2002
Sind wir nicht alle Mütter?
Januar 2002


Sind wir nicht alle Mütter?

„Mutterschaft ist mehr, als Kinder zu bekommen. … Sie ist der Inbegriff dessen, wer wir als Frau sind.“

Diesen Sommer geriet ich mit vier Nichten im Teenageralter an einem Sonntagabend in eine unangenehme Situation, als wir uns in einer Stadt, die wir besuchten, vom Hotel aus auf den Weg zum nahen Gemeindehaus machten, wo ich sprechen sollte. Ich war den Weg schon oft gegangen, aber an jenem Abend waren wir plötzlich von einer großen Menge Betrunkener umringt, die sich einen Umzug angesehen hatten. Das war kein Ort für vier junge Mädchen oder ihre Tante, möchte ich hinzufügen. Da aber die Straßen wegen des Umzugs gesperrt waren, blieb uns nichts anderes übrig, als zu Fuß weiterzugehen. Durch den Lärm rief ich den Mädchen zu: „Bleibt dicht bei mir.“ Während wir uns den Weg durch das Gedränge bahnten, dachte ich an nichts anderes als an die Sicherheit meiner Nichten.

Glücklicherweise kamen wir schließlich im Gemeindehaus an. Aber eine zermürbende Stunde lang verstand ich besser, wie sich eine Mutter fühlen muss, die ihre Sicherheit aufs Spiel setzt, um ihr Kind zu beschützen. Meine Geschwister hatten mir ihre Töchter anvertraut, die ich liebe, und ich hätte alles getan, um sie so zu führen, dass sie sicher waren. Ebenso hat der himmlische Vater uns Frauen seine Kinder anvertraut, und er hat uns gebeten, sie zu lieben und mitzuhelfen, sie an den Gefahren der Sterblichkeit vorbei nach Hause zurück zu führen.

Lieben und führen. Diese Wörter beschreiben nicht nur das allumfassende Werk Gottes des Vaters und des Sohnes, sondern auch das Wesen unserer Arbeit, denn unser Werk besteht darin, dem Herrn bei seinem Werk zu helfen. Wie also können wir als Frauen Gottes in dieser Zeit dem Herrn bei seinem Werk am besten helfen?

Die Propheten haben diese Frage schon wiederholt beantwortet, wie auch die Erste Präsidentschaft vor sechzig Jahren, als sie die Mutterschaft als den höchsten und heiligsten Dienst der Menschheit bezeichnete.1

Haben Sie sich je gefragt, warum die Propheten die Lehre von der Mutterschaft – und es ist eine Lehre – immer wieder lehren? Ich schon. Ich habe viel und gründlich über das Werk einer Frau Gottes nachgedacht. Und ich habe darum gerungen zu verstehen, was die Lehre von der Mutterschaft für jede von uns bedeutet. Diese Frage hat mich auf die Knie gebracht und sie hat mich zu den heiligen Schriften und in den Tempel geführt – wo eine erhebende Lehre im Hinblick auf unsere so entscheidende Rolle als Frau gelehrt wird. Es ist eine Lehre, über die wir uns im Klaren sein müssen, wenn wir im Hinblick auf die Fragen, die sich unserem Geschlecht immer wieder stellen, „standhaft und unerschütterlich“ sein wollen.2 Denn der Satan hat der Mutterschaft den Krieg erklärt. Er weiß, dass diejenigen, die die Wiege schaukeln, sein irdisches Reich erschüttern können. Und er weiß, dass das Reich Gottes ohne rechtschaffene Mütter, die die nächste Generation lieben und führen, scheitern wird.

Wenn wir die große Bedeutung der Mutterschaft begreifen, wird uns klar, warum die Propheten die heiligste Aufgabe der Frau so beschützen. Während wir dazu neigen, unter Mutterschaft nur zu verstehen, dass wir Kinder bekommen, hat das Wort Mutter in der Sprache des Herrn mehrere Bedeutungen. Von allen Wörtern, mit denen man die Rolle und das Wesen Evas hätte definieren können, nannten Gott der Vater und Adam sie die „Mutter aller …, die leben“3 – und das taten sie, bevor sie ein Kind zur Welt gebracht hatte. Wie bei Eva begann auch unsere Mutterschaft vor unserer Geburt. So wie würdige Männer dazu vorherordiniert wurden, im Erdenleben das Priestertum zu tragen4, so wurden rechtschaffene Frauen im Vorherdasein mit dem Recht auf die Mutterschaft ausgestattet.5 Mutterschaft ist mehr, als Kinder zu bekommen – obwohl das natürlich dazugehört. Sie ist der Inbegriff dessen, wer wir als Frau sind. Sie definiert unsere Identität, unser göttliches Wesen und die einzigartigen Eigenschaften, die der Vater uns mitgegeben hat.

Präsident Gordon B. Hinckley hat gesagt: „Gott hat den Frauen etwas Göttliches eingepflanzt.“6 Dieses Etwas sind die Gabe und die Gaben der Mutterschaft. Elder Matthew Cowley hat gelehrt: „Die Männer müssen im Erdenleben etwas erhalten, damit sie den Menschen Erretter sein können, die Mütter, die Frauen jedoch nicht. Sie kommen mit dem angeborenen Recht, der angeborenen Vollmacht, Erretter von Menschenseelen zu sein, auf die Welt … und als belebende Kraft im Leben der Kinder Gottes.“7

Mutterschaft ist nicht das, was übrig blieb, nachdem unser Vater seine Söhne mit der Ordinierung zum Priestertum gesegnet hatte. Sie war die erhebendste Gabe, die er seinen Töchtern geben konnte, eine heilige Verpflichtung, die der Frau eine unvergleichliche Aufgabe übertrug, nämlich seinen Kindern zu helfen, ihren zweiten Stand zu bewahren. Wie Präsident J. Reuben Clark gesagt hat, ist die Mutterschaft „wie das Priestertum eine göttliche Berufung und von gleicher ewiger Bedeutung“.8

Und doch ist die Mutterschaft ein sehr heikles Thema, denn sie verursacht sowohl die größte Freude als auch den größten Schmerz, den wir empfinden. Das war von Anfang an so. Eva war nach dem Fall „froh“, denn sie erkannte, dass sie sonst „nie Nachkommen gehabt“ hätte.9 Und dennoch: Stellen wir uns nur einmal ihren Schmerz über Kain und Abel vor. Manche Mütter leiden wegen der Kinder, die sie geboren haben; andere leiden, weil sie hier keine Kinder bekommen. Dazu hat Elder John A. Widtsoe klar und deutlich gesagt: „Eine Frau, die – ohne eigenes Verschulden – die Gabe der Mutterschaft nicht direkt ausüben kann, kann es stellvertretend tun.“10

Aus Gründen, die dem Herrn bekannt sind, müssen manche Frauen darauf warten, Kinder zu bekommen. Dieser Aufschub ist für keine rechtschaffene Frau leicht. Doch der Zeitplan des Herr für eine jede von uns nimmt uns nicht unser Wesen. Manche müssen einfach andere Wege finden, Mutter zu sein. Wir sind von Menschen umgeben, die geliebt und geführt werden müssen.

Eva war vorbildlich. Sie brachte nicht nur Kinder zur Welt, sondern wurde zur Mutter der gesamtem Menschheit, als sie die mutigste Entscheidung traf, die je von einer Frau getroffen wurde, und uns gemeinsam mit Adam den Weg bereitete, Fortschritt zu machen. Sie hat uns ein Beispiel dafür gegeben, was Frausein bedeutet, vor dem die Männer Achtung haben und dem die Frauen nacheifern können, indem sie die Eigenschaften an den Tag legte, mit denen wir Frauen ausgestattet wurden: heldenhaften Glauben, ein waches Empfindungsvermögen für den Geist, Abscheu vor dem Bösen und völlige Selbstlosigkeit. Wie der Erretter, der „angesichts der vor ihm liegenden Freude das Kreuz auf sich genommen“ hat11, nahm Eva angesichts der Freude darüber, dass sie mithelfen konnte, die Menschheit hervorzubringen, den Fall auf sich. Sie liebte uns genug, um mitzuhelfen, uns zu führen.

Als Töchter des himmlischen Vaters und als Töchter Evas sind wir alle Mütter und waren schon immer Mütter. Und jede von uns hat die Aufgabe, die heranwachsende Generation zu lieben und mitzuhelfen, sie zu führen. Wie sollen unsere jungen Mädchen lernen, als Frau Gottes zu leben, wenn sie nicht sehen, wie eine Frau Gottes ist: was sie trägt, was sie ansieht und was sie liest; womit wir unsere Zeit und unseren Verstand füllen, wie wir Versuchungen und Ungewissheit begegnen; wo wir wahre Freude finden und warum Anstand und Weiblichkeit Merkmale einer rechtschaffenen Frau sind? Wie sollen unsere jungen Männer lernen, eine Frau Gottes zu schätzen, wenn wir ihnen nicht zeigen, wie machtvoll unsere Tugenden sind?

Eine jede von uns ist verpflichtet, durch ihr Beispiel zu zeigen, was es heißt, eine rechtschaffene Frau zu sein, denn vielleicht kann unsere Jugend das sonst nirgends sehen. Jede Schwester in der FHV, der wichtigsten Frauenvereinigung im Diesseits, ist dafür verantwortlich, dass unsere Jungen Damen freudig in die FHV übertreten. Das bedeutet, dass wir uns schon lange bevor sie 18 werden mit ihnen anfreunden müssen. Jede kann für jemand wie eine Mutter sein – das beginnt natürlich mit den Kindern in unserer Familie, es kann aber auch weit darüber hinausgehen. Jede kann durch Wort und Tat zeigen, dass das Werk einer Frau im Reich des Herrn großartig und heilig ist. Ich wiederhole: Wir alle sind Mütter in Israel, und wir sind dazu berufen, die heranwachsende Generation zu lieben und mitzuhelfen, sie durch die gefährlichen Straßen des Erdenlebens zu führen.

Kaum eine von uns könnte ohne die Erziehung sowohl der Mutter, die uns geboren hat, als auch der Mütter, die uns ertragen, ihre Möglichkeiten ausschöpfen. Kürzlich war ich begeistert, eine meiner Jugendführerinnen zu treffen, die ich seit Jahren zum ersten Mal wiedersah. Als Teenager ohne jegliches Selbstvertrauen schlich ich mich immer wieder an diese Frau heran, denn sie legte immer den Arm um mich und sagte: „Du bist doch die Allerbeste!“ Sie liebte mich, deshalb ließ ich sie mich führen. Wie viele junge Damen und junge Männer sehnen sich verzweifelt nach Ihrer Liebe und Führung? Sind wir uns dessen ganz bewusst, dass unser Einfluss als Mutter in Israel unersetzlich und von ewiger Bedeutung ist?

Als ich groß wurde, erlebte ich oft, dass Mutter mich mitten in der Nacht weckte und sagte: „Sheri, nimm dein Kissen und geh nach unten. Ich wusste, was das bedeutete. Es bedeutete, dass ein Tornado kommt, und sofort bekam ich Angst. Dann aber pflegte Mutter zu sagen: „Sheri, alles wird gut“. Das beruhigte mich jedes Mal. Heute, Jahrzehnte später, wenn das Leben mich zu überwältigen scheint oder mir Angst macht, rufe ich meine Mutter an, und warte, dass sie sagt: „Alles wird gut“.

Die jüngsten schrecklichen Ereignisse in den Vereinigten Staaten haben verdeutlicht, dass wir in einer Welt der Ungewissheit leben. Mehr als je zuvor braucht die Welt rechtschaffene Mütter – Mütter, die ihren Kindern ein Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens in die Zukunft geben. Mütter, die ihre Kinder lehren, wo sie Frieden und Wahrheit finden und dass die Macht Jesu Christi immer größer ist als die des Widersachers. Jedes Mal, wenn wir den Glauben einer jungen Dame oder eines jungen Mannes stärken oder sie in ihrem edlen Charakter bestärken, jedes Mal, wenn wir jemanden lieben und ihn auch nur einen kleinen Schritt entlang des Weges führen, bleiben wir unserer Gabe und Berufung als Mutter treu und richten auf diese Weise das Reich Gottes auf. Eine Frau, die das Evangelium versteht, wird niemals denken, irgendeine andere Arbeit sei wichtiger, und sie wird niemals sagen: „Ich bin nur eine Mutter.“, denn Mütter heilen die Seele der Menschen.

Sehen Sie sich um. Wer braucht Sie und Ihren Einfluss? Wenn wir wirklich etwas bewirken wollen, dann geschieht es dadurch, dass wir für diejenigen, die wir geboren haben, und diejenigen, die wir geduldig ertragen wollen, eine Mutter sind. Wenn wir an der Seite unserer Jugend stehen – was bedeutet, dass wir sie lieben –, dann werden sie in den meisten Fällen auch an unserer Seite stehen –, was bedeutet, dass sie sich von uns führen lassen.

Als Mütter in Israel sind wir wirklich die Geheimwaffe des Herrn. Unser Einfluss entspringt einer göttlichen Gabe, die uns von Anfang an gegeben wurde. Ich frage mich, ob wir in der vorirdischen Welt, als unser Vater unsere Rolle beschrieb, nicht mit großen Augen darüber staunten, dass er uns eine so heilige, für seinen Plan so entscheidende Aufgabe anvertraute und dass er uns mit den Gaben ausstattete, die so wesentlich dafür waren, dass seine Kinder geliebt und geführt werden. Ich frage mich, ob wir nicht wenigstens teilweise deshalb jauchzten und jubelten12, weil er uns eine so erhebende Stellung in seinem Reich gab. Das erfahren Sie nicht von der Welt, aber Sie erfahren es durch den Geist.

Wir können den Herrn nicht im Stich lassen. Und wenn der Tag kommt, an dem wir die einzigen Frauen auf der Erde sind, die die Mutterschaft als etwas Edles und Göttliches betrachten, dann ist es eben so. Denn Mutter ist das Wort, das eine rechtschaffene Frau definiert, die im höchsten Grad der celestialen Herrlichkeit vollkommen gemacht wurde, eine Frau, die sich für ewige Vermehrung – im Sinne von Nachkommen, Weisheit, Freude und Einfluss – bereitgemacht hat.

Ich weiß, ich weiß mit Bestimmtheit, dass diese Lehren bezüglich unserer gottgegebenen Aufgabe wahr sind, und wenn sie verstanden werden, schenken sie jeder Frau Frieden und geben ihrem Leben Sinn. Meine lieben Schwestern, ich liebe Sie mehr, als ich auszudrücken vermag, nehmen Sie die Herausforderung an, in diesen gefährlichen Zeiten eine Mutter zu sein, auch wenn dabei Ihr Durchhaltevermögen, Ihr Mut und Ihr Glaube bis an ihre Grenzen geprüft werden? Werden Sie als Mutter in Israel und Frau Gottes standhaft und unerschütterlich dastehen? Unser Vater und sein einziggezeugter Sohn haben uns eine heilige Treuhandschaft übertragen und uns in ihrem Reich eine heilige Krone gegeben. Mögen wir uns daran freuen. Und mögen wir ihres Vertrauens würdig sein. Im Namen Jesu Christi. Amen.

Anmerkungen

  1. Improvement Era, November 1942, Seite 757 ff.

  2. Mosia 5:15.

  3. Mose 4:26.

  4. Siehe Alma 13:2–4,7,8.

  5. Siehe Spencer W. Kimball, „Role of Righteous Women,“ Ensign, November 1979, Seite 102.

  6. Teachings of Gordon B. Hinckley, 1997, Seite 387.

  7. Matthew Cowley Speaks, 1954, Seite 109.

  8. Relief Society Magazine, Dezember 1946, Seite 801.

  9. Mose 5:11.

  10. Priesthood and Church Government, Hrsg. John A. Widtsoe, Seite 85.

  11. Hebräer 12:2.

  12. Ijob 38:7.