Training für unsere geistigen Muskeln
So wie es für den Muskelaufbau nicht ausreicht, nur etwas über Muskeln zu lesen und zu lernen, genügt es nicht, nur etwas über Glauben zu lesen und zu lernen, um ihn aufzubauen – man muss auch handeln
Ich bin dankbar für meinen physischen Körper, der eine erstaunliche Gabe von unserem Vater im Himmel ist. Unser Körper hat über 600 Muskeln.1 Viele Muskeln müssen trainiert werden, damit wir sie für unsere täglichen Aufgaben benutzen können. Wir können uns gedanklich viel mit unseren Muskeln beschäftigen, etwas über sie lesen und lernen, doch wenn wir meinen, sie würden dadurch stärker, erwartet uns eine große Enttäuschung. Unsere Muskeln wachsen nur, wenn wir sie benutzen.
Ich habe festgestellt, dass es sich mit geistigen Gaben ebenso verhält. Auch sie müssen trainiert werden, damit sie wachsen. Die geistige Gabe des Glaubens beispielsweise ist nicht einfach nur ein Gefühl oder eine Stimmung, sondern ein Grundsatz, der Handeln erfordert. In den heiligen Schriften kommt Glaube oft im Zusammenhang mit dem Verb ausüben vor.2 So wie es für den Muskelaufbau nicht ausreicht, nur etwas über Muskeln zu lesen und zu lernen, genügt es nicht, nur etwas über Glauben zu lesen und zu lernen, um ihn aufzubauen – man muss auch handeln.
Als ich 16 war, kam eines Tages mein Bruder Ivan, der damals 22 war, nach Hause und sagte, er habe Neuigkeiten. Er hatte beschlossen, sich durch die Taufe der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage anzuschließen. Unsere Eltern sahen ihn etwas skeptisch an, und ich weiß noch, dass ich mir nicht ganz sicher war, was eigentlich vor sich ging. Etwa ein Jahr darauf hatte er weitere verblüffende Neuigkeiten: Er hatte beschlossen, für die Kirche auf Mission zu gehen, was bedeutete, dass wir ihn zwei Jahre lang nicht sehen würden. Meine Eltern waren davon nicht sonderlich begeistert. Doch ich sah eine feste Entschlossenheit in ihm und bewunderte ihn und seine Entscheidung deshalb umso mehr.
Monate später, während Ivan auf Mission war, plante ich einen Urlaub mit einigen Schulkameraden. Wir wollten unseren Highschool-Abschluss feiern und ein paar Tage am Strand verbringen.
Ich schrieb meinem Bruder einen Brief und erzählte ihm von unseren Plänen für den Sommer. Er schrieb mir zurück, dass der Ort, wo er gerade als Missionar im Einsatz war, auf dem Weg zu unserem Urlaubsort lag. Ich hielt es für eine gute Idee, ihn auf dem Weg zu besuchen. Erst später fand ich heraus, dass Missionare nicht von ihren Angehörigen besucht werden sollen.
Ich traf die nötigen Vorbereitungen. Ich weiß noch, wie ich im Bus saß und mir ausmalte, wie viel Spaß Ivan und ich an diesem schönen sonnigen Tag miteinander haben würden. Wir würden frühstücken, uns unterhalten, im Sand spielen und in der Sonne baden – wir würden uns prächtig amüsieren!
Als der Bus an der Haltestelle ankam, sah ich Ivan neben einem anderen jungen Mann stehen. Beide trugen ein weißes Hemd und eine Krawatte. Ich stieg aus, wir umarmten einander, und er stellte mir seinen Mitarbeiter vor. Ohne auch nur eine weitere Minute zu verlieren, erzählte ich meinem Bruder von meinen Plänen – doch ich hatte meine Rechnung ohne Ivan gemacht. Er sah mich an, lächelte und erwiderte: „Klar! Aber erst mal gibt es einiges zu erledigen. Kommst du mit?“ Ich willigte ein, weil ich dachte, dass wir ja später sicher noch genügend Zeit für den Strand hätten.
An diesem Tag lief ich über zehn Stunden lang mit meinem Bruder und dessen Mitarbeiter durch die Straßen dieses Ortes. Den ganzen Tag über lächelte ich Leute an und grüßte Menschen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Wir sprachen jeden an, klopften bei Fremden an die Tür und besuchten Leute, denen mein Bruder und sein Mitarbeiter das Evangelium verkündeten.
Während eines solchen Besuches sprachen mein Bruder und sein Mitarbeiter über Jesus Christus und den Erlösungsplan. Plötzlich hielt Ivan inne und sah mich an. Zu meinem Erstaunen bat er mich ganz höflich, meine eigenen Ansichten zu diesem Thema zu äußern. Es wurde ganz still im Raum, und alle sahen mich an. Mit einiger Mühe gelang es mir, die richtigen Worte zu finden und meine Gedanken zum Erretter zu äußern. Ich wusste nicht, ob das, was ich sagte, richtig oder falsch war. Mein Bruder verbesserte mich nicht, ganz im Gegenteil – er dankte mir dafür, dass ich meine Gedanken und Gefühle geäußert hatte.
In all diesen gemeinsamen Stunden verbrachten mein Bruder und sein Mitarbeiter keine einzige Minute damit, mir allein ein bestimmtes Thema zu erklären, und dennoch lernte ich mehr dazu als in all unseren früheren Gesprächen. Ich sah, wie sich der Gesichtsausdruck der Menschen veränderte, als sie geistiges Licht empfingen. Ich sah, wie manche von ihnen aus den Botschaften Hoffnung schöpften, und ich lernte, wie man seinen Mitmenschen dient und sich selbst und die eigenen Wünsche dabei vergisst. Ich tat das, wozu der Erretter uns angehalten hat: „Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst.“3
Rückblickend habe ich erkannt, dass mein Glaube an diesem Tag wuchs, weil mein Bruder mir die Gelegenheit gab, ihn auszuüben. Ich übte ihn aus, als wir in den heiligen Schriften lasen, als wir nach Menschen suchten, die bereit waren zuzuhören, als wir Zeugnis gaben, Gutes taten und so weiter. Wir kamen an diesem Tag nicht zu unserem Sonnenbad, doch mein Herz badete in Licht vom Himmel. Ich sah kein einziges Sandkorn am Strand, doch ich spürte, wie mein Glaube wie ein Senfkorn wuchs.4 Ich verbrachte den sonnigen Tag nicht als Tourist, doch ich machte wundervolle Erfahrungen. Und ohne mir dessen bewusst zu sein, war ich ein Missionar – ohne überhaupt der Kirche anzugehören!
Wie wir unsere geistigen Muskeln stärken können
Dank der Wiederherstellung des Evangeliums können wir erkennen, wie der Vater im Himmel uns dabei hilft, unsere geistigen Gaben zu entwickeln. Wahrscheinlich gibt er uns eher Gelegenheiten, diese Gaben zu entwickeln, als dass er sie uns einfach gewährt, ohne dass wir uns dafür körperlich oder geistig anstrengen müssten. Wenn wir mit seinem Geist im Einklang sind, lernen wir, diese Gelegenheiten zu erkennen und zu nutzen.
Wenn wir mehr Geduld entwickeln wollen, werden wir uns wahrscheinlich in Geduld üben müssen, bis wir eine Antwort erhalten. Wenn wir mehr Nächstenliebe entwickeln wollen, können wir das dadurch fördern, dass wir uns in der Kirche neben jemanden setzen, den wir nicht kennen. Mit dem Glauben ist es ähnlich: Wenn uns Zweifel kommen, müssen wir auf die Verheißungen des Herrn vertrauen, um weitermachen zu können. Auf diese Weise trainieren wir unsere geistigen Muskeln, sodass sie sich für uns zu einer Kraftquelle entwickeln.
Anfangs fällt uns das wahrscheinlich schwer, und es wird vielleicht sogar zu einer großen Herausforderung. Die Worte, die der Herr durch den Propheten Moroni gesprochen hat, gelten auch für uns heute: „Und wenn Menschen zu mir kommen, so zeige ich ihnen ihre Schwäche. Ich gebe den Menschen Schwäche, damit sie demütig seien; und meine Gnade ist ausreichend für alle Menschen, die sich vor mir demütigen; denn wenn sie sich vor mir demütigen und Glauben an mich haben, dann werde ich Schwaches für sie stark werden lassen.“5
Ich bin meinem Bruder Ivan dankbar. Er hat mich nicht nur mit dem Evangelium bekanntgemacht, sondern hat mich indirekt aufgefordert, danach zu leben und meine Schwächen zu erkennen. Er hat mir geholfen, die Aufforderung des Meisters – „Komm und folge mir nach!“6 – anzunehmen, so zu wandeln, wie der Erretter wandelte, nach dem zu streben, wonach der Erretter strebte, und andere so zu lieben, wie der Erretter uns liebt. Mehrere Monate nach meiner Erfahrung mit der Missionsarbeit beschloss ich, mich taufen zu lassen und selbst auf Mission zu gehen.
Folgen wir doch Präsident Russell M. Nelsons Aufforderung, bewusst zum Erretter zu kommen,7 indem wir prüfen, welche unserer geistigen Muskeln mehr Bewegung brauchen, und sie dann trainieren. Dies ist ein Dauerlauf, ein Marathon und kein Sprint. Denken Sie also daran, beständig die kleinen geistigen Übungen durchzuführen, mit denen Sie diese wichtigen geistigen Muskeln stärken. Wenn wir unseren Glauben aufbauen wollen, dann lassen Sie uns etwas tun, was Glauben erfordert.
Ich gebe Zeugnis, dass wir Kinder eines liebevollen Vaters im Himmel sind. Sein Sohn Jesus Christus liebt uns. Er kam zur Welt, um uns den Weg zu zeigen, und gab dann freiwillig sein Leben hin, um uns Hoffnung zu schenken. Der Erretter fordert uns auf, seinem vollkommenen Beispiel zu folgen, Glauben an ihn und sein Sühnopfer auszuüben und all die geistigen Gaben, mit denen wir gesegnet sind, weiterzuentwickeln. Er ist der Weg. Dies ist mein Zeugnis. Im Namen Jesu Christi. Amen.