2002
„Fürchte dich nicht, bei uns sind mehr als bei ihnen‘
Januar 2002


„Fürchte dich nicht, bei uns sind mehr als bei ihnen“

„Wir [stehen] in diesem heiligen Auftrag, Eltern zu sein, zu lieben und zu führen, nicht allein da.“

Als Eltern oder Führungskräfte von Jugendlichen könnten wir leicht den Glauben verlieren und um ihretwillen und der Welt willen, in der sie leben, sorgenvoll die Hände ringen.

Unsere heutige Lage ist nicht völlig neu und auch nicht hoffnungslos. Als Henoch der Prophet war, weinten die Himmel wegen der Schlechtigkeit der Welt (siehe Mose 7:28–34). Zweifellos weinen die Himmel auch heute.

Der Prophet Elischa war von den Truppen der Aramäer umgeben, die entschlossen waren, ihn zu töten. Er versicherte seinem besorgten einzigen Begleiter, der damit beschäftigt war, die Aramäer zu zählen, dass wir immer in der Überzahl sind, wenn wir auf der Seite des Herrn stehen, ungeachtet irgendwelcher Zahlen oder weltlicher Macht. Ich bezeuge, dass die tröstenden Worte Elischas an seinen jungen Freund heute immer noch wahr sind: „Bei uns sind mehr als bei ihnen.“ (2 Könige 6:8–17.) Der Herr umgibt und schützt unsere jungen Leute mit feurigen Pferden und Wagen (wie er es für Elischa getan hat) in Form von Eltern, Großeltern, Tanten, Onkeln, Nachbarn, Führungskräften und Freunden, die sie innig lieben und sie führen.

In den vergangenen vier Jahren war ich intensiv mit der JD-Arbeit beschäftigt. Wenn wir durch die Welt reisen und mit den Jungen Damen zusammenkommen, erfahren wir etwas über ihre Hoffnungen, Träume, Ängste und Enttäuschungen. Ich stimme mit Präsident Hinckleys Worten überein: „Dies ist die beste Generation, die die Kirche jemals hatte.“ (Church News, 11. Februar 1997, Seite 3.) Insgesamt stehen diese jungen Leute mutig und tatkräftig für Tugend und Anstand ein.

Aber so stark und gut sie auch sind, unsere jungen Leute brauchen trotzdem unsere Hilfe. Und es gibt Hilfe: Das Programm „Mein Fortschritt“ bei den Jungen Damen, „Pflicht vor Gott“ im Aaronischen Priestertum, Anleitungen für Eltern und Führungskräfte und die überarbeitete Ausgabe der Veröffentlichung Für eine starke Jugend helfen Eltern und Führern, sich aktiv und unmittelbar dafür einzusetzen, den Verfall sittlicher Werte aufzuhalten. Unsere Jugendlichen wollen mehr als ein Hotel. Sie wollen Menschen, die sie lieben und führen.

Ein entscheidender Teil dieser Liebe ist das Zuhören. Ich weiß, was wirkliches Zuhören ist, weil ich diese segensreiche Erfahrung machen durfte.

Ich arbeitete gewöhnlich mit meinem Vater auf der Farm. Ich tat es nicht immer gern, aber zur Mittagszeit setzten wir uns meistens in den Schatten der großen Pappeln, aßen unser Mittagessen und redeten miteinander. Mein Vater betrachtete diese Zeit nicht als ideale Gelegenheit, Regeln aufzustellen und seine Tochter zu belehren und zurechtzuweisen. Wir redeten einfach – einfach über alles.

Das war die Zeit, in der ich Fragen stellen konnte. Ich fühlte mich so geborgen, dass ich sogar Fragen stellen konnte, die ihn möglicherweise verärgerten. Ich erinnere mich, wie ich ihn fragte: „Warum hast du mich letzte Woche vor meinen Freunden blamiert, als ich zu lange fortblieb und du mich holen kamst?“

Seine Antwort führt zu einem weiteren Aspekt der Liebe. Er vertrat klar seinen Standpunkt. Es gab bestimmte Verhaltensregeln, die ich zu befolgen hatte. Er sagte: „Es machte mir Sorgen, dass du so spät noch aus warst. Ich möchte dich vor allem in Sicherheit wissen.“ Ich erkannte, dass seine Liebe zu mir stärker war als sein Wunsch zu schlafen, und dass er deshalb auch die Unbequemlichkeit in Kauf genommen hatte, sich noch einmal anzuziehen und loszufahren, um nach mir zu sehen.

Ob es nun eine Wiese oder irgendein anderer Ort ist – durch so verbrachte gemeinsame Zeit legen wir uns einen geistigen Notvorrat für andere Zeiten an, die vielleicht nicht so idyllisch und ruhig sind. Wenn wir auf diese Weise etwas in unsere Beziehungen investieren, bleiben sie, trotz konsequenter Belehrung und Zurechtweisung, oder vielleicht gerade deshalb, intakt.

Liebe bedeutet zuhören, wenn sie bereit sind zu sprechen – um Mitternacht, früh morgens um sechs auf dem Weg zum Seminar oder wenn man gerade damit beschäftigt ist, das Essen zuzubereiten. Es gibt einen Werbespot der Kirche, worin ein dunkles Schlafzimmer gezeigt wird. Die Tür geht auf und ein kleines Mädchen kommt mit einem Buch unter dem Arm herein. Sie geht zu ihrem Vater, der fest schläft, und fragt: „Papa, liest du mir eine Geschichte vor?“ Der Vater öffnet die Augen nicht, sondern murmelt nur im Schlaf: „Ach, Liebling, Papa ist so müde, frag Mama.“ Das kleine Mädchen trippelt hinüber zu Mama, die ebenfalls schläft, und fragt: „Mama, kann Papa mir eine Geschichte vorlesen?“ Man sieht, dass der Vater plötzlich die Augen aufschlägt. Im nächsten Bild sind alle drei zu sehen, und der Vater liest eine Geschichte vor.

Liebe stellt sich vielleicht ganz von selbst ein, aber das Führen – eine Fertigkeit, die man entwickeln muss – nehmen wir vielleicht nicht ernst genug. Mehr als auf irgendeine andere Weise lehren wir durch unser Beispiel. Das ist für die Eltern und die Führungskräfte von Jugendlichen eine schwere Bürde.

Können unsere jungen Leute an der Art und Weise, wie wir leben, sprechen und beten, erkennen, dass wir den Herrn lieben? Wissen sie durch das Gefühl, das sie haben, wenn sie mit uns zusammen sind, dass der Vater im Himmel ein Gott der Liebe ist? Können sie sicher sein, dass wir nicht von jedem Widerstreit der Meinungen oder dem Betrug des sozialen Drucks und der weltlichen Anerkennung hin und her getrieben werden? (Siehe Epheser 4:14.)

Wenn wir rechtschaffen führen wollen, darf an unserem Standpunkt kein Zweifel bestehen. Sind wir in Kleinigkeiten unsicher, kann das unsere Jugendlichen sehr verunsichern.

Ich frage mich manchmal, ob wir als Mütter nicht diejenigen sind, die unsere Kinder mit der Erwartung, beliebt und anerkannt sein zu müssen, unter Druck setzen. Wenn wir uns in unseren Wünschen dahingehend erziehen, dass unsere Maßstäbe mit denen des Herrn übereinstimmen, übermitteln wir die klare Botschaft, dass im Reich Gottes nicht mit zweierlei Maß gemessen wird.

Nachdem Präsident Hinckley im November letzten Jahres zu den Jugendlichen der Kirche gesprochen hatte, erzählte ein Mädchen ihrer Mutter, dass ihre JD-Leiterin ihr zweites Paar Ohrringe entfernt hatte. Unsere aufmerksamen Jugendlichen bemerken so etwas. Sie bemerken, wie lang Ihre Shorts sind, ob Sie Sicherheitsnadeln brauchen, um eine bestimmte Bluse tragen zu können; sie bemerken, was Sie tragen (oder nicht tragen), wenn Sie im Garten arbeiten, sie bemerken, für welchen Film Sie sich an der Kinokasse anstellen.

Wir haben mit dem Herrn Bündnisse geschlossen und eine Führungsaufgabe bringt oft an den Tag, wie sehr wir uns diesen Bündnissen verpflichtet fühlen.

Eine junge Mutter hat gesagt: „Es kostet sehr viel Zeit und Kraft, gute Eltern zu sein. Es ist leichter, meine Kinder vor dem Fernseher einschlafen zu lassen, während ich das Haus aufräume, und sie dann anschließend ins Bett zu legen, als mit ihnen die heiligen Schriften zu lesen, zu beten und Geschichten vorzulesen, bevor ich sie ins Bett bringe. Aber sie freuen sich auf dieses abendliche Ritual und ich weiß, selbst wenn ich zu müde bin, um mich noch zu bewegen, dass sich dieser Einsatz in der Ewigkeit bezahlt macht.“ Konsequente Führung hilft den Jugendlichen, weise Entscheidungen zu treffen, so dass unser Vertrauen in sie wächst.

Ich erinnere mich, dass ich, als ich ungefähr sechzehn war, meine Mutter einmal mit meinem Vater habe sprechen hören. Sie machte sich Sorgen über einige Entscheidungen, die ich getroffen hatte. Ich war keiner ernsthaften Sünde schuldig, es war mehr meine jugendliche Unreife, aber meine Mutter machte sich Sorgen. Was mein Vater sagte, beeindruckte mich tief. „Mach dir keine Sorgen“, sagte er zu meiner Mutter. „Ich vertraue Sharon und weiß, dass sie das Richtige tun wird.“ Jene Stunden auf der Wiese machten sich damals bezahlt. Von jenem Augenblick an war ich mit diesen liebevollen, vertrauensvollen Eltern eng verbunden.

Eine der größten Prüfungen für Eltern und Führungskräfte besteht darin, denjenigen zu lieben, der wenig liebenswert erscheint. Das ist eine schwere Aufgabe. Sie geht uns sehr zu Herzen und zerreißt uns die Seele. Wenn untröstliche Eltern um Hilfe beten, kommt die Hilfe oft in Form von engelsgleichen Tanten, Onkeln, Großmüttern, Großvätern, guten Freunden oder Führungskräften, die mit dem betreffenden Kind zu tun haben. Sie können unsere Botschaft verstärken, die dann vielleicht das Kind auf den richtigen Weg bringt, wie wir es vom Herrn erbeten haben.

Wenn wir in unserer Liebe weise sind und zielgerichtet führen, trägt das dazu bei, die Schlechtigkeit einzudämmen, während wir die nächste Generation auf die große Freude am Elternsein vorbereiten. Wir werden nie die Freude unseres Zwölfjährigen vergessen, als er zum ersten Mal das Abendmahl austeilte, oder wie es war, als unser Sohn zum ersten Mal das Abendmahlsgebet sprach. Wie erklären Sie das Gefühl, das Sie haben, wenn Sie Ihre Tochter Zeugnis vom Erretter geben hören oder miterleben, wie sie die „Auszeichnung für die Junge Dame“ erhält?

Wir erhaschen einen Blick auf den Himmel, wenn wir mit unserem Kind im Tempel sind und es dort mit einem würdigen Partner am Altar kniet. Die jungen Leute sind auf ein gemeinsames Leben der Verheißung und Erfüllung vorbereitet, dessen Boden wir zum Teil bereitet haben. Das ist unsere Erntezeit.

Ich schließe mit meinem Zeugnis, dass wir in diesem heiligen Auftrag, Eltern zu sein, zu lieben und zu führen, nicht allein dastehen. Es gibt keine größere Freude. Es ist jedes Opfer, jede unbequeme Minute, jedes Fünkchen Geduld, persönliche Disziplin und Ausdauer wert, im Namen Jesu Christi. Amen.