2020
Durchbohrt von tiefen Wunden: Psychische Gewalt in der Familie
Oktober 2020


Durchbohrt von tiefen Wunden: Psychische Gewalt in der Familie

In jeder Beziehung können sich krankhafte Verhaltensmuster entwickeln. Wenn man diese erkennt, lässt sich psychische Gewalt aufdecken oder gar verhindern.

upset woman and husband

Szenen auf den Fotos zur Veranschaulichung nachgestellt

Vor kurzem rief mich ein verzweifelter Vater an. Seine Tochter Jenna (alle Namen geändert) studierte auswärts und war eine Beziehung eingegangen, die rasch ernsthaft geworden war. Ihr Freund Jake drängte auf eine Heirat und schränkte Jennas Kontakt zu ihren Eltern ein. Jenna entschuldigte sich bei ihnen und erklärte, es läge an Jakes großer Liebe und seinem Wunsch, mit ihr gemeinsam Zeit zu verbringen.

Als Jennas Eltern entdeckten, dass Jake eine Exfrau und ein Kind hatte, von denen er Jenna nichts erzählt hatte, begannen sie, sich Sorgen zu machen. Sie riefen die Exfrau an, die erzählte, dass Jake jähzornig und eifersüchtig sei. Als Jake dies herausfand, wurde er wütend. Er behauptete, Jennas Eltern würden sie kontrollieren, und führte als weiteren Beweis den Umstand an, dass sie einen sarkastischen Witz kritisiert hatten, den er über Jennas Intelligenz gemacht hatte. Absurderweise bestand Jake darauf, dass Jenna den Kontakt zu ihren Eltern abbrach, damit sie Entscheidungen selbständig treffen könne! Jennas Eltern verzweifelten, als ihre Anrufe und Nachrichten nicht mehr beantwortet wurden.

Jeder wünscht sich eine glückliche Familie. Doch selbst bei Menschen, die sich bemühen, nach dem Evangelium zu leben, können Beziehungen ins Ungute abgleiten. So manche Kränkung entsteht aufgrund von Missverständnissen und Reibereien, wie sie eben in einer Familie vorkommen können. In einer intakten Familie entschuldigt man sich für sein unangemessenes Verhalten und versöhnt sich wieder. In einer ungesunden Beziehung hingegen bilden Schroffheit und schlechte Behandlung ein wiederkehrendes Muster und münden in psychischer Gewalt.

Häusliche Gewalt und das Evangelium

„Ihr habt euren zarten Frauen das Herz gebrochen und das Vertrauen eurer Kinder verloren.“ (Jakob 2:35)

Zur Misshandlung zählen Übergriffe, die verletzen oder ein Machtverhältnis herstellen sollen. Darunter fällt eine Reihe von Verhaltensweisen, unter anderem Vernachlässigung, Manipulation, ständiges Kritisieren, körperliche Gewalt und sexuelle Nötigung.1 Leider sind missbräuchliche Verhaltensweisen weit verbreitet. Schätzungen von Wissenschaftlern zufolge ist etwa ein Viertel aller Kinder weltweit körperlicher, sexueller oder psychischer Gewalt ausgesetzt.2 Auch unter den Erwachsenen ist der Anteil an Opfern hoch: Etwa eine von vier Frauen und einer von zehn Männern erfährt vom Ehepartner körperliche Gewalt.

In jeder Beziehung kann es zu Misshandlungen kommen und sowohl Männer als auch Frauen können Täter sein. Bei Männern kommt es jedoch häufiger vor, dass sie Macht ausüben und schwere körperliche und sexuelle Gewalttaten verüben. Bei Frauen kommt es häufiger vor, dass sie von ihrem Ehepartner terrorisiert, unterdrückt oder schwer verletzt werden.3

Jede Art derartiger Übergriffe schadet sowohl der Seele des Täters als auch der des Opfers und steht im Widerspruch zu den Lehren des Erretters. Propheten unserer Zeit haben gesagt, dass jemand, „der seinen Ehepartner oder seine Nachkommen misshandelt oder missbraucht …, eines Tages vor Gott Rechenschaft ablegen muss“4. Die Täter ignorieren oft die Grundsätze des Evangeliums oder legen sie zu ihren Gunsten aus. Ich habe zum Beispiel einmal ein Paar beraten, bei dem der Ehemann immer wieder platonische Seitensprünge machte und die Ersparnisse der Familie beim Glücksspiel verspielte, doch anstatt sich zu entschuldigen, setzte er seine Frau unter Druck, ihm zu vergeben, und behauptete fest, wenn sie ihm nicht vergäbe, läge auf ihr die „größere Sünde“. Er erkannte ihren Schmerz nicht an und behauptete, er wäre mit Gott im Reinen, sonst wäre er ja kein Tempelarbeiter. Als sich seine Frau an Führer der Kirche wandte, spielte er seine Affären herunter, stellte ihre Besorgnis als übertrieben dar und warf ihr vor, sie leide unter Depressionen. Der Ehemann beachtete die „Prinzipien … Achtung, Liebe [und] Mitgefühl“5 nicht und behandelte seine Frau schlecht. Ihr Bemühen, nach den Grundsätzen des Evangeliums zu leben, konnte das Problem, das er geschaffen hatte, nicht beheben.Jeder kann sich ungesunde Verhaltensweisen aneignen. Bestimmte Merkmale lassen sich bei jeder Form von Gewaltanwendung feststellen. Je gravierender ihr Ausmaß ist und je häufiger sie auftreten, desto weniger gesund ist die Beziehung. Ich stelle hier fünf typische Verhaltensmuster bei hauptsächlich psychischer Gewalt vor, die krankhaftes Verhalten bei sich selbst und anderen erkennen lassen.

sad little girl

1. Grausamkeit

„Mit ihrer Zunge betrügen sie; Schlangengift ist auf ihren Lippen. Ihr Mund ist voll Fluch und Gehässigkeit.“ (Römer 3:13,14)

Ein Mann kam gegen den Willen seiner Frau zu mir zur Therapie. Sie zog ihn damit auf, dass er „Hilfe brauche“. In der Kirche gab sie sich freundlich und gläubig, doch zuhause zischten ihre herzlosen, herablassenden Kommentare wie Peitschenhiebe auf ihn herab. Sie mäkelte über sein Gehalt und erklärte, sein Beruf als Lehrer wäre „etwas für Mädchen“. Ihrem Sohn sagte sie: „Ich hoffe, du wirst einmal nicht so eine Niete wie dein Vater“ und telefonierte täglich mit ihrer Mutter, wo sie zusammen über ihre Ehemänner schimpften. Menschen, die an allem etwas auszusetzen haben, fühlen sich gerechtfertigt, wenn sie andere verletzen, und lassen sie gern leiden (siehe Lehre und Bündnisse 121:13). Wenn sie andere in der Familie herabsetzen, Abscheu vor ihnen zeigen oder sie beschimpfen, verstoßen sie gegen das Gebot Jesu, nicht zu richten und nicht zu verurteilen (siehe Lukas 6:37).

2. Irreführung

„Du bist von einem lügenhaften Geist besessen, und du hast den Geist Gottes weggestoßen.“ (Alma 30:42)

Bei psychischer Gewalt führt der Täter das Opfer häufig in die Irre, indem er seine Taten herunterspielt, anderen die Schuld gibt oder dem Opfer die Worte im Mund verdreht. Das verwirrt das Opfer, wie es eine meiner Studienteilnehmerinnen beschrieben hat: „[Mein Ehemann hatte immer wieder] Wutanfälle, fing dann an, sich zu entschuldigen, und meinte schließlich am Ende: ‚Eigentlich ist es ja deine Schuld.‘ … Und das ging immer so weiter, bis ich anfing, es zu glauben.“6 Diese Weigerung, die Sichtweise des anderen anzuerkennen, wird Gaslighting genannt. Es ist eine Art emotionaler Manipulation, durch die das Opfer in die Irre geführt und hinsichtlich der eigenen Erinnerungen und der eigenen Meinung verunsichert wird. Wie bei anderen Formen der Irreführung werden auch beim Gaslighting Worte ins Gegenteil verkehrt und es entsteht ein falscher Eindruck.

Wer psychische Gewalt anwendet, weigert sich vehement, zuzugeben, dass er andere verletzt, und behauptet sogar oft, er selbst sei das Opfer. Als Jenna ihr Unbehagen ausdrückte, weil Jake ihre Eltern kritisierte, wurde er wütend und behauptete, sie „beleidige“ ihn. Jake gehörte zu jenen, „die Übertretung schreien … und [selbst] Kinder des Ungehorsams sind“ (Lehre und Bündnisse 121:17). Er erzählte nicht nur beharrlich seine irrige Version, sondern nahm es auch übel, wenn er mit den wahren Tatsachen konfrontiert wurde.7

man with head in hands

3. Ausreden

„[Gib] deine Fehler und das Unrecht, das du getan hast, zu.“ (Alma 39:13)

Wer demütig ist, empfindet Reue, wenn er jemand anderen gekränkt hat. Er kehrt um und arbeitet an sich. Wer gewalttätig ist, schiebt das eigene Gewissen durch Ausreden beiseite. Einer meiner Studienteilnehmer erzählte: „Ich fühlte mich schrecklich, wenn ich sie körperlich misshandelt hatte. Doch dann dachte ich, es wäre vielleicht nicht passiert, wenn sie einfach nur den Mund gehalten hätte.“ Sein „Trauern diente nicht der Umkehr“ (Mormon 2:13), sondern wurde durch Verbitterung, Zorn und Beschuldigungen beiseitegeschoben.

In einer Therapiesitzung sagte ich einer Frau einmal, dass sie bis dahin in meiner Gegenwart nie gottgewollte Traurigkeit dafür gezeigt habe, dass sie ihren Ehemann jahrelang kritisiert hatte. Sie reagierte darauf nicht mit Reue, sondern mit Schmollen: „Na toll, noch etwas, was ich nicht mache!“ Wer Gewalt anwendet, lehnt oft jede Verantwortung dafür ab, reagiert empfindlich und geht in die Defensive. Er reagiert schon bei Kleinigkeiten beleidigt.

4. Stolz

„In Demut schätze einer den andern höher ein als sich selbst.“ (Philipper 2:3)

Anspruchsdenken und Egoismus sind Formen von Stolz. Ein Mann fuhr Frau und Kinder jedes Mal wütend an, wenn er meinte, sie würden ihn „nicht respektieren“. Wenn sie anderer Meinung waren als er, warf er ihnen vor, sie würden „seine Autorität untergraben“ oder wären „nicht gehorsam“. Wer stolz ist, sieht sich in einem Wettbewerb und will gewinnen. Bei Stolz geht es um Macht. Im Gegensatz dazu geht es in einer intakten Familie um Kooperation. Jeder wird gleich und fair behandelt und „ein jeder [geht] gerecht mit dem anderen um“ (4 Nephi 1:2). Die Ehepartner sind gleichwertig8 und treffen Entscheidungen gemeinsam. Die Meinung eines jeden wird geschätzt.

5. Kontrolle

„Wenn wir … Gewalt oder Herrschaft oder Nötigung auf die Seele der Menschenkinder ausüben[,] ziehen sich die Himmel zurück.“ (Lehre und Bündnisse 121:37)

Obwohl wir die Entscheidungsfreiheit schätzen, geben Familienmitglieder einander erstaunlich oft vor, wie der andere zu denken, fühlen und handeln hat. Manche üben sogar Kontrolle aus, indem sie einschüchtern, Schamgefühle hervorrufen, ihre Liebe entziehen oder drohen. Ein Ehemann war in seinen Erwartungen sehr unnachgiebig. Seine Frau musste jeden Tag das Frühstück zu einer bestimmten Zeit fertig haben, er bestand auf bestimmten Intimitäten und sie musste ihm zuhören, wenn er über seine „Anliegen“ sprach, wozu in der Regel gehörte, was sie besser machen sollte. Er kontrollierte, wie viel Geld sie ausgab, und er wurde wütend, wenn sie auf seine Textnachrichten nicht gleich reagierte.

Eine Mutter äußerte sich ihrer Tochter im Teenageralter gegenüber jedes Mal enttäuscht, wenn diese bedrückt war oder den Erwartungen der Mutter nicht entsprach. Wurden ihre Erwartungen nicht erfüllt oder brachte ihr Mann diesbezüglich seine Besorgnis zum Ausdruck, strafte sie alle beide mit eisigem Schweigen.

holding hands

Hoffnung und Heilung

„Ich habe dein Gebet gehört und deine Tränen gesehen. Siehe, ich heile dich.“ (2 Könige 20:5)

Psychische Gewalt, Misshandlung und Missbrauch sind etwas Herzzerreißendes. Dennoch ist eine Veränderung immer möglich. Als Opfer kann man sich geistige und professionelle Hilfe suchen und die Macht des Sühnopfers für sich in Anspruch nehmen, um Heilung zu finden. Hilfe findet man unter https://www.churchofjesuschrist.org/study/life-help-and-self-reliance/abuse?lang=deu.

Wer jemanden misshandelt oder missbraucht oder psychische Gewalt anwendet, muss umkehren und sich Hilfe suchen. Dazu ist es notwendig, „in die Tiefen der Demut hinab[zu]steigen“ (3 Nephi 12:2) und die volle Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Zu einer Veränderung gehört mehr als kurzfristige Versprechungen und oberflächliche Anstrengungen. Den Schmerz aufrichtiger Umkehr spürt man bis tief in die Seele. Einige wollen dies nicht auf sich nehmen, sodass die Opfer vor der schwierigen Entscheidung stehen, wie sie sich am besten schützen können.9

Unser himmlischer Vater ist ebenso besorgt um uns wie der verzweifelte Vater, der mich wegen seiner Tochter angerufen hat. Gottes Liebe ist „so weit wie die Ewigkeit“ (Mose 7:41) und es schmerzt ihn sehr, wenn sich seine Kinder gegenseitig verletzen. In einem innigen Gespräch mit Henoch weinte Gott. „Sieh diese deine Brüder; sie sind das Werk meiner eigenen Hände, und [ich habe] das Gebot gegeben, dass sie einander lieben sollen …; aber siehe, sie sind lieblos, und sie hassen ihr eigenes Blut.“ (Mose 7:32,33.) Wenn Körper und Seele verletzt werden, fließen im Himmel und auf Erden Tränen. Doch mit Demut, mit der Macht Gottes und bei Bedarf mit professioneller Hilfe ist es möglich, schädliche Verhaltensweisen einzustellen und ein Zuhause zu gestalten, wo sich jeder gewürdigt, sicher und geliebt fühlt.

Anmerkungen

  1. Mehr Informationen zu körperlicher Gewalt finden Sie unter https://www.churchofjesuschrist.org/study/life-help-and-self-reliance/abuse?lang=deu; mehr Informationen zu Missbrauch und sexueller Belästigung finden Sie in Benjamin M. Ogles, „Agency, Accountability, and the Atonement of Jesus Christ: Application to Sexual Assault“, Andacht an der Brigham-Young-Universität, 30. Januar 2018, speeches.byu.edu; Chieko N. Okazaki, „Healing from Sexual Abuse“, Konferenz der Brigham-Young-Universität, 23. Oktober 2002

  2. Siehe Maryam Ajilian Abbasi, Masumeh Saeidi, Gholamreza Khademi, Bibi Leila Hoseini, Zahra Emami Moghadam, „Child Maltreatment in the World: A Review Article“, International Journal of Pediatrics, 3. Jahrgang, Nr. 1, 2014, Seite 353–365

  3. Siehe Hamby, S., „Current controversies: Are women really as violent as men? The ‚gender symmetry‘ controversy“, in: Claire M. Renzetti, Jeffrey L. Edleson und Raquel Kennedy Bergen, Sourcebook on Violence Against Women, 3. Auflage, 2018, Seite 78–82

  4. „Die Familie – eine Proklamation an die Welt“, Liahona, Mai 2017, Umschlaginnenseite hinten; siehe auch https://www.churchofjesuschrist.org/study/life-help-and-self-reliance/abuse?lang=deu

  5. „Die Familie – eine Proklamation an die Welt“

  6. Jason B. Whiting, Megan Oka und Stephen T. Fife, „Appraisal distortions and intimate partner violence: Gender, power, and interaction“, Journal of Marital and Family Therapy, 2012, Beilage: 1:113–149

  7. Weitere Beispiele aus den heiligen Schriften von Menschen, die zornig geworden sind, als sie die Wahrheit gehört haben, finden sich in Johannes 3:19-21; Apostelgeschichte 7:54; 2 Nephi 1:25,26 und 2 Nephi 4:13

  8. Siehe „Die Familie – eine Proklamation an die Welt“; zur Gleichwertigkeit der Partner und zu Punkten, die man in einer gesiegelten Ehe bedenken sollte, siehe auch H. Burke Peterson, „Ungerechte Herrschaft in der Ehe“, Der Stern, Juni 1990, Seite 16–23

  9. Wer misshandelt oder missbraucht wird oder mit psychischer Gewalt konfrontiert ist, fragt sich oft, wie er sich selbst oder andere schützen und dem Täter Grenzen setzen oder den Kontakt mit ihm vermeiden kann. Präsident James E. Faust (1920–2007) hat über die schwierige Lage gesprochen, wenn jemand länger in einer „offensichtlich hoffnungslose[n] Beziehung“ gefangen ist, „die die Menschenwürde eines Partners zerstört“ („So bereichern Sie Ihre Ehe“, Liahona, April 2007, Seite 3). Weitere Informationen und mögliche Maßnahmen, die man ergreifen kann, sind zu finden unter: https://www.churchofjesuschrist.org/study/manual/abuse-help-for-victims?lang=deu.