Liahona
Wenn des Sämanns Hand schon kalt
Juni 2024


Wenn des Sämanns Hand schon kalt

Im Sommer des Jahres 2023 musste ich unwillkürlich an das Lied „Täglich säend“ aus dem Gesangbuch der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage denken, nachdem ich einen älteren Herrn kennengelernt hatte.

Er stand eines Tages am Eingang unseres Gemeindehauses. Bei einem seiner täglichen Spaziergänge wurde er auf den Schriftzug an der Tür aufmerksam, der auf die Genealogie-Forschungsstelle hinwies. Vor gut 25 Jahren hatte er einen Stand von FamilySearch auf der Messe Du und Deine Welt in Hamburg besucht und man hatte ihm digitale Hinweise auf seinen Namen gezeigt.

Als er nun im Sommer 2023 vor der Kirchentür stand, hatten ihn zufällig anwesende Missionare angesprochen. Der Kontakt zu mir als Berater für Tempel und Familiengeschichte war schnell hergestellt und so traf ich mich mit dem Herrn während der Woche in unserem FamilySearch-Center in der Gemeinde Hamburg.

Er hatte mir im Vorfeld erzählt, dass er nach seinen Großeltern sucht, die er nie kennengelernt hatte. Seinen Vater verlor er früh und seine Mutter kränkelte sehr. So kümmerte sich hauptsächlich eine Schwester seines Vaters um ihn und seinen Bruder. Nun brachte er mir die wenigen Dokumente mit, die er besaß. Mit den Daten erstellten wir seinen Stammbaum auf FamilySearch und lernten uns an diesem Nachmittag näher kennen. Ich riet ihm, sich an die Standesämter der Städte zu wenden, in denen seine Eltern geboren wurden, um mehr Hinweise auf seine Eltern zu erhalten. Weil er keinen Computer hatte, richtete ich mit einer kurzerhand für ihn erstellten E-Mail-Adresse, auf die ich Zugriff hatte, alles ein und schrieb die Standesämter in seinem Namen an.

In den darauffolgenden Tagen überschlugen sich die Ereignisse. Ein Standesbeamter der Stadt, in der sein Vater geboren wurde, übersendete ohne große Formalitäten alle Angaben aus der gewünschten Geburtsurkunde. Ich fand auf der Genealogie-Plattform Ancestry einen Stammbaum, der von einem seiner Urenkel erstellt worden war, und dank der Daten des Standesbeamten konnte auf FamilySearch die Lücke zwischen den Lebenden zu den Verstorbenen geschlossen werden und es hagelte Hinweise von FamilySearch auf seine Familie.

Seitdem treffe ich mich mit dem Herrn regelmäßig einmal in der Woche für einige Stunden im FamilySearch-Center Hamburg und gehe allen Hinweisen von FamilySearch, aus dem Stammbaum seines Urenkels und den Familien-Aufzeichnungen seines Bruders nach – dem Bruder, mit dem er seit Jahren nicht mehr Kontakt hatte und den er jetzt wieder angerufen hat.

Ich bin schon Jahrzehnte in Sachen Familienforschung unterwegs, so etwas aber habe ich noch nie erlebt. Da ist einer auf der Suche nach seinen Großeltern und findet eine Familie, die bis in die 13. Generation zurückzuverfolgen ist. Sein Stammbaum reicht bis in das Jahr 1564 zurück.

Es ist mittlerweile Herbst und wir sind Freunde geworden. Von den Missionaren will er nichts wissen, die gemeinsame Zeit im FamilySearch-Center möchte er aber, unabhängig von seinen Vorfahren, nicht missen. Er stellt viele Fragen über unsere Kirche, die er jeden Sonntag besucht, „weil hier ein angenehmes Klima herrscht“, wie er sagt, und ich beantworte seine Fragen gerne.

Wenn wir uns die Aufzeichnungen seiner Vorfahren am Computer ansehen, kommt es schon manchmal zu grotesken Situationen. Da die betreffenden Kirchenbücher indexiert sind, die Originalabbildungen aber nur den Mitgliedern unserer Kirche zur Verfügung stehen, rufe ich diese über mein Mitgliedsaccount auf. Der dann angezeigte Stammbaum enthält aber auch die Hinweise zur Arbeit für die Verstorbenen und es war ersichtlich, dass schon viel für seine Ahnen im Tempel verrichtet wurde. Daraus ergaben sich für ihn natürlich Fragen. Als Ergebnis sprachen wir dann drei Stunden über den Tempel und warum wir diese Arbeit machen. Am Ende zeigte ich ihm, dass an seinem Stammbaum immer noch gearbeitet wird. Seine Reaktion war, dass er zu diesen Personen Kontakt haben möchte.

Auf meine Frage „Warum?“, da er doch mit seinen lebenden Verwandten hier in Deutschland das nicht möchte, gab er mir zur Antwort, dass er es gut finden würde, wenn diese Personen auch für seine anderen Vorfahren diese Arbeit tun, da er die stellvertretend geleistete Arbeit im Tempel gut und sinnvoll findet.

Er wird in wenigen Wochen seinen 90. Geburtstag feiern. Ich hoffe, er wird noch recht alt werden. Wir haben noch über vieles zu reden.

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