Wahre Nachfolger
Der Erretter möchte, daß wir, als seine wahren Nachfolger, unsere Mitmenschen so lieben, wie er sie liebt bedingungsloser, reiner, vollkommener.
Als Jesus mit seinen elf Jüngern allein in jenem Obergemach ist, nutzt er die letzten Augenblicke seines irdischen Wirkens, um seinen Jüngern folgendes zu vermitteln: “Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.”1 Dann spricht er über seinen bevorstehenden Tod und seine Auferstehung: “Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.”2 Er bestätigt noch einmal, daß er der Sohn Gottes ist: “Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich.”3 Und er verheißt, daß der Vater ihnen einen anderen Beistand senden wird, nämlich den Heiligen Geist. “Der wird euch alles lehren.”4
Weil Jesus uns bedingungslos liebt, wollte er das Sühnopfer bringen, um für unsere Sünden zu sühnen. Wenn er uns nicht lieben würde, könnten wir nicht zum himmlischen Vater zurückkehren. Das Leben, das Jesus Christus geführt hat, müssen wir uns als Beispiel nehmen. Seine Lebensweise muß unsere Lebensweise sein. “Darum: Was für Männer sollt ihr sein? Wahrlich, ich sage euch: So, wie ich bin.”5 Er hat uns gezeigt, daß wir Gutes tun müssen, daß das geistige und körperliche Wohlergehen unseres Nächsten genauso wichtig ist wie unser eigenes und daß wir allen Kindern des himmlischen Vaters aufrichtige Fürsorge und Erbarmen entgegenbringen müssen. Moroni bezeichnet die christliche Liebe als Nächstenliebe: “Und nun weiß ich, daß diese Liebe, die du für die Menschenkinder gehabt hast, Nächstenliebe ist; darum, wenn die Menschen keine Nächstenliebe haben, können sie die Stätte nicht ererben, die du in den Wohnungen deines Vaters bereitet hast.”6 Es reicht nicht aus, wenn wir sagen, daß wir an den Herrn glauben und ihn lieben, sondern es muß bei uns am letzten Tag gefunden werden, daß wir seine Art der Liebe anderen Menschen gegenüber besitzen. Wir müssen nicht unbedingt unser Leben für andere hingeben, wie er es getan hat, aber wie der Erretter müssen auch wir unseren Mitmenschen Gutes tun, indem wir ihnen von dem geben, was unser Leben ausmacht, nämlich von unserer Zeit, unseren Talenten, unseren Mitteln und uns selbst.
Mormon fordert uns auf: “Betet mit der ganzen Kraft des Herzens zum Vater, daß ihr von dieser Liebe erfüllt werdet, die er allen denen verleiht, die wahre Nachfolger seines Sohnes Jesus Christus sind.”7 Wie der Glaube, so ist auch die christliche Liebe eine Gabe des Geistes und wird gemäß den Grundsätzen der Rechtschaffenheit und dem Gehorsam erteilt, mit dem wir die Gesetze halten, auf denen sie beruht. Und wie für den Glauben, so gilt auch für die Liebe, daß man sie üben muß, damit sie wächst. Wir alle leben ja Tag für Tag und müssen täglich Entscheidungen treffen, was unseren Umgang mit unseren Mitmenschen angeht. Dabei kommt es nicht auf unser Alter und unsere Lebensumstände an. Wenn wir uns selbst verleugnen und unseren Mitmenschen voll Erbarmen die Hand reichen, um ihnen zu dienen, werden wir vom Geist geläutert und unterwiesen und erfahren, was Paulus mit den folgenden Worten sagen wollte: “Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung.”8 Wenn wir unseren Mitmenschen aus freien Stücken dienen, entwickelt sich die Nächstenliebe in uns zur Gottesliebe und verändert uns so, daß wir, “wenn er erscheinen wird, so sein werden wie er”.9 Brigham Young hat gelehrt: “Wir müssen unsere Werke der Liebe und der Freundlichkeit innerhalb der Familie beginnen, zu der wir gehören, und sie dann auf andere Menschen ausdehnen.”10 König Benjamin legte den Eltern ans Herz, ihre Kinder zu lehren, “einander zu lieben und einander zu dienen”.11 Beides Liebe und Dienen gehört zusammen. Präsident Kimball hat gesagt: “Gott weiß wirklich um uns, und er wacht über uns. Aber meistens läßt er uns durch einen anderen Menschen das zuteil werden, was wir brauchen. Deshalb ist es wichtig, daß wir einander im Reich Gottes dienen.”12
Im vergangenen Januar verwüstete ein Erdbeben die Stadt Armenia im zentralen Bergland von Kolumbien. Besorgte Pfahlpräsidenten riefen die Gebietspräsidentschaft in Quito an, um sich zu erkundigen, was die Mitglieder, die in Armenia wohnten, wohl brauchen mochten. Der Distriktspräsident bestätigte, daß viele Mitglieder obdachlos geworden waren und in den vier Gemeindehäusern, die der Zerstörung entgangen waren, Zuflucht gefunden hatten. Sie brauchten nun dringend Lebensmittel und Kleidung. Die Führungskräfte der FHV und des Priestertums machten sich an die Arbeit, und jeden Tag trafen Lebensmittel- und Kleiderspenden der Mitglieder in Kolumbien in dem in jeder Stadt ausgewählten Gemeindehaus ein. Die siebenjährige Neidi war mit ihren Eltern in das Gemeindehaus von Cali gekommen und sah zu, wie Bischof Villareal die Spenden der Mitglieder entgegennahm.
“Bischof, wie kann ich den Kindern in Armenia helfen?” “Neidi, deine Eltern haben ihnen bereits geholfen.” Neidi lief an das andere Ende des Gemeindehauses und sah, daß für Kinder nur wenige Kleidungsstücke und überhaupt keine Schuhe eingepackt wurden. Also ging sie mit ihren Schuhen in der Hand zum Bischof: “Jetzt weiß ich, wie ich helfen kann. Bitte geben Sie meine Schuhe einem Mädchen in Armenia, das keine mehr hat.” Lautlos ging sie dann barfuß davon.
König Benjamin hat seinem Volk ans Herz gelegt, auf die Eingebungen des Heiligen Geistes zu hören, den natürlichen Menschen abzulegen und durch die Sühne Christi, des Herrn, ein Heiliger zu werden und so zu werden “wie ein Kind, fügsam, sanftmütig, demütig, geduldig, voll von Liebe”.13
1829, gegen Ende des Frühjahrs, als die wundersamen Ereignisse im Zusammenhang mit der Wiederherstellung ihren Gang nahmen, teilte der Herr dem Joseph Knight durch den Propheten Joseph Smith mit: “Und niemand kann bei diesem Werk helfen, wenn er nicht demütig und voller Liebe ist.14 Heute ist jeder würdige junge Mann aufgerufen, sich bereitzumachen, zwei Jahre seines Lebens für den Vollzeitmissionsdienst zu opfern. Und wenn ein Missionar das Evangelium des Herrn mit ganzem Herzen, aller Macht, ganzem Sinn und aller Kraft verkündigt und seinen Mitmenschen mit dieser Einstellung dient, dann werden ihm Gaben des Geistes zuteil, zu denen auch die christliche Liebe für diejenigen gehört, denen er dient. Der Missionsdienst kann und muß sich als Grundlage für lebenslanges Glück erweisen, das auf Liebe und Dienst am Nächsten beruht. Wie das Priestertum ist auch die Mutterschaft eine Berufung von Gott, anderen Menschen zu dienen und sie in ihrer Entwicklung zu fördern. Wer die reine Liebe kennt, die eine Mutter für ihr Kind empfindet, kann der noch leugnen, daß diese Art der Liebe von Gott ist? Schwestern, solche christliche Liebe können und müssen Sie Ihren Mitmenschen Ihr Leben lang entgegenbringen.
Einmal kam ein reicher Mann zu Jesus und fragte: “Meister, was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?” Der Herr zählte ihm die Gebote auf, und der Mann sagte dann: “Alle diese Gebote habe ich befolgt. Was fehlt mir jetzt noch? Jesus antwortete ihm: Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach.”15
Wir als seine Jünger in der heutigen Zeit müssen uns fragen: “Was fehlt mir noch?” Sie können Gutes tun, Sie können Ihre Angehörigen und Ihre Mitmenschen in der Kirche und im Gemeinwesen lieben und ihnen dienen. Aber einmal kommt der Punkt, wo Sie bereit sein müssen, ihm alles zu geben, was Sie haben und sind.16
Zu den wahrsten Nachfolgern, die ich kenne, gehören die Ehepaare, die eine Zeitlang auf die langersehnte Entspannung und die Annehmlichkeiten des Lebens im Ruhestand verzichten und dem Herrn nachfolgen, indem sie ihre ganze Zeit dem Dienst in seinem Reich widmen. Wenn Sie gemeinsam bessere Jünger werden wollen, dann sprechen Sie mit Ihrem Bischof über eine Mission. Jede Mission in der Kirche braucht mehr Missionarsehepaare, und die bald einhundert in Betrieb befindlichen Tempel der Kirche brauchen Arbeiter. Präsident Hinckley hat gesagt:
“Warum ist ein Missionar glücklich? Weil er sich im Dienst an seinen Mitmenschen verliert.
Warum ist jemand, der im Tempel arbeitet, glücklich? Weil sein Liebeswerk wahrlich dem erhabenen stellvertretenden Werk des Erretters der Menschheit entspricht.”17
Ich bin dankbar dafür, daß ich liebe Menschen um mich habe, die mir mit ihrer Liebe und ihrem Dienst helfen. So wie die Menschen, die sich zur Zeit Almas bekehrten, müssen auch wir willens sein, “einer des anderen Last zu tragen, damit sie leicht sei”18, wenn wir sein Volk genannt werden wollen. Jeder von uns kennt wahre Nachfolger, die durch ihre christliche Liebe und ihren Dienst am Nächsten vielen Menschen die Last leichter machen. Ernest LeRoy Hatch war Arzt in dem Ort in Nordmexiko, wo ich aufgewachsen bin. Er war auch mein Missionspräsident und hat mehrmals eine Mission erfüllt. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er den Text des Liedes “Mehr Heiligkeit gib mir” bei sich. Die beiden letzten Zeilen lauten: “Mehr würdig des Reiches, mehr innere Ruh, mehr heilend und segnend, mehr, Heiland, wie du!”19
Der Erretter möchte, daß wir, als seine wahren Nachfolger, unsere Mitmenschen so lieben, wie er sie liebt bedingungsloser, reiner, vollkommener. So wie in der Vergangenheit zeigen seine Apostel und Propheten uns auch heute durch ihr Beispiel, daß diese christliche Liebe der Wesenskern des Evangeliums des Herrn ist. Ich darf die Liebe, die sie füreinander und für uns alle empfinden, erfahren und spüren. Ich bezeuge, daß sie wahrhaft Jünger Jesu Christi sind. Diese Kirche ist sein Reich auf der Erde. Wir haben das Beispiel des Herrn und seiner Apostel und Propheten; mögen auch wir wahre Jünger sein. Im Namen Jesu Christi, amen.