Betrachtungen
Glühwürmchen
Der Verfasser lebt in Florida.
Richten wir den Blick stets auf den ewigen Lohn – oder auch mal auf etwas anderes?
Vor einigen Jahren arbeitete ich an einer archäologischen Ausgrabungsstätte namens Aguateca, die sich in einem wunderschönen, jedoch ziemlich entlegenen Teil Guatemalas befindet. Unser Arbeitsort war erst nach einer langen Bootsfahrt den Fluss Petexbatún mit seinen vielen Windungen hinauf erreichbar.
Eines Abends kehrte ich mit einigen Archäologen nach Aguateca zurück, nachdem wir den Tag an einer anderen Ausgrabungsstätte verbracht hatten. Nur das leise Brummen des Motors und das leise Zirpen der Insekten waren zu hören, als wir mit dem Boot flussaufwärts fuhren. Ich lehnte mich an die Bootswand und genoss die friedliche Fahrt und die mondlose, ungewöhnlich klare Nacht. Während das Boot den vielen Windungen des Flusses folgte, versuchte ich, der Orientierung halber den Polarstern im Auge zu behalten. Manchmal verschwand er hinter den dunklen Umrissen der Bäume, die das Flussufer säumten, aber jedes Mal tauchte er kurz darauf wieder auf.
An einer Windung des Flusses verlor ich den Polarstern wieder hinter den Baumwipfeln aus den Augen. Als das Boot Richtung Süden steuerte, fand ich ihn jedoch rasch wieder, und ich kam mir vor wie ein Seemann aus alten Zeiten und war stolz auf meinen Orientierungssinn. Nachdem ich den Polarstern einen Moment lang beobachtet hatte, stellte ich jedoch fest, dass ich falsch lag: Ich hatte den Polarstern gar nicht wiedergefunden – und auch keinen anderen Stern. Ich blickte zu einem Glühwürmchen auf!
Erst da bemerkte ich, dass viele der „Sterne“ über mir in Wirklichkeit Glühwürmchen waren, die still in der warmen Nachtluft schwebten. Erstaunlicherweise war das Leuchten der Glühwürmchen über uns dem Strahlen der fernen Sterne und Galaxien am Himmel fast gleich, und die Windungen und Biegungen des Flusslaufs trugen das Ihre zu dieser Verwechslung bei.
„Wie konnte ich nur ein winziges Glühwürmchen für einen hell leuchtenden Stern halten?“, fragte ich mich. Die Antwort lag auf der Hand: Es war einfach eine Frage der Perspektive. Das verhältnismäßig schwache und flüchtige Licht der Glühwürmchen konnte es nur deshalb mit dem Licht der Sterne aufnehmen, weil die Glühwürmchen nur wenige Meter über mir schwebten und die Sterne so weit entfernt waren. Aus meiner Perspektive waren die beiden einander ziemlich ähnlich.
Wie die Glühwürmchen erscheinen uns die Versuchungen und Prüfungen des Lebens gewaltig groß, weil wir sie unmittelbar vor Augen haben. Die verheißenen Segnungen hingegen kommen uns – wie die Sterne – sehr weit entfernt vor.
Unsere geistige Kurzsichtigkeit kann so manche Folge haben. Je weiter entfernt der Lohn zu sein scheint, desto eher neigen wir zu der Ansicht, wir könnten den Tag unserer Umkehr aufschieben und trotzdem zum Vater im Himmel zurückkehren und Anspruch auf unser ewiges Erbe erheben (siehe Alma 34:33,34). Möglicherweise zweifeln wir an dem ewigen Lohn oder finden, dass es mehr Spaß mache, dem natürlichen Menschen jetzt nachzugeben, als auf Segnungen zu warten, die uns vielleicht erst viel später zuteilwerden. Vielleicht macht uns der unerbittlich lange Kampf gegen die Sünde mit der Zeit zu schaffen, oder es mangelt uns an Glauben, dass uns der Erlöser helfen wird, den Schlägen des Satans standzuhalten.
Wir alle verlieren gelegentlich die Ewigkeit aus den Augen. Die Herausforderung besteht darin, die ewige Sichtweise so schnell wie möglich wiederzuerlangen. Die Welt mag verlockende, scheinbar reale Belohnungen bieten, wir hingegen können auf Jesus Christus schauen, während wir durch die Windungen und Wendungen des Lebens steuern, und darauf vertrauen, dass er „denen, die ihn suchen, ihren Lohn geben wird“ (Hebräer 11:6).
Diese Bootsfahrt auf dem Fluss ist nun schon viele Jahre her, aber noch heute halte ich inne, wenn ich mit einer Versuchungen konfrontiert werde, und sage mir: „Es ist ja nur ein Glühwürmchen.“