2022
Eine verkannte Berufung
Oktober 2022


Eine verkannte Berufung

Wien (RHS): Aufgrund der Tatsache, dass mein Mann in die Hochrisikogruppe eingestuft wurde und für ihn eine Coronaerkrankung folgenreich wäre, konnte ich, auch als die Maßnahmen gelockert wurden, das Haus nur zum Einkaufen verlassen. Auch meine Berufung als Ratgeberin in der FHV konnte ich nur eingeschränkt ausüben, was mich belastete. Der Herr sagte mir in einem Priestertumssegen allerdings, dass mein Platz jetzt an der Seite meines Mannes sei. So wurde ich nach einem Jahr wieder entlassen und die Bischofschaft berief mich zur Geschichtsschreiberin der Gemeinde.

Ich nahm mir einen Ordner nach dem anderen mit nach Hause und begann zu lesen.

Liebevoll zusammengestellt und mit Fotos und Abschriften dokumentiert – so hatte mir mein Vorgänger die Anfänge der Geschichte unserer Gemeinde hinterlassen. In einem anderen Ordner gab es eine Fülle von Bekehrungsgeschichten. Gerade einmal eine Handvoll der Mitglieder unserer Gemeinde war darin vertreten. Viele erkannte ich an ihrem Namen, andere gar nicht, aber als ich zu lesen begann, tauchte ich ein – in eine andere Welt. Aus den Namen wurden Menschen, die zwischen den Buchstaben hervortraten, auf einmal ein Profil bekamen – Menschen wie du und ich, die mit Schwierigkeiten, Schicksalsschlägen und Entscheidungen zu kämpfen hatten und dennoch treu blieben.

Es gab aber auch Zeugnisse von Segnungen und Wundern. Bei manchen Berichten war ein Foto des Verfassers oder der Verfasserin beigefügt. Ich spürte den Geist und hatte das Gefühl, „heilige Schrift“ zu lesen. Denn Statistiken beschreiben nur Fakten – keine Geschichte, so war mein Empfinden. So, wie man allein mit Mehl keinen schmackhaften Kuchen zubereiten kann, wird die Geschichte erst durch Gefühle und Erlebnisse lebendig und nachvollziehbar.

So war aus dem zuvor unüberschaubaren Berg auf einmal eine Aufgabe geworden. Bei der Durchsicht der Ordner erkannte ich, dass die Geschichte nicht vollständig war. Ich war bestürzt über den langen Zeitraum, von dem es kaum oder gar keine Aufzeichnungen gab. Doch dann begann ich zu sammeln; bat die Brüder und Schwestern um Zeugnisse, ihre persönlichen Bekehrungsgeschichten, glaubensstärkende Erlebnisse, Fotos von Aktivitäten und andere Erinnerungen. Mir fielen Ereignisse ein, die in diesem fehlenden Zeitabschnitt stattgefunden hatten und von denen es keine Berichte gab. Ich sprach die betreffenden Personen gezielt darauf an und bekam danach manche Zusendungen und Informationen.

Wie bei einem Puzzlespiel, bei dem die passenden Teile oft erst nach langem Suchen eingefügt werden können, suchte auch ich. Zwischendurch fragte ich mich, ob ich richtig an diese Sache herangehe. Im Mai las ich im Leitfaden „Komm und folge mir nach!“ unter „Vertiefende Gedanken über die Geschichtsbücher im Alten Testament“, dass die Darstellung einer Geschichte immer eine Frage des Blickwinkels des Verfassers ist. Ich würde also auch aus meiner Sicht berichten und im Zweifelsfall den Herrn fragen.

Die Aufforderung, Berichte zu führen, kommt schließlich nicht von ungefähr. Das Buch „Heilige“, das die Kirche kürzlich herausgebracht hat, wurde aus Aufzeichnungen und Tagebuchabschriften zusammengestellt. Ja, auch alle heiligen Schriften sind anhand von persönlichen Berichten zusammengestellt worden. Der Tag der Wiederherstellung des Melchisedekischen Priestertums zum Beispiel ist nicht mehr genau festzustellen, weil es keine Aufzeichnung darüber gibt.

Geschichtsschreiberin einer Gemeinde zu sein ist also für mich mehr, als eine Statistik zu führen. Es ist eine große Aufgabe, wenn man sie dazu macht. Ich bezeuge, dass man auch in dieser Berufung „aufgehen“ und viel Freude erleben kann, wenn man sie mit ganzem Herzen erfüllt.

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