2002
Das Gebet
Januar 2002


Das Gebet

„Wenn wir … Glauben haben, können wir um das beten, was wir uns wünschen, und dann dankbar annehmen, was immer uns zuteil wird. Nur mit solchem Glauben beten wir so eifrig, wie Gott es erwartet.“

Die Welt befindet sich offenbar in Aufruhr. Es gibt Kriege und Kriegsgerücht. Die Wirtschaft ganzer Kontinente wird in Mitleidenschaft gezogen. Wegen Regenmangels geht vielerorts die Ernte zugrunde. Bedrängte Menschen flehen zum Himmel. Sowohl öffentlich als auch privat beten sie zu Gott um Hilfe, um Trost, um Führung.

Vielleicht ist Ihnen, so wie kürzlich mir, aufgefallen, dass derzeit nicht nur mehr gebetet wird, sondern dass auch von Herzen gebetet wird. Ich sitze bei Versammlungen ja oft auf dem Podium und somit ganz in der Nähe dessen, der das Gebet spricht. In letzten Zeit höre ich oft staunend zu. Die Worte, die da gesprochen werden, sind ganz klar von Gott inspiriert. Sie sind beredt und weise. Und der Tonfall gleicht dem eines kleinen Kindes, das Hilfe erfleht – aber nicht von seinen Eltern, sondern von dem allmächtigen himmlischen Vater, der weiß, was wir brauchen, ehe wir darum bitten.

Schon immer hat es in der Geschichte der Menschheit solche Zeiten gegeben, da die Menschen flehentlich gebetet haben, wenn die Welt aus den Fugen geraten war. In tragischen, in gefahrvollen Zeiten wenden sich die Menschen Gott zu und beten. Dieses Phänomen würde auch König David vor alters auffallen, denn er hat es bereits in den Psalmen beschrieben. Er schreibt: „So wird der Herr für den Bedrückten zur Burg, zur Burg in Zeiten der Not.

Darum vertraut dir, wer deinen Namen kennt; denn du, Herr, verlässt keinen, der dich sucht.“1

Die Zunahme tief empfundener Gebete – und auch die Tatsache, dass dies in der Öffentlichkeit akzeptiert wird – hat mich und andere bewegt. Mehr als einmal hat in den vergangenen Tagen jemand zu mir gesagt – und er hat es, ein wenig besorgt, auch wirklich so gemeint: „Ich hoffe, das bleibt so.“

Diese Sorge ist berechtigt. Wir wissen das aus eigener Erfahrung und vom Umgang Gottes mit seinen Kindern zu allen Zeiten. Man verlässt sich gern auf Gott, bis das Gebet erhört worden ist. Und wenn die Not vergeht, lässt auch das Beten nach. Im Buch Mormon wiederholt sich diese traurige Geschichte immer wieder.

Im Buch Helaman steht: „O wie konntet ihr euren Gott vergessen, eben an dem Tag, da er euch befreit hat?“2 Und später wird im selben Buch das schreckliche Verhalten der Menschen erneut beschrieben, nachdem Gott ihre Gebete liebevoll und gütig erhört hatte:

„Und so können wir erkennen, wie falsch und auch wie wankelmütig die Menschenkinder im Herzen sind; ja, wir können sehen, dass der Herr in seiner großen, unendlichen Güte diejenigen segnet und es ihnen wohl ergehen lässt, die ihr Vertrauen in ihn setzen.

Ja, und wir können sehen, dass zur selben Zeit, wenn er sein Volk gedeihen lässt – ja, indem ihre Felder, ihre Schafe und Rinder und ihr Gold und Silber und allerart Kostbarkeiten jeder Gattung und Ausführung zunehmen; indem er ihr Leben schont und sie aus den Händen ihrer Feinde befreit; indem er ihren Feinden das Herz erweicht, so dass sie ihnen nicht den Krieg erklären; ja, und schließlich, indem er alles für das Wohlergehen und Glück seines Volkes tut –, ja, dass dann auch die Zeit ist, dass sie ihr Herz verhärten und den Herrn, ihren Gott, vergessen und den Heiligen mit Füßen treten, ja, und dies wegen ihrer Bequemlichkeit und ihres überaus großen Wohlstandes.

Und so sehen wir: Wenn der Herr sein Volk nicht mit vielen Bedrängnissen züchtigt, ja, wenn er sie nicht mit Tod und Schrecken, mit Hungersnot und allerart Seuche heimsucht, so gedenken sie seiner nicht.“3

Und aus den nächsten Versen erfahren wir, warum wir so leicht vergessen, woher unsere Segnungen kommen, und wieso das Bedürfnis nachlässt, glaubensvoll zu beten:

„O wie töricht und wie eitel und wie böse und teuflisch und wie schnell, Übles zu tun, und wie langsam, Gutes zu tun, sind doch die Menschenkinder, ja, wie schnell, auf die Worte des Bösen zu hören und ihr Herz auf die Nichtigkeiten der Welt zu setzen!

Ja, wie schnell, im Stolz überheblich zu werden, ja, wie schnell, zu prahlen und alles zu tun, was von Übel ist; und wie langsam sind sie doch, des Herrn, ihres Gottes, zu gedenken und seinen Ratschlägen Gehör zu schenken, ja, wie langsam, auf den Pfaden der Weisheit zu wandeln!

Siehe, sie wünschen nicht, dass der Herr, ihr Gott, der sie erschaffen hat, über sie herrsche und walte; ungeachtet seiner großen Güte und seiner Barmherzigkeit ihnen gegenüber achten sie seine Ratschläge für nichts und wollen nicht, dass er ihr Lenker sei.“4

Aus diesen drei kurzen Versen lassen sich drei Gründe erkennen, weshalb sich der Mensch leider vom demütigen Gebet abwendet. Erstens: Gott legt uns zwar nahe, dass wir beten sollen, doch der Feind unserer Seele tut dies als unwichtig ab und macht sich dann noch darüber lustig. Hier gilt der folgende warnende Hinweis aus 2 Nephi: „Und nun, meine geliebten Brüder, sehe ich, dass ihr im Herzen noch immer nachsinnt, und es schmerzt mich, dass ich darüber sprechen muss. Denn wenn ihr auf den Geist hören wolltet, der die Menschen beten lehrt, dann würdet ihr wissen, dass ihr beten müsst; denn der böse Geist lehrt den Menschen nicht, zu beten, sondern er lehrt ihn, dass er nicht beten soll.“5

Zweitens vergisst der Mensch Gott aus Eitelkeit. Ein wenig Wohlstand und Frieden – oder auch nur eine kleine Wendung zum Besseren –, und schon meinen wir, wir bräuchten Gott nicht mehr. Wir meinen sogleich, wir hätten alles in der Hand, die Wendung zum Besseren hätten wir selbst verursacht und nicht Gott, der sich uns durch die leise, sanfte Stimme des Geistes kundtut. Der Stolz tobt in unserem Innern so laut, dass die leise Stimme des Geistes nur schwer zu vernehmen ist. Und bald hören wir aus Eitelkeit gar nicht mehr hin. Wir gelangen rasch zu der Überzeugung, dass diese Stimme entbehrlich sei.

Der dritte Grund liegt in unserem ureigensten Wesen. Wir sind Geistkinder des himmlischen Vaters. Er liebt uns und hat uns zur Erde gesandt, damit sich zeigt, ob wir uns – aus freien Stücken – dafür entscheiden, seine Gebote zu halten und zu seinem geliebten Sohn zu kommen. Die beiden zwingen uns nicht. Sie könnten das gar nicht, denn das würde dem Plan des Glücklichseins entgegenstehen. Und so tragen wir in uns den von Gott gegebenen Wunsch, eigenverantwortlich entscheiden zu dürfen.

Der Wunsch, selbst Entscheidungen treffen zu dürfen, kann uns zu ewigem Leben emporziehen. Falls wir das Leben jedoch lediglich aus dem Blickwinkel des vergänglichen Erdenlebens betrachten, kann er es uns schwer oder gar unmöglich machen, uns auf Gott zu verlassen, wenn das Verlangen, unabhängig zu sein, derart mächtig ist. Auch wenn es hart klingen mag, so ist die folgende Lehre doch wahr:

„Denn der natürliche Mensch ist ein Feind Gottes und ist es seit dem Fall Adams gewesen und wird es für immer und immer sein, wenn er nicht den Einflüsterungen des Heiligen Geistes nachgibt, den natürlichen Menschen ablegt und durch die Sühne Christi, des Herrn, ein Heiliger wird und so wird wie ein Kind, fügsam, sanftmütig, demütig, geduldig, voll von Liebe und willig, sich allem zu fügen, was der Herr für richtig hält, ihm aufzuerlegen, ja, wie eben ein Kind sich seinem Vater fügt.“6

Wer sich wie ein Kind fügt, tut dies deshalb, weil er weiß, dass dem Vater einzig und allein daran liegt, dass seine Kinder glücklich werden, und dass nur er den Weg dahin kennt. Solch ein Zeugnis brauchen wir, um weiterhin wie ein fügsames Kind zu beten – in guten wie in schlechten Zeiten.

Wenn wir solchen Glauben haben, können wir um das beten, was wir uns wünschen, und dann dankbar annehmen, was immer uns zuteil wird. Nur mit solchem Glauben beten wir so eifrig, wie Gott es erwartet. Wann immer Gott uns zu beten aufforderte, verwendete er Ausdrücke wie „unablässig beten“, „ständig beten“ und „machtvolles Gebet“.

Solche Gebote fordern von uns aber nicht, dass wir viele Worte machen. Der Erretter hat uns sogar ermahnt, beim Beten nicht zu viele Worte zu machen. Der Eifer im Gebet, den Gott erwartet, bedient sich keiner blumigen Sprache oder langer Stunden der Einsamkeit. Das wird bei Alma im Buch Mormon ganz klar herausgestellt:

„Ja, und wenn ihr den Herrn nicht anruft, so lasst euer Herz voll sein, ständig im Gebet zu ihm begriffen für euer Wohlergehen und auch für das Wohlergehen derer, die um euch sind.“7

Unser Herz kann nur dann ständig im Gebet zu Gott begriffen sein, wenn es voll Liebe zu ihm ist und auf seine Güte vertraut. Joseph Smith hat uns schon in seiner Jugend ein Beispiel dafür gegeben, wie man voll Liebe zu Gott beten kann und das unablässig in einem Leben voller Prüfungen und Segnungen fortsetzt.

Als Joseph Smith in den Wald ging, um zu beten, glaubte er fest daran, dass Gott in seiner Liebe sein Gebet erhören und seine Verwirrung beseitigen werde. Diese Zuversicht gewann er daraus, dass er das Wort Gottes las und ein Zeugnis empfing, dass es wahr sei. Er las nämlich im Jakobusbrief: „So erbitte er … von Gott, der allen gerne gibt und keine Vorwürfe macht; dann wird … ihm gegeben werden.“8 Den Glauben, sich im Gebet an Gott zu wenden, erlangte er, nachdem er über eine Schriftstelle nachgedacht hatte, aus der hervorgeht, dass Gott liebevoll ist. Daher betete er – wie auch wir es tun müssen – voll Glauben an einen liebenden Gott.

Joseph Smith betete und war gewillt, nicht bloß zuzuhören, sondern auch zu gehorchen. Er betete nicht bloß, weil er die Wahrheit wissen wollte. Er war auch bereit, gemäß dem zu handeln, was Gott ihn wissen lassen würde. Aus seinem Bericht geht hervor, dass er mit wirklichem Vorsatz betete und entschlossen war, zu tun, was ihm gesagt werden würde. Er schrieb:

„Nie ist einem Menschen eine Schriftstelle mit mehr Gewalt ins Herz gedrungen als diese damals mir. Es war so, als ergieße sie sich mit großer Macht in mein ganzes Gemüt. Immer wieder dachte ich darüber nach, denn ich wusste, wenn überhaupt jemand Weisheit von Gott brauchte, so war ich es. Ich wusste ja nicht, wie ich mich verhalten sollte, und solange ich nicht mehr Weisheit erlangte, als ich damals besaß, würde ich es auch nie wissen. Die Religionslehrer der verschiedenen Glaubensgemeinschaften legten nämlich ein und dieselbe Schriftstelle so unterschiedlich aus, dass dadurch alles Vertrauen darauf zerstört wurde, die Frage durch Berufung auf die Bibel zu entscheiden.“9

Als Folge dieses Gebets erschienen Joseph Smith Gott Vater und sein geliebter Sohn. Sie sagten ihm – wie er es sich gewünscht hatte –, was er tun solle. Er gehorchte wie ein Kind. Ihm wurde gesagt, er solle sich keiner Kirche anschließen. Er tat, wie ihm geheißen worden war. Und wegen seiner Glaubenstreue wurden in den darauffolgenden Tagen und Monaten und Jahren seine Gebete erhört, und er empfing Licht und Wahrheit in Hülle und Fülle. Die Fülle des Evangeliums Jesu Christi und die Schlüssel des Reiches Gottes wurden auf Erden wiederhergestellt. Weil sich Joseph Smith so demütig auf Gott verließ, wurde das Evangelium mit seiner Vollmacht und den heiligen Handlungen wiederhergestellt. Und weil das Evangelium wiederhergestellt worden ist, steht es auch uns frei, uns für eine unschätzbare Unabhängigkeit zu entscheiden, nämlich kraft der reinigenden Macht des Sühnopfers Jesu Christi frei zu werden von der Knechtschaft der Sünde.

Joseph Smith hatte natürlich eine einzigartige Mission, aber sein demütiges Gebet kann uns allen als Beispiel dienen. Er hatte zu Beginn – so wie auch wir das tun müssen – Glauben an einen liebevollen Gott entwickelt, der sich uns kundtun und der uns helfen kann und möchte. Dieser Glaube entsprang den Eindrücken, die er empfing, als er über die Worte der Knechte Gottes in den Schriften nachsann. Wir können und müssen uns häufig mit dem Wort Gottes befassen. Wenn wir die Schriften nur oberflächlich studieren, werden auch unsere Gebete oberflächlicher.

Wir hören vielleicht nicht auf zu beten, aber unsere Gebete werden mechanischer und stereotyp – ohne wirklichen Vorsatz. Unser Herz kann ja nicht im Gebet zu einem Gott begriffen sein, den wir nicht kennen. Die heiligen Schriften und die Worte der lebenden Propheten helfen uns, ihn kennen zu lernen. Und je besser wir ihn kennen, desto mehr lieben wir ihn.

Wenn wir ihn lieben wollen, müssen wir ihm auch dienen. Joseph Smith tat dies, und zu guter Letzt gab er im Dienst Gottes sein Leben. Er betete und wollte gehorsam sein. Zu diesem Gehorsam gehört immer auch der Dienst am Nächsten. Wenn wir Gott dienen, lernen wir teilweise auch das empfinden, was Gott empfindet, und so lernen wir ihn kennen.

„Denn wie soll jemand einen Herrn kennen, dem er nicht gedient hat und der für ihn ein Fremder ist und der den Gedanken und Absichten seines Herzens ferne steht?“10 In dem Maß, wie wir Gott Vater lieben lernen, wächst in uns auch der Wunsch, uns ihm im Gebet zu nahen.

Die Worte und die Musik dieser Konferenz werden Sie dazu anregen, Schritte zu unternehmen, die Sie dagegen wappnen, sich vom tief empfundenen Beten abzukehren. Das, was hier gesagt wird, wird Ihnen eingeben, sich den Schriften zuzuwenden. Folgen Sie diesen Eingebungen. Sie werden auf dieser Konferenz auch daran erinnert werden, zu welchem Dienst Sie sich im Wasser der Taufe verpflichtet haben. Entscheiden Sie sich dafür, gehorsam zu sein.

Wenn Sie über die Schriften nachsinnen und das tun, was Sie Gott gelobt haben, kann ich Ihnen versprechen, dass Sie mehr Liebe zu Gott empfinden werden. Sie spüren dann auch vermehrt seine Liebe zu Ihnen. Und wenn das der Fall ist, beten Sie von ganzem Herzen. Sie danken ihm, Sie flehen zu ihm. Sie verlassen sich mehr auf ihn. Sie bringen den Mut und die Entschlossenheit auf, in seinem Dienst zu handeln – furchtlos und mit innerem Frieden. Sie beten unentwegt. Und Sie vergessen ihn nicht – ganz gleich, was noch auf Sie zukommen mag.

Ich gebe Ihnen Zeugnis, dass Gott Vater lebt. Er liebt uns. Er hört uns, wenn wir zu ihm beten, und er erhört unsere Gebete so, wie es für uns am besten ist. In dem Maß, wie wir ihn durch seine Worte und in seinem Dienst kennen lernen, lieben wir ihn auch immer mehr. Ich weiß das.

Durch den Propheten Joseph Smith wurde die Fülle des Evangeliums Jesu Christi und die wahre Kirche Jesu Christi wiederhergestellt. Die Schlüssel des Priestertums sind nur in dieser Kirche zu finden. Ich weiß so sicher, wie ich lebe, dass Präsident Gordon B. Hinckley diese Schlüssel auf Erden innehat und gebraucht. Jesus Christus lebt, das weiß ich. Er führt heute seine Kirche. Er wird Sie auf dieser Konferenz durch seine Knechte unterweisen.

Im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.

Anmerkungen

  1. Psalm 9:10,11.

  2. Helaman 7:20.

  3. Helaman 12:1–3.

  4. Helaman 12:4–6.

  5. 2 Nephi 32:8.

  6. Mosia 3:19.

  7. Alma 34:27.

  8. Jakobus 1:5; siehe auch Joseph Smith – Lebensgeschichte 1:11.

  9. Joseph Smith – Lebensgeschichte 1:12.

  10. Mosia 5:13.