Liahona
Eine „musikalische Mission“
Oktober 2024


Stimmen von Heiligen der Letzten Tage

Eine „musikalische Mission“

Wie es ist, als einer der ersten Europäer im Tabernakelchor zu singen

„Möchtest du bei der nächsten Generalkonferenz im Tabernakelchor singen?“

„Was? Wie soll das gehen?“

So begann ein Telefonat Ende September 2023. Ich war im Auto, als ein befreundeter Gebietssiebziger mich anrief. Der Tabernakelchor erweiterte das Pilotprogramm der „Global Participants“ nach Europa, und die Gebietspräsidentschaft sollte Kandidaten vorschlagen. In deren Auftrag fragte er, ob ich Interesse hätte, wobei noch ein Aufnahmeverfahren auf mich warten würde. Obwohl ich Zweifel hatte, gut genug zu sein, stimmte ich zu. Bestimmt würde man mich ablehnen, aber es wäre eine lustige Erfahrung, dachte ich.

In der ersten Oktoberhälfte 2023 fand ein erstes Online-Interview statt. Darin wurden meine Englischkenntnisse verifiziert und die Rahmenbedingungen und Verpflichtungen geklärt. Ich sollte mich anschließend beim Singen verschiedener Übungen aufnehmen und es als Audiodatei einsenden. Ich schickte das, was ich für meine beste Aufnahme hielt, ein und harrte der Dinge.

Überraschenderweise erhielt ich zwei Wochen später eine E-Mail: Ich hatte es in die nächste Runde geschafft. Ich sollte online Bruder Ryan Murphy, dem stellvertretenden musikalischen Leiter des Chores, und anderen Jurymitgliedern vorsingen. Nervös sang ich mein Lieblingslied und absolvierte weitere Übungen (Tonleiter; etwas vom Blatt singen, was ich noch nie zuvor gesehen hatte; mit verschiedenen Ausdrucksformen singen usw.). Man werde sich bei mir melden, hieß es. Anfang Dezember erhielt ich dann die Nachricht: „Gratulation! Du wurdest ausgewählt, bei der Frühjahrs-Generalkonferenz im April 2024 mit dem Tabernakelchor zu singen.“

Eine Reihe administrativer und musikalischer Vorbereitungen begann. In den Monaten bis zur Generalkonferenz hatten wir z.B. Online-Meetings, bei denen ich die anderen elf Teilnehmer aus verschiedenen Ländern kennenlernte. In meiner Gruppe waren Mitglieder aus Argentinien, Chile, Dänemark, England, Frankreich, Ghana, Guatemala, Schweden, Südkorea und eben ich aus Österreich.

Die Zeit in Utah Ende März, Anfang April 2024 war so intensiv wie eine Vollzeitmission, denn das war sie (für mich). Der Chor ist als Mission organisiert, mit dem Auftrag, Herzen zu erreichen, indem das Evangelium durch Musik verbreitet wird. Ich wurde – wie alle anderen Chormitglieder – als „Missionar der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage mit dem Auftrag, im Tabernakelchor zu dienen“, eingesetzt. Die Macht dieser Einsetzung war für mich auch zu spüren. Als ich das erste Mal vor Ort dem Programm „Music & The Spoken Word“ beiwohnen durfte, blieb der Eindruck zurück, dass ich nicht ein Konzert gehört, sondern einem Gottesdienst beigewohnt hatte, der durch Musik gestaltet wurde. Als nach Ende der Übertragung der Chor, das Orchester und die Dirigenten zum Publikum schauend sangen „God be with you till we meet again“, da überkam mich das Gefühl, dass ich nicht einem Lied zuhörte, sondern einen Segen empfing. Ich kann es mir nicht anders erklären, als dass diese Musiker kraft ihrer Einsetzung als Missionare tatsächlich das Wort Gottes durch Musik predigten und der Geist ihr Predigen bestätigte.

Damit das funktioniert, muss aber die entsprechende Vorbereitung und Organisation gewährleistet sein. Wir erhielten täglich Gesangsunterricht und -coaching, damit wir lernten, korrekt auszusprechen und so zu singen, dass sich unsere Stimme im Chor einordnet und zum Klang beiträgt, ohne herauszustechen. Die Disziplin der Chormitglieder, gerade in dieser Hinsicht, beeindruckte mich. Sie sind alle ausgezeichnete Sänger und könnten als Solisten agieren, jedoch drängt sich niemand in den Vordergrund, sondern alle erfüllen das, wozu sie berufen wurden, ordnen sich in den Chor ein und schaffen es so, dass die 360 Stimmen klingen können, als wären sie eine einzige. „Seid eins; und wenn ihr nicht eins seid, dann seid ihr nicht mein“ (LuB 38:27) und „lasst nun einen jeden seine Pflicht lernen und mit allem Eifer das Amt ausüben lernen, zu dem er bestimmt worden ist“ (LuB 107:99).

In der Art und Weise, wie die Mitglieder des Tabernakelchors dienen, fand ich

vorbildhafte Beispiele dafür, wie diese Prinzipien aus den heiligen Schrift umgesetzt werden können. Niemand möchte dort der Star sein, sondern alle haben „das Auge nur auf die Herrlichkeit Gottes gerichtet“ (LuB 4:5) und darauf, als musikalische Missionare mitzuhelfen, das Reich Gottes aufzubauen.

Auch wenn das Singen und die Vorbereitung darauf im Mittelpunkt standen, durften wir auch andere Dienste verrichten. Ein Highlight war für mich die Arbeit am neuen weltweiten Gesangbuch mit der Musikabteilung der Kirche. Wir durften Lieder singen, die noch in der Begutachtung zur Aufnahme in das neue Gesangbuch sind, darunter einige, die ganz anders klingen als das, was wir bisher gewohnt sind – Lieder mit Melodien und Rhythmen aus anderen Kulturkreisen. Die Frage war immer: „Was denkst du, wie die Heiligen in deinem Land auf so ein Lied reagieren werden?“, und „Würde dieses Lied den Geist einladen?“. So führten wir sehr interessante Diskussionen darüber, wie die Musik in einer globalen Kirche in Zukunft sein sollte. Zu keinem Zeitpunkt beobachtete ich irgendeine andere Motivation als das zu tun, was die Kinder des Vaters im Himmel segnen wird, indem es – in diesem Fall – den Geist durch Musik einlädt. Auf das fertige Gesangbuch bin ich schon gespannt, und auch, welches der Lieder ich wiedererkennen werde.

Ein weiterer Höhepunkt war der Dienst in der Missionarsschule in Provo, als ich einen Vormittag mit Elders und Sisters verbringen durfte, die gerade Deutsch lernen, um das Evangelium in einer der Missionen im deutschsprachigen Raum zu predigen. Sie konnten ihr Deutsch an mir üben; dabei besprachen sie mit mir genau die Schriftstellen, die Antwort auf meine Sorgen an diesem Tag gaben. Ich erkannte: Der Herr spricht durch diese Missionare, die seine jungen Diener sind, gerade zu mir.

Jeden Tag erlebte ich während dieser Zeit die Hand des Herrn in meinem Leben. Die Krönung war jedoch natürlich das Singen bei der Generalkonferenz selbst. Ich kann ehrlich sagen, dass jedes einzelne Lied besser als bei jeder Probe zuvor geklungen hat, und bei dem Lied, das wir nach der Ansprache des Propheten sangen, da wurde der Geist des Herrn unter allen Sängern auf eine Weise spürbar, die man nicht beschreiben kann, man muss es selbst erleben. Ich musste mehrmals das Singen aussetzen, weil ich so ergriffen war, und ich hörte auch um mich herum Stimmen aussetzen, weil sie von ihren Gefühlen überwältigt wurden. Aber der Chor klang dennoch majestätisch. Einer der Brüder, der vor Ort schon länger beim Chor singt, erklärte mir: „Bei der Generalkonferenz gibt es immer mindestens ein Lied, wo uns klar wird, dass die Engel des Himmels mitgesungen haben. Wir spüren das.“

Manchmal denke ich, diese zweiwöchige Mission in Utah war geistig so erfüllend wie meine zweijährige Mission in Spanien vor über 30 Jahren. Ich kehrte zurück mit einer vertieften Überzeugung, dass die Hand des Herrn in diesem seinem Werk ist! Und als schönen Nebeneffekt gewann ich Freunde aus aller Welt.

Es gibt aktuell ca. 50 ausländischen Teilnehmer des Tabernakelchors aus 27 verschiedenen Ländern. Mir ist es eine Ehre und ein Segen, einer von ihnen zu sein. Ich hoffe, ich kann das, was ich erlebte und lernte, in unseren Gemeinde- und Pfahlchor mitnehmen, damit wir „den Herrn mit Gesang, mit Musik … und mit einem Gebet des Lobes und der Danksagung“ gemeinsam preisen können (LuB 136:28).

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