt sie, „versuche ich mir ins Gedächtnis zu rufen, wenn an den unvermeidlichen schwierigen Tagen alles so überwältigend zu sein scheint. Vielleicht ist es gerade unsere Unfähigkeit und unsere Besorgnis, die uns dazu drängen, uns an ihn zu wenden und ihm damit die Möglichkeit zu geben, auf uns einzuwirken. Vielleicht hofft er im stillen darauf, daß wir besorgt sind und demütig um seine Hilfe bitten. Dann, so glaube ich, kann er diese Kinder direkt durch uns unterweisen, ohne daß wir uns ihm widersetzen. Dieser Gedanke gefällt

mir; er macht mir Hoffnung. Wenn ich vor meinem Vater im Himmel recht handle, kann seine Führung vielleicht ungehindert zu unseren Kindern gelangen. Vielleicht ist es dann im eigentlichen Sinn sein Werk und seine Herrlichkeit.”7

Wenn wir diese Aussage in Betracht ziehen, wird klar, daß manche der riesigen Schatten unter den Augen nicht nur von den Windeln und der Fahrerei für die Kinder stammen, sondern auch von zumindest ein paar schlaflosen Nächten, in denen man seine Seele erforscht und sich aufrichtig um die Fähigkeit bemüht, die Kinder so zu erziehen, daß sie so werden können, wie Gott sie haben möchte. Deshalb möchte ich allen Müttern, die solche Hingabe und Entschlossenheit zeigen, im Namen des Herrn sagen, daß Sie großartig sind. Sie machen Ihre Sache sehr, sehr gut. Allein die Tatsache, daß Ihnen diese Aufgabe übertragen wurde, ist ein immerwährender Beweis für das Vertrauen, das der Vater im Himmel in Sie setzt. Sie haben Hilfe. Sie müssen es nicht allein schaffen. Er weiß, daß Sie, wenn Sie ein Kind zur Welt bringen, dadurch nicht gleich in den Kreis der Allwissenden erhoben werden. Wenn Sie und Ihr Mann bemüht sind, Gott zu lieben und nach seinem Evangelium zu leben; wenn sie inständig um den Trost und die Führung des Heiligen Geistes bitten, die den Glaubenstreuen verheißen sind; wenn Sie in den Tempel gehen und die Versprechen abgeben und Anspruch auf die Verheißungen erheben, die zu den heiligsten Bündnissen gehören, die eine Frau und ein Mann in dieser Welt eingehen können; wenn Sie anderen, einschließlich Ihren Kindern, mit ebenso fürsorglichen, mitfühlenden, vergebungsbereiten Gefühlen begegnen, wie Sie es für sich selbst vom Himmel erhoffen; wenn Sie Ihr Bestes geben, um die beste Mutter zu sein, die Sie sein können, dann haben Sie alles getan, was ein Mensch tun kann, und alles, was Gott von Ihnen erwartet.

Manchmal wird eine Entscheidung, die Ihr Kind oder Ihr Enkelkind trifft, Ihnen das Herz brechen. Manchmal werden Erwartungen nicht gleich erfüllt. Alle Eltern machen sich darüber Sorgen. In seinen Hoffnungen und Gebeten als Vater sagte unser geliebter Präsident Joseph F. Smith einmal: „O Gott, laß mich die Meinen nicht verlieren.”8 Das ist ein Hilferuf aller Eltern und drückt auch etwas von ihren Ängsten aus. Aber niemand hat versagt, der nicht aufhört, sich zu bemühen und zu beten. Es ist Ihr gutes Recht, ermutigt zu werden und zu wissen, daß Ihre Kinder am Ende Ihren Namen glücklich preisen werden, so wie es bei Generationen von Müttern vor Ihnen war, die dieselben Hoffnungen und Ängste hatten wie Sie.

Sie setzen die bedeutende Tradition von Eva fort, der Mutter der gesamten Menschheit, die darum wußte, daß sie und Adam fallen mußten, „damit Menschen sein können”9. Sie setzen die bedeutende Tradition von Sara, Rebekka und Rahel fort, ohne die es die patriarchalischen Verheißungen an Abraham, Isaak und Jakob nicht gegeben hätte, die für uns alle ein Segen sind. Sie setzen die bedeutende Tradition der Lo’is und Eunike und der Mütter der zweitausend jungen Krieger fort. Sie setzen die bedeutende Tradition Marias fort, die, noch ehe die Welt war, auserwählt und vorherordiniert wurde, den Sohn Gottes zu empfangen, auszutragen und zur Welt zu bringen. Wir danken Ihnen allen, auch unseren Müttern, und sagen Ihnen, daß es auf dieser Welt nichts Wichtigeres gibt, als so direkt am Werk und der Herrlichkeit Gottes beteiligt zu sein, indem Sie die Sterblichkeit und das irdische Leben seiner Töchter und Söhne zustande bringen, damit die Unsterblichkeit und das ewige Leben im celestialen Reich im Himmel zustande kommen können.

Wenn Sie sich in Sanftmut und Herzensdemut an den Herrn gewandt haben und, wie eine Mutter sagte, „an die Himmelstür gepocht haben, um für diese wunderbare Aufgabe Führung und Weisheit und Hilfe zu erbitten, zu erflehen und zu verlangen”, dann öffnet sich diese Tür weit, um Ihnen den Einfluß und die Hilfe der ganzen Ewigkeit zukommen zu lassen. Erheben Sie Anspruch auf die Verheißungen des Erretters. Bitten Sie für alles, was Sie oder Ihre Kinder quält, um den heilenden Balsam des Sühnopfers. Sie müssen wissen, daß durch Glauben alles in Ordnung kommen wird - trotz Ihnen, oder richtiger, gerade wegen Ihnen.

Das können Sie unmöglich allein schaffen, aber der Herr des Himmels und der Erde ist da, um Ihnen zu helfen. Er, der entschieden nach dem verlorenen Schaf sucht, der unermüdlich fegt, bis er das verlorene Geldstück findet, und der unaufhörlich auf die Rückkehr des verlorenen Sohnes wartet. Ihr Werk ist ein Werk der Errettung, und deshalb werden Sie groß gemacht, und es wird ein Ausgleich geschaffen, aus Ihnen wird mehr gemacht, als Sie sind, und Sie werden besser gemacht, als Sie jemals waren, wenn Sie sich aufrichtig bemühen, wie gering Ihre Bemühungen Ihnen manchmal auch erscheinen mögen.

Denken Sie daran, denken Sie daran, daß Sie in all den Tagen Ihrer Mutterschaft „nur durch das Wort von Christus und mit unerschütterlichem Glauben an ihn so weit gekommen” sind, indem Sie sich „ganz auf das Verdienst dessen verlassen [haben], der Macht hat zu erretten”.10

Verlassen Sie sich auf ihn. Verlassen Sie sich voll und ganz auf ihn. Verlassen Sie sich immer auf ihn. „Darum müßt ihr mit Beständigkeit in Christus vorwärtsstreben, erfüllt vom Glanz der Hoffnung.”11 Sie tun Gottes Werk. Sie machen Ihre Sache gut. Er segnet Sie, und er wird Sie segnen, sogar - nein, gerade wenn Ihre Tage und Nächte am schwierigsten sind. Wie zu der Frau, die sich heimlich, demütig, vielleicht sogar zögernd und verlegen einen Weg durch die Menge bahnte, um den Saum des Gewandes des Meisters zu berühren, wird Christus zu den Frauen sagen, die sich wegen ihrer Aufgabe als Mutter Sorgen machen oder zweifeln oder weinen: „Hab keine Angst, meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen.”12 Und er wird auch Ihren Kindern helfen.

Im heiligen Namen des Herrn Jesus Christus. Amen.

  1. Siehe „Herr, unser Erlöser”, Gesangbuch, Nr. 5. Siehe auch 3 Nephi 22:1.

  2. Siehe Joseph Fielding Smith, Doctrines of Salvation, Hg. Bruce R. McConkie, 2;76; Harold B. Lee, Ye Are the Light ofthe World: Selected Sermons and Writings of President Harold B. Lee, [1974], 292, und Gordon B. Hinckley, Conference Report, April 1991, 94.

  3. Tom Löwe, „Fatherlessness: The Central Social Problem of Our Time”, Claremont Institute Home Page Editorial, Januar 1996.

  4. 2 Timotheus 1:5.

  5. 2 Timotheus 3:15.

  6. Kohelet 3:1.

  7. Persönliche Korrespondenz.

  8. Joseph F. Smith, Evangeliumslehre, 506.

  9. 2 Nephi 2:25.

  10. 2 Nephi 31:19.

  11. 2 Nephi 31:20.

  12. Matthäus 9:20-22.