2002
Die Lehre von der Einbeziehung
Januar 2002


Die Lehre von der Einbeziehung

„Wenn wir wahre Jünger des Herrn Jesus Christus sein wollen, müssen wir allen Mitmenschen jederzeit liebevoll und verständnisvoll begegnen.“

Vielleicht war es ein schöner, frischer Herbsttag wie dieser. Der Erretter hatte sich niedergesetzt, um seine Jünger zu unterweisen, als ein Mann, der lediglich als „Gesetzeslehrer“ bezeichnet wird, aufstand und ihn fragte: „Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“

Jesus kannte das Herz dieses Mannes und wusste, dass es sich bei der Frage um einen kaum verhüllten Versuch handelte, etwas aus ihm herauszulocken, was dem Gesetz des Mose widersprach.

Der Erretter beantwortete die Frage mit zwei Gegenfragen: „Was steht im Gesetz? Was liest du dort?“

Wie nicht anders zu erwarten, konnte der Gesetzeslehrer das Gesetz aufsagen: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst.“

„Du hast richtig geantwortet“, erwiderte der Erretter. „Handle danach, und du wirst leben.“

Doch damit gab sich der Gesetzeslehrer nicht zufrieden. Er wusste, dass unter den Juden strenge Regeln und Ansichten herrschten, was den Umgang mit Ungläubigen betraf, und drängte den Herrn zu weiteren Aussagen, in der Hoffnung, dass er sich in Widersprüche verstrickte. „Und wer ist mein Nächster?“, fragte er.

Es war wieder einmal an der Zeit, zu lehren. Jesus wandte eine seiner bevorzugten und wirksamsten Lehrmethoden an: ein Gleichnis – in diesem Fall wohl das beliebteste und bekannteste im christlichen Glauben.

Sie kennen das Gleichnis, in dem ein Mann aus Jerusalem auf dem Weg nach Jericho von Räubern überfallen und halbtot liegen gelassen wird. Ein Priester auf der anderen Straßenseite geht einfach weiter, auch ein Levit bleibt nicht stehen, um zu helfen. Jesus führt weiter aus:

„Dann kam ein Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte er Mitleid,

ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn.“

Dann stellt Jesus dem Gesetzeslehrer eine weitere Frage: „Was meinst du: Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde?“

Und der Gesetzeslehrer antwortet: „Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat.“

Da gibt Jesus dem Gesetzeslehrer – und allen, die das Gleichnis vom barmherzigen Samariter gelesen haben – die letzte Anweisung: „Dann geh und handle genauso!“ (Siehe Lukas 10:25–37.)

Jedes Mal, wenn ich dieses Gleichnis lese, beeindruckt es mich, wie machtvoll und einfach es ist. Aber haben Sie sich je gefragt, warum der Erretter einen Samariter zum Helden seiner Geschichte machte? Zu Christi Lebzeiten herrschte zwischen den Juden und den Samaritern eine tiefe Abneigung. Für gewöhnlich vermieden die beiden Gruppen jeglichen Umgang miteinander. Das Gleichnis wäre immer noch brauchbar und lehrreich gewesen, wenn der von Räubern überfallene Mann von einem jüdischen Bruder gerettet worden wäre.

Die absichtliche Gegenüberstellung von Juden und Samaritern soll uns ganz klar machen, dass wir alle der Nächste des anderen sind, dass wir einander lieben und achten, ehren und dienen sollen, auch wenn wir noch so verschieden sind – auch in religiöser, politischer oder kultureller Hinsicht.

Diese Anweisung gehört auch heute noch zu den Lehren der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Als Joseph Smith die grundlegenden Lehren der wiederhergestellten Kirche zusammenfasste, sagte er, dass wir sowohl „für uns das Recht [beanspruchen], Gott den Allmächtigen zu verehren, wie es uns das Gewissen gebietet“ als auch „allen Menschen das gleiche Recht [zugestehen], mögen sie verehren, wie oder wo oder was sie wollen“ (11. Glaubensartikel).

Zum Glück verstehen viele unserer Mitglieder diese Lehre und leben auch danach. Vor kurzem habe ich in einer Zeitung einen Bericht über einen tragischen Todesfall in einem Ort hier in Utah gelesen. Die trauernde junge Witwe wurde wie folgt zitiert: „Es war überwältigend, wie uns geholfen wurde. Wir sind keine Mormonen, aber deren Gemeinde hier hat uns die ganze Zeit mit Essen versorgt und uns geholfen und getröstet. Überall begegnete uns liebevolle Anteilnahme, und dafür sind wir dankbar.“ (Zitiert in: Dick Harmon, „Former Ute’s Death Leaves Wife Coping, Wondering“, Daily Herald [Provo, Utah], 11. August 2001, A3.)

Genau so soll es sein. Wenn wir wahre Jünger des Herrn Jesus Christus sein wollen, müssen wir allen Mitmenschen jederzeit liebevoll und verständnisvoll begegnen, vor allem, wenn sie in Not sind. In den Church News wurde neulich über zwei Frauen berichtet, die eng befreundet sind, eine „jüdische Ärztin aus New York und eine Hausfrau und Mutter von sechs Kindern aus Utah, die der Kirche angehört. Beide leben weit von ihrer Heimat entfernt in Dallas.“

Die Mutter aus Utah erzählt: „Hätte man unsere Freundschaft in einem Computervergleich analysiert, wären wir wohl kaum über die ersten Hürden hinausgekommen. …

Ich hatte angenommen, eine Frau mit einer gut besuchten Arztpraxis würde sich kaum darüber unterhalten wollen, welche Farbe die Servietten für den Verein der Erziehungsberechtigten haben sollen.

Das merkwürdige an solchen Annahmen ist, dass sie schon die ersten Ansätze unterbinden, wo sonst etwas wachsen und gedeihen könnte, wenn es nur eine Chance hätte. Ich bin ewig dankbar, dass solche Annahmen außer Acht gelassen wurden.“ (Shauna Erickson, „Unlikely Friends Sharing a Lifetime“, Church News, 18. August 2001, Seite 10.)

Feste Vorstellungen und Ansichten können sehr gefährlich und ungerecht sein. Unter unseren Mitgliedern mag es welche geben, die nicht allen Mitmenschen mit einem freundlichen Lächeln oder einem herzlichen Händedruck begegnen oder ihnen liebevoll dienen. Genauso mögen Menschen in unsere Nachbarschaft ziehen, die nicht der Kirche angehören und eine negative vorgefasste Meinung über die Kirche und ihre Mitglieder mitbringen. Zu gutnachbarlichen Beziehungen gehört zweifellos, dass man alles unternimmt, um einander zu verstehen und freundlich zu begegnen, ungeachtet der Religion, der Staatsangehörigkeit, der ethnischen oder kulturellen Herkunft.

Hin und wieder habe ich von Mitgliedern gehört, die Andersgläubige links liegen lassen oder ausschließen. Das kommt besonders in Gebieten vor, wo unsere Mitglieder die Mehrheit darstellen. Ich habe von engstirnigen Eltern gehört, die ihren Kindern nicht erlauben, mit einem bestimmten Kind in der Nachbarschaft zu spielen, weil seine Familie nicht der Kirche angehört. Ein solches Verhalten passt nicht zu den Lehren des Herrn Jesus Christus. Mir ist unbegreiflich, wie Mitglieder der Kirche es so weit kommen lassen können. Ich gehöre schon mein Leben lang der Kirche an. Ich war Vollzeitmissionar, zweimal Bischof, Missionspräsident, Siebziger und bin nun Apostel. Ich habe nie die Lehre verbreitet – und auch nie zu hören bekommen – dass man einen Mitmenschen ausschließen soll. Zu allen Zeiten sind die Mitglieder der Kirche dazu angehalten worden, andersgläubigen Freunden und Nachbarn stets liebevoll, freundlich, verständnisvoll und wohlwollend zu begegnen.

Der Herr erwartet sehr viel von uns. Eltern, bringen Sie Ihren Kindern bitte bei, andere grundsätzlich einzubeziehen und sie nicht wegen religiöser, politischer oder kultureller Unterschiede auszugrenzen, und handeln Sie selbst dementsprechend.

Es stimmt zwar, dass wir der Welt verkünden, dass die Fülle des Evangeliums Jesu Christi durch den Propheten Joseph Smith auf der Erde wiederhergestellt wurde, und dass wir unseren Mitgliedern nahe legen, mit anderen über ihren Glauben zu sprechen und Zeugnis zu geben, aber die Kirche hat nie befürwortet, dass diejenigen zu meiden oder zu ignorieren seien, die unsere Botschaft nicht anhören oder annehmen wollen. Das Gegenteil trifft zu! Präsident Gordon B. Hinckley hat uns wiederholt an die besondere Verpflichtung erinnert, die wir als Nachfolger des Herrn Jesus Christus haben. Ich möchte nur Folgendes zitieren:

„Jeder von uns ist einzigartig. Jeder von uns ist anders. Diese Unterschiede muss man respektieren. …

Wir müssen uns mehr anstrengen, uns gegenseitig zu respektieren, eine nachsichtige Haltung einzunehmen, einander zu tolerieren, ganz gleich welche Lehre oder Philosophie wir unterstützen. Im Einzelnen mögen wir unterschiedlicher Meinung sein. Dabei sollten wir aber Respekt und Anstand wahren.“ (Teachings of Gordon B. Hinckley [1977], Seite 661, 665.)

Als Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage ist uns bewusst, dass wir manch einem etwas eigentümlich vorkommen. Unsere Lehren und Glaubensinhalte sind uns wichtig. Wir verinnerlichen und achten sie. Davon will ich auch keineswegs abraten. Im Gegenteil – dass wir so eigentümlich sind und dass die Botschaft vom wiederhergestellten Evangelium so einzigartig ist, ist geradezu unerlässlich dafür, den Menschen der Welt eine klare Wahl zu gestatten. Ich möchte auch nicht dazu anregen, dass man sich in Verhältnisse begibt, in denen man selbst oder die Familie geistig in Gefahr gerät. Wir müssen aber begreifen, dass nicht jeder unsere Lehre von der Wiederherstellung des Evangeliums Jesu Christi annehmen wird. Größtenteils handelt es sich bei unseren andersgläubigen Nachbarn um gute, anständige Menschen – um keinen Deut weniger gut oder anständig, als wir es sein wollen. Sie sind um ihre Familie genauso besorgt wie wir. Sie sind genauso um eine bessere Welt bemüht wie wir. Sie sind so freundlich, liebevoll, großzügig und aufrichtig, wie wir es sein wollen. Vor fast 25 Jahren erklärte die Erste Präsidentschaft: „Unsere Botschaft … ist eine, in der es um besondere Liebe und Sorge um das ewige Wohl aller Menschen geht, unabhängig vom Glauben oder von der Rasse oder Staatsangehörigkeit, denn wir wissen, dass wir wahrhaft Brüder und Schwestern sind, weil wir Söhne und Töchter desselben ewigen Vaters sind.“ (Erklärung der Ersten Präsidentschaft vom 15. Februar 1978.)

Dies ist unsere Lehre – eine Lehre der Einbeziehung. Daran glauben wir. So sind wir erzogen worden. Unter allen Menschen der Erde sollten wir aufgrund dieser Lehre die liebevollsten, freundlichsten und tolerantesten sein.

Darf ich drei einfache Vorschläge dazu machen, wie wir verhindern können, dass sich in unserer Umgebung jemand ausgeschlossen fühlt?

Erstens: Lernen Sie Ihre Nachbarn kennen. Bringen Sie etwas über ihre Familie, ihre Arbeit, ihre Ansichten in Erfahrung. Treffen Sie sich mit ihnen, wenn sie nichts dagegen haben, seien Sie dabei nicht aufdringlich und hegen Sie keine Hintergedanken. Eine Freundschaft darf man nie als Mittel zum Zweck betrachten; sie kann und soll Selbstzweck sein. Ich habe einen Brief von einer Frau erhalten, die vor kurzem nach Utah gezogen ist. Ich möchte ein kleines Stück daraus vorlesen: „Ich muss Ihnen sagen, Elder Ballard, wenn ich meine Nachbarn grüße oder ihnen zuwinke, zeigen sie keinerlei Reaktion. Wenn ich bei meinem Morgen- oder Abendspaziergang an ihnen vorbeigehe, erwidern sie meinen Gruß nicht. Auch andere Farbige erhalten die gleiche negative Reaktion auf ihre freundlichen Gesten.“ Wenn Mitglieder der Kirche unter diesen Nachbarn sind, wissen sie bestimmt, dass so etwas nicht vorkommen darf. Pflegen wir gute, durch gegenseitiges Vertrauen und Verständnis gekennzeichnete Beziehungen zu unseren Mitmenschen, die anderer Herkunft oder anderen Glaubens sind.

Zweitens fände ich es schön, wenn wir ein paar Ausdrücke aus unserem Wortschatz streichen könnten: „Nichtmitglied“ und „Nicht-Mormone“. Ausdrücke wie diese können erniedrigend, ja herabwürdigend sein. Ich persönlich betrachte mich ja auch nicht als „Nicht-Katholiken“ oder „Nicht-Juden“. Ich bin Christ. Ich bin Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, und so möchte ich auch angesehen werden – als der, der ich bin, oder das, was ich bin, und nicht als etwas, was ich nicht bin. Behandeln wir doch diejenigen, die in unserer Mitte leben, mit der gleichen Höflichkeit! Wenn man schon einen Sammelbegriff braucht, dann dürfte „Nachbarn“ in den meisten Fällen wohl völlig ausreichen.

Und wenn, drittens, Nachbarn böse oder enttäuscht sind, weil sie mit irgendetwas an der Kirche Jesu Christi der Heiligen Tage nicht einverstanden sind oder mit einem Gesetz, das wir aus sittlichen Gründen unterstützen, dann raten Sie ihnen doch bitte nicht – auch nicht im Scherz –, sie könnten ja woanders hinziehen. Mir ist unbegreiflich, wie ein Mitglied der Kirche an so etwas auch nur denken kann! Unsere Vorfahren, die Pioniere, wurden von ahnungslosen und intoleranten Nachbarn von Ort zu Ort getrieben. Sie mussten außerordentliche Strapazen und Verfolgung erleiden, weil sie etwas anderes dachten und glaubten und sich anders verhielten als andere. Wenn wir überhaupt etwas aus unserer Geschichte gelernt haben sollten, dann doch zumindest das, dass wir das Recht aller Menschen anerkennen, friedlich nebeneinander zu leben.

Ich spreche nun zu all denen, die nicht unserer Religion angehören. Wenn es etwas zu besprechen gibt, dann lassen Sie uns darüber sprechen. Wir sind bereit zu helfen. Bitte berücksichtigen Sie aber, dass das, was wir lehren, vom Herrn kommt, so dass wir manchmal nur darin übereinstimmen können, dass wir nicht übereinstimmen; wir können aber trotzdem liebenswürdig sein. Wir können und müssen in unserem Gemeinwesen in einer höflichen, respektvollen und anständigen Atmosphäre zusammenarbeiten. Hier in Utah haben sich besorgte Bürger zu einer „Allianz für die Einheit“ zusammengefunden. Ihr Vorhaben wird von unserer Kirche wie von anderen Kirchen und Organisationen gebilligt. Eines der Ziele besteht darin, „ein Gemeinwesen aufzubauen, in dem unterschiedliche Meinungen akzeptiert und geachtet werden“. Vielleicht ist es noch nie zuvor so wichtig gewesen, dass sich überall auf der Welt Nachbarn zum gegenseitigen Wohl zusammenschließen.

Nur wenige Stunden vor den körperlich und geistig schmerzhaften Vorgängen im Zusammenhang mit dem Sühnopfer traf sich der Erretter mit seinen Jüngern, um am Passahfest teilzunehmen – seinem letzten Abendmahl – und ihnen die letzten Anweisungen mitzugeben, solange er noch sterblich war. Darunter befand sich auch der bewegende, lebensentscheidende Aufruf: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.

Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“ (Johannes 13:34,35.)

Das Gleiche wollte Jesus seinen Jüngern – und einem „Gesetzeslehrer“ – mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter vermitteln. Das Gleiche lehrt er uns heute durch die lebenden Propheten und Apostel. Liebt einander! Geht freundlich miteinander um, auch wenn die Differenzen noch so groß sind. Behandelt einander respektvoll und höflich. Ich weiß und bezeuge, dass Jesus der Messias ist, unser Erretter und Erlöser, und ich weiß, dass er von uns allen erwartet, dass wir seiner Ermahnung folgen, bessere Nachbarn zu sein. Und davon gebe ich Zeugnis im Namen Jesu Christi. Amen.