2020
Pioniere in Indien
Juli 2020


Pioniere in Indien

Seit ich Mitglieder aus der Anfangszeit der Kirche in Indien kennengelernt habe, sehe ich Pioniere mit ganz anderen Augen.

Suvarna and Sarala Katuka

Die Geschwister Suvarna und Sarala Katuka schlossen sich 1984 der Kirche an und erfüllten später beide eine Mission.

Einst sah man nach dem Westen hin voll Mut die Pioniere ziehn“, heißt es im Lied der Primarvereinigung „Das Lied von den Handkarren“1. Geschichten von den Mitgliedern aus der Anfangszeit der Kirche, die voller Glauben den Weg gebahnt haben, haben mich schon immer inspiriert. Als ich junge Mutter war, führten mir die Geschichten von Pionierfrauen meine Segnungen in den Letzten Tagen vor Augen. Ich konnte meine Kinder schließlich im Krankenhaus statt in einem Handkarren zur Welt bringen!

Die Definition eines Pioniers als ein Wegbereiter für andere, die nach ihm kommen,2 passt gut auf Mitglieder aus der Anfangszeit der Kirche, die mit Wagen und Handkarren unterwegs waren, um sich in Zion zu sammeln. Sie beschreibt aber ebenso Pioniere aus jüngerer Vergangenheit auf den Wegen, die sie in aller Welt voller Glauben bahnen.

Als meine fünf Kinder alle im Schulalter waren, begann ich, Religionsgeschichte zu studieren. Als Dissertationsthema entschied ich mich für die Geschichte der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in Indien. Meine Nachforschungen in Indien haben dazu geführt, dass ich Pioniere heute mit ganz anderen Augen sehe.

Stützpfeiler der Kirche

Jahre zuvor, nämlich 1986, war ich als junge Studentin mit den Young Ambassadors, einer Musikgruppe der BYU, nach Südasien gereist. Was ich auf dieser Reise erlebt habe, hat mich nachhaltig geprägt. Unter anderem konnten wir in Kalkutta (dem heutigen Kolkata) einen Tag mit Mutter Teresa verbringen. Ebenso spannend war es, Heilige der Letzten Tage kennenzulernen, die in Indien und Sri Lanka einst zum Aufbau der Kirche beigetragen hatten.

Einer dieser Pioniere war Raj Kumar, der zur Kirche fand, als er 1982 eine Vorstellung der Young Ambassadors besuchte. Als wir ihn trafen, war er gerade von seiner Mission in Fresno in Kalifornien zurückgekehrt. Er trug noch immer sein Missionars-Namensschild und erzählte in Delhi nach wie vor jedem vom Evangelium, der ihm nur zuhören wollte. Raj war zu jener Zeit eines von ungefähr 600 Mitgliedern in Indien, aber auf mich machte er den Eindruck eines einsamen Heiligen der Letzten Tage inmitten von ungeheuer vielen Menschen – hunderten Millionen.

Taunalyn and Raj

1986 lernte ich Raj Kumar nach seiner Mission kennen. Er trug noch immer sein Missionars-Namensschild und erzählte jedem vom Evangelium, der nur zuhören wollte.

Es war Raj Kumars Beispiel, das mich dazu inspirierte, selbst auf Mission zu gehen. Raj bahnte außerdem voller Glauben den Weg für einige der ersten aus Indien stammenden Missionare, die ihren Dienst in ihrem Heimatland erfüllten. Suvarna Katuka und die übrigen Missionare hatten in Chennai eine erste Einweisung in ihre Aufgaben erhalten. Ihr Missionspräsident, der in Singapur tätig war, beauftragte Raj, sie in Delhi eingehender zu schulen.

Suvarna Katuka erinnert sich gut daran, wie positiv sich Raj Kumars Beispiel und seine Schulungen auf ihre Missionsarbeit auswirkten. Durch beides konnten sie Ängste überwinden, weil ihr Glaube und ihr Mut zunahmen. Suvarna erklärt: „Das war es wohl, was meine Bekehrung wirklich in Gang brachte. Ich spürte den Heiligen Geist, und daraufhin entschloss ich mich, das Gottesreich hier in Indien mit aufzubauen.“3

Suvarna hatte sich in Rajahmundry der Kirche angeschlossen. Gemeinsam mit seinen fünf Brüdern und einer Schwester ließ er sich 1984 taufen. Gleich am Tag seiner Taufe wurde Suvarna zum Priester ordiniert und als Zweiter Ratgeber in der Zweigpräsidentschaft eingesetzt. Ihm wurde außerdem in einem Segen verheißen, dass er, sofern er dem Glauben treu bliebe, ein „Stützpfeiler der Kirche in Indien“ werden würde.

Auch Suvarnas Schwester Sarala erfüllte eine Mission. Bevor sie sie antrat, machte sie ihre Freundin Swarupa mit dem Evangelium bekannt. Als Suvarna von seiner Mission zurückgekehrt war, durfte er von der Missionsarbeit seiner Schwester profitieren: Swarupa und er heirateten. Jener kleine Zweig in Rajahmundry ist mittlerweile zu einem Pfahl angewachsen. Viele zurückgekehrte Missionare aus Rajahmundry sind überall in Indien zu Führern der Kirche geworden.

Ich lernte die Kinder von Suvarna und Swarupa Katuka kennen, als ich 2014 an der BYU unterrichtete. Josh Katuka war kurz zuvor von einer Mission in Bangalore (heute Bengaluru) zurückgekehrt, und seine Schwester Timnah hatte gerade ihre Berufung in dieselbe Mission erhalten. Als ich Timnah und Josh fragte, ob sie Raj Kumar kennen würden, antworteten sie: „Ja, er ist unser Onkel!“ Raj Kumar hatte nämlich Sarala geheiratet.

Ich bin den Katukas dankbar dafür, dass sie mich mit verschiedenen anderen Mitgliedern aus den Anfängen der Kirche in Indien bekanntgemacht haben, als sie mich bei meinen dortigen Reisen unterstützten. Viele von ihnen können ihren „Zug der Pioniere“ zum liebevollen Beispiel der Familie Katuka zurückverfolgen. Es gab einen Punkt, an dem sich Suvarna und Swarupa die Chance geboten hatte, nach Kanada auszuwandern. Aber sie nahmen diese Chance nicht wahr, weil sie das Gefühl hatten, der Herr brauche sie in Indien, um dort das Reich Gottes aufzubauen. Durch ihren treuen Dienst sind sie wahrhaftig zu Stützpfeilern der Kirche geworden.

The Ponds with Michael Anthoney

Delwin Pond (Mitte) machte Michael Anthoney 1981 mit der Kirche bekannt

Pioniere der Kirche in Bengaluru und Hyderabad

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Kirche in verschiedenen indischen Städten aufgerichtet, und zwar von Mitgliedern, die sich in diesem Land schon früh der Kirche angeschlossen hatten.4 Ihre Erlebnisse zeugen alle davon, wie der Herr Menschen zum wiederhergestellten Evangelium geführt hat.

Michael Anthoney, ein Pionier der Kirche im damaligen Bangalore, kam 1970 auf wundersame Weise mit einem Mitglied der Kirche in Kontakt. Als Delwin Pond, ein Bischof in Utah, damals wegen Rückenschmerzen einen Chiropraktiker aufsuchte, stieß er in einer Zeitschrift in dessen Praxis auf einen Artikel über eine gemeinnützige Organisation, die Schüler in Indien förderte. Er hatte die deutliche Eingebung, selbst einem dieser Schüler helfen zu sollen. Das führte zu einem anonymen Briefwechsel über 10 Jahre, der schließlich dazu führte, dass Pond mit Michael Bekanntschaft schloss und ihm das Evangelium näherbringen konnte. Michael ließ sich 1981 taufen und erfüllte 1982 eine Mission in Salt Lake City. Er kehrte vorzeitig zurück, weil seine Mutter ernsthaft erkrankt war. Daher erfüllte er die letzten drei Monate seiner Mission in Bangalore, wo er verschiedene Freunde und andere unterwies, die dann Mitglieder des ersten Zweigs in Bangalore wurden.5 Mittlerweile ist der Bau eines Tempels in Bengaluru in Planung.

Elsie und Edwin Dharmaraju traten in Samoa der Kirche bei und wurden von Präsident Spencer W. Kimball berufen, in ihren Heimatort Hyderabad zurückzukehren, als Missionare für ihre Familie. 1978 ließen sich 22 Familienmitglieder von Elsie und Edwin taufen – der Grundstein für die spätere Gründung des ersten Pfahls in Hyderabad im Jahr 2012.6

Auch die heutigen Mitglieder des Pfahls Hyderabad betrachten sich als Pioniere der Letzten Tage. Bei der Feier des Pfahls anlässlich des Pioniertags wurde nicht nur der Zug der Pioniere nach Utah gewürdigt, sondern man gedachte auch der Pioniere aus jüngerer Vergangenheit und ihrem Weg zur Kirche. Bei den Feierlichkeiten gab es Squaredance, Wanderungen zum Gedenken der Handkarrenpioniere und sogar Fahrten im Handkarren.

members pulling a handcart

Mitglieder des Pfahls Hyderabad begehen den Pioniertag mit Liedern, Tänzen und Fahrten im Handkarren

Bei den Feiern zum Pioniertag 2014 reihte man Eisblöcke hinter der Kirche auf, und die Mitglieder konnten barfuß über das Eis gehen, um nachzuempfinden, wie die Pioniere aus der Anfangszeit vereiste Flüsse überquert hatten. Zum Schluss der Feier wurden die Mitglieder des Pfahls Hyderabad aufgefordert, an die Geisteshaltung der einstigen Pioniere zu denken und daran, „dass sie alle auch selbst Pioniere für ihre Familien sind“7.

Außerdem lauschten sie John Santosh Murala, dem damaligen Missionspräsidenten, der davon berichtete, wie seine Tante Elsie und sein Onkel Edwin Dharmaraju nach Hyderabad gekommen waren, um ihrer Familie vom Evangelium zu erzählen. John war der jüngste der 22 Pioniere, die sich 1978 taufen ließen.

Als ich 2014 in Hyderabad war, erzählte mir John Murala nicht nur seine Geschichte, sondern auch viel von der Geschichte der Kirche, die er gewissenhaft zusammenträgt. Außerdem stellte er mir seine Frau Annapurna vor. Sie erzählte mir eine besonders beeindruckende Geschichte zum Thema Pioniere der Letzten Tage.

Annapurna war erst zwölf Jahre alt, als zwei Missionare in Hyderabad im Jahr 1991 ihren Bruder Murthy im Evangelium unterwiesen. Doch Annapurnas Eltern erlaubten ihr nicht, den Missionaren ebenfalls zuzuhören oder in die Kirche zu gehen. Allerdings gab Murthy ihr ein Buch Mormon und versorgte sie fortwährend mit weiterer Literatur der Kirche. Sieben Jahre lang vertiefte sich Annapurna auf sich selbst gestellt ins Evangelium und erlangte ein starkes Zeugnis von dessen Wahrheit. Sie träumte davon, sich taufen zu lassen, eine Mission zu erfüllen und im Tempel zu heiraten, aber ihre Eltern erlaubten ihr dies nach wie vor nicht.

Eines Tages wurde Annapurna mit John Murala bekanntgemacht und stand daraufhin vor einer schweren, schicksalhaften Entscheidung. John war seit seiner Taufe im Jahr 1978 weiterhin stark im Zeugnis und suchte nun nach einer Frau in der Kirche, die er heiraten könnte. Nach einer sehr kurzen Begegnung, bei der Annapurna ihm von ihrem Zeugnis vom Evangelium erzählt hatte, war John überzeugt, in ihr seine künftige Ehefrau getroffen zu haben. Annapurna war klar: Wenn sie John heiraten würde, könnte sie getauft und eines Tages im Tempel gesiegelt werden. Allerdings waren etwa zur selben Zeit Annapurnas Eltern dabei, eine Eheschließung für sie zu arrangieren.

Annapurna entschied sich schweren Herzens dafür, von zu Hause fortzugehen und John zu heiraten. Sie spürte, dass dies für sie der einzige Weg wäre, sich der Kirche anschließen zu können. Ihre Eltern zu verlassen, habe ihr „entsetzlich weh getan“, berichtet sie. Doch auch heute noch ist sie sich sicher: „Für die Erlösung aller, … für meine Nachkommen, für meine Eltern und deren Vorfahren, damit ich für sie die Arbeit im Tempel verrichten könnte, musste ich diesen Schritt einfach gehen.“8

Artist rendering of the Bengaluru India Temple

Das Pfahlhaus des Pfahls Hyderabad, der 2012 von Präsident Dallin H. Oaks gegründet wurde

John und Annapurna sind dankbar, dass Annapurnas Eltern ihre Heirat mittlerweile akzeptiert haben. Viele Mitglieder in Indien haben Opfer gebracht, um sich der Kirche anschließen zu können – so wie die einstigen Pioniere. Dennoch sind diese Heiligen gläubig vorwärtsgestrebt und tun dies nach wie vor, denn sie sehen sich selbst als Pioniere und als Verbindungsglieder für ihre Familien auf beiden Seiten des Schleiers. Ich schätze die vielen Geschichten des Glaubens, der Opfer und des Muts, die ich von Mitgliedern gehört habe, die für das Evangelium neue Wege „ins Grenzland“ ebnen. Wenn ich an Pioniere denke, sehe ich immer noch diejenigen vor mir, die Handkarren hinter sich herzogen und vereiste Flüsse überquerten. Aber mittlerweile habe ich auch die Pioniere aus jüngerer Vergangenheit in Indien und überall in der Welt vor Augen.

Im Endeffekt wurden und werden alle Wege „in neues Gebiet“ von einzelnen Menschen gebahnt, die in die Fußstapfen unseres Erretters Jesus Christus treten. Im Neuen Testament wird Christus als „Wegbereiter [unserer] Rettung“ (Hebräer 2:10, Zürcher Bibel) bezeichnet. Jesus Christus hat uns den Weg zurück zu unserem himmlischen Zuhause gebahnt. Wahre Pioniere folgen Christus und weisen uns den Weg zu ihm, der dieses wunderbare Werk und Wunder (siehe 2 Nephi 27:26) in den Letzten Tagen leitet.

Anmerkungen

  1. „Das Lied von den Handkarren“, Liederbuch für Kinder, Seite 136

  2. Siehe https://www.duden.de/rechtschreibung/Pionier, Punkt 2.; siehe auch Oxford English Dictionary, 1971, Stichwort „Pioneer“; Thomas S. Monson, „Geistige Pioniere gehen uns voran“, Liahona, August 2006

  3. Suvarna Katuka, mündlicher Geschichtsbericht, Interview von Taunalyn Rutherford, Mai 2014, Delhi, Indien

  4. Die Geschichten einiger Pioniere der Kirche in Indien sind im Abschnitt über die Geschichte der Kirche auf ChurchofJesuschrist.org unter dem Stichwort „Pioniere aus aller Welt“zu finden, weitere in der englischen Fassung unter „Global Histories“.

  5. Siehe „A History of the Church in India“, zusammengestellt von Jerry C. Garlock, unveröffentlicht, 1995, Seite 49f.

  6. Siehe „Lillian Ashby und Familie Dharmaraju: Wie eine Frau half, die Kirche in Indien zu pflanzen“, history.ChurchofJesusChrist.org

  7. Siehe „Hyderabad Stake Pioneer Day Activity“, in.churchofjesuschrist.org/hyderabad-stake-pioneer-day-activity (nur auf Englisch)

  8. Annapurna Guru Murala, mündlicher Geschichtsbericht, Interview von Taunalyn Rutherford, Hyderabad, Indien, 7. Mai 2014; siehe auch Rochelle Welty und Jan Pinborough, „Gott hatte eigene Pläne für mich“, Liahona, April 2003