Etwas Großes oder Schweres
„Mögen wir alle glaubenstreu die täglichen, gewöhnlichen Dinge tun, die unsere Würdigkeit unter Beweis stellen, denn sie führen uns zum Großen und machen uns dafür würdig.“
Meine lieben Brüder im Priestertum Gottes in der ganzen Welt, ich freue mich, dass ich zu Ihnen gehöre. Ich möchte heute Abend das Priestertum der Kirche auffordern, sich mehr der Aufgabe zu verpflichten, das zu tun, was Glauben, Charakter und geistige Gesinnung aufbaut. Das sind die Routineaufgaben des Priestertums, die wir täglich, wöchentlich, monatlich erfüllen sollten – jahrein, jahraus. Die Arbeit der Kirche hängt von so grundlegenden Dingen ab wie dem Zahlen des Zehnten, der Sorge für die Familie, der Erfüllung der Aufgaben des Priestertums, der Sorge für die Armen und Bedürftigen, dem täglichen Beten und Schriftstudium und dem Familienabend, dem Heimlehren, der Beteiligung an den Kollegiumsaktivitäten, dem Besuch des Tempels. Wenn der Präsident der Kirche uns auffordern würde, etwas zu tun, wären wir wohl bereit und fähig, etwas „Großes“ zu vollbringen, zum Beispiel am Nauvoo-Tempel zu arbeiten, aber bei diesen grundlegenden Aufgaben ist manch einer nicht so willig.
Wir kennen alle aus dem Alten Testament die Geschichte von Naaman, dem Feldherrn des Königs von Aram, der Aussatz hatte. Ein junges Mädchen aus Israel erklärte Naamans Frau, es gebe in Israel einen Propheten, der ihn heilen könne. Naaman fuhr mit Pferd und Wagen bei Elischa vor, der einen Boten zu Naaman sandte und ihn anwies: „Geh und wasch dich siebenmal im Jordan! Dann wird dein Leib wieder gesund, und du wirst rein.“1
Ihr Jungen wisst ja, wie das ist, wenn ihr eurer Mutter eure Hände zeigt. Sie sagt sofort: Wasch sie! Aber Naaman war kein kleiner Junge. Er war der Feldherr des Königs von Aram, und er war beleidigt, als Elischa ihn anwies, sich im Jordan zu waschen. „Naaman wurde zornig. Er ging weg.“2 Seine Diener waren allerdings klüger; sie redeten ihm zu: „Wenn der Prophet etwas Schweres von dir verlangt hätte, würdest du es tun; wie viel mehr jetzt, da er zu dir nur gesagt hat: Wasch dich und du wirst rein.“3 Da kehrte Naaman um und befolgte den Rat des Propheten. Der Aussatz verschwand, und „da wurde sein Leib gesund wie der Leib eines Kindes und er war rein.“4 „Etwas Schweres“ – das war in diesem Fall offensichtlich außergewöhnlich leicht zu befolgen.
Wir haben in der neuzeitlichen Geschichte der Kirche sehr gegensätzliche Beispiele für Menschen, die sehr vom Herrn begünstigt waren. Einer von ihnen, Hyrum Smith, blieb völlig treu und engagiert, bis in den Tod, während der andere, Oliver Cowdery, obwohl er in der Geschichte der Wiederherstellung viel Großes erlebt hatte, sich von seinem Ehrgeiz verblenden ließ und seine hohe Stellung im Gottesreich einbüßte.
Oliver Cowdery erlebte gemeinsam mit dem Propheten Joseph Smith viele der wesentlichen Ereignisse der Wiederherstellung. So empfingen sie beide kraft der Vollmacht Johannes des Täufers die Taufe, es wurde ihnen das Aaronische Priestertum übertragen, sie erlebten die wundersamen Kundgebungen im Kirtland-Tempel, und er schrieb eigenhändig das gesamte Buch Mormon nieder – bis auf einige wenige Seiten – so wie es über die Lippen des Propheten Joseph Smith kam.5 Niemand, außer dem Propheten Joseph, wurde mehr durch die Erscheinung von Engeln geehrt als Oliver Cowdery.
Aber als über den Propheten Joseph schwere Zeiten hereinbrachen, fing Oliver an, ihn zu kritisieren; er entfremdete sich ihm. Trotz der Bemühungen des Propheten, ihm die Hand der Gemeinschaft zu reichen, war er dem Propheten und der Kirche feindlich gesonnen und wurde am 12. April 1838 exkommuniziert.
Ein paar Jahre nach dem Tod des Propheten kehrte Oliver um und bekundete Interesse an der Rückkehr zur Kirche. Als Antwort darauf schrieb Brigham Young ihm am 22. November 1847 und forderte ihn auf: „Kehre zum Haus unseres Vaters zurück, von dem du dich abgewandt hast, … und erneuere dein Zeugnis davon, dass das Buch Mormon wahr ist.“6 Oliver erschien vor dem Hohepriesterkollegium und sagte: „Brüder, seit ein paar Jahren bin ich von euch getrennt. Ich möchte jetzt zurückkommen. Ich möchte demütig kommen und zu euch gehören – ich bin nicht auf eine hohe Stellung aus. Ich möchte nur einer von euch sein – ich habe die Kirche verlassen, ich bin kein Mitglied mehr, aber ich möchte wieder Mitglied der Kirche werden. Ich möchte zur Tür hereinkommen. Ich kenne die Tür. Ich bin nicht hergekommen, um eine Vorrangstellung einzunehmen. Ich komme demütig und unterwerfe mich eurer Entscheidung – da ich weiß, dass eure Entscheidungen richtig sind und befolgt werden sollten.“7
Außerdem gab er mit den folgenden Worten Zeugnis: „Freunde und Brüder, ich bin Oliver, Oliver Cowdery. In der Anfangszeit dieser Kirche gehörte ich zu euch. … Ich … habe die goldenen Platten in Händen gehalten, von denen [das Buch Mormon] übersetzt worden ist. Ich habe auch die Übersetzer gesehen. Das Buch ist wahr. Sidney Rigdon hat es nicht geschrieben. Mr. Spaulding hat es nicht geschrieben. Ich habe es geschrieben, so wie es über die Lippen des Propheten kam.“8 Oliver Cowdery kam zwar zurück, aber seine hohe Stellung in der Kirche hatte er verloren.
Im Gegensatz dazu sagte Präsident Heber J. Grant über Hyrum Smith: „Es gibt kein besseres Beispiel für die Liebe eines älteren Bruders als die, die im Leben Hyrum Smiths gegenüber dem Propheten Joseph Smith zum Ausdruck kam. … Sie waren so einig und und voller Zuneigung, wie zwei Menschen es nur sein können. … Nie gab es im Herzen von Hyrum Smith auch nur die Spur von Eifersucht. Kein Mensch hätte loyaler, treuer sein können, ob in Leben oder Tod, als Hyrum Smith gegenüber dem Propheten des lebendigen Gottes.“9
Er ging auf jedes Bedürfnis und jede Bitte seines jüngeren Bruders Joseph ein, der die Kirche führte und die Offenbarungen empfing, die uns heute vorliegen. Hyrum war standhaft – Tag für Tag, Monat für Monat, jahrein, jahraus.
Nach dem Tod ihres Bruders Alvin vollendete Hyrum das weiße Fachwerkhaus für ihre Eltern. Nachdem Joseph die goldenen Platten erhalten hatte, stellte Hyrum ihm die Holzkiste zur Verfügung, in der er sie aufbewahrte, damit sie geschützt waren. Als die Platten übersetzt worden waren, vertraute Joseph Hyrum das Manuskript für den Drucker an. Hyrum brachte dem Setzer täglich die Seiten und holte sie wieder ab. Dabei wurde er häufig von Oliver Cowdery begleitet.10
Hyrum war als Farmer und Arbeiter tätig, um seine Familie zu ernähren, aber nach der Gründung der Kirche im Jahre 1830 nahm er die Berufung an, über den Zweig Colesville zu präsidieren. Er zog mit Frau und Kindern bei der Familie von Newell Knight ein und brachte viel Zeit damit zu, „das Evangelium zu verkünden, wo immer er jemanden fand, der ihm zuhörte“.11
Er war immer ein guter Missionar und missionierte nicht nur in der Nachbarschaft, sondern auch an der Ostküste und im Süden der Vereinigten Staaten. 1831 reiste er mit John Murdock nach Missouri und zurück, wobei er unterwegs predigte.12
Als 1833 an den Bau des Kirtland-Tempels gedacht wurde, griff Hyrum unverzüglich zur Sichel und jätete am Tempelplatz Unkraut und begann mit der Ausschachtung des Fundaments. 1834, als das Zionslager zusammengestellt wurde, war Hyrum Lyman Wight behilflich, die Mitglieder dafür zu rekrutieren; er führte eine Gruppe von Heiligen von Michigan nach Missouri.
Nachdem Hyrum sich auf diese Weise im Kleinen bewährt hatte, wurde er im Dezember 1834 als stellvertretender Präsident der Kirche berufen. Er unterstand seinem jüngeren Bruder, dem Propheten Joseph. Er war seinem Bruder immer eine Quelle der Kraft und des Trostes, ob im Kirchendienst oder im Gefängnis zu Liberty. Als die Verfolgung einsetzte und Joseph 1844 vor dem Pöbel aus Nauvoo floh, ging Hyrum mit. Als sie dann am Flussufer standen und darüber nachdachten, ob sie zurückkehren sollten, fragte Joseph Hyrum: „Du bist der Ältere, was sollen wir tun?“
„Gehen wir zurück und stellen wir uns und stehen wir die Sache durch“13, erwiderte Hyrum.
Sie kehrten nach Nauvoo zurück und wurden nach Carthage gebracht, wo sie im Abstand von wenigen Minuten den Märtyrertod starben. Hyrum hatte sich des in ihn gesetzten Vertrauens würdig erwiesen und dafür sogar sein Leben hingegeben. Er war in jeder Hinsicht ein Jünger des Erretters. Aber sein tägliches Streben machte ihn zu einem wirklich großen Menschen. Oliver Cowdery dagegen war groß, als er die Platten in Händen hielt und ihm Engel erschienen. In den täglichen Prüfungen und Herausforderungen, die er zu bestehen hatte, versagte er allerdings und fiel von der Kirche ab.
Wir erweisen dem Erretter nicht nur dadurch unsere Liebe, dass wir „etwas Schweres“ tun. Wenn der Prophet Sie persönlich bitten würde, an einem exotischen Ort eine Mission zu erfüllen, würden Sie dann hingehen? Sie würden dafür wahrscheinlich alles tun. Aber wie steht es mit dem Zahlen des Zehnten? Wie steht es mit dem Heimlehren? Wir erweisen dem Erretter unsere Liebe durch die vielen kleinen Taten des Glaubens, des Engagements und der Güte gegenüber anderen, die unseren Charakter ausmachen. Das ist im Leben von Dr. George R. Hill III, der vor ein paar Monaten gestorben ist und früher Generalautorität war, gut zum Ausdruck gekommen.
Elder Hill war ein weltberühmter Experte zum Thema Kohle und ein anerkannter Wissenschaftler. Er erhielt für seine wissenschaftlichen Leistungen zahlreiche Auszeichnungen und Ehren. Er war Dekan des College für Bergwerk und Bodenschätze und Professor für Umwelttechnologie an der University of Utah. Aber als Mensch war Elder Hill demütig, bescheiden und voller Hingabe. Er diente in drei verschiedenen Gemeinden als Bischof und dann als Regionalrepräsentant, ehe er als Generalautorität berufen wurde. Nach seiner Entlassung als Generalautorität wurde er Ratgeber in einer Bischofschaft. In seinen letzten Berufungen, zu einer Zeit, als es ihm gesundheitlich immer schlechter ging, war er Leiter der Konservenfabrik des Pfahls und Mitglied des Gemeindechors. Diesen letzten Berufungen widmete er sich mit dem gleichen Engagement wie allen früheren. Er tat, wozu er berufen wurde, es musste gar nichts Großes oder Schweres sein.
Wie ein Freund von mir einmal sagte: „Wenn wir unsere Talente oder unsere irdischen oder akademischen Ehren oder unsere zunehmend begrenzte Zeit auf dem Altar Gottes opfern, dann verbindet dieses Opfer unser Herz mit ihm und wir spüren, dass wir ihn mehr lieben.“
„Wenn wir im Gottesreich irgendeinen Dienst leisten – sei es Unterrichten oder am Welfare Square Konserven einpacken – hat es für uns viel weniger Wert, wenn wir es einfach bloß ‚erledigen’. … Wenn wir uns aber vorstellen, dass wir unsere Talente oder unsere Zeit auf dem Altar Gottes niederlegen, wie zum Beispiel beim Besuch einer Sitzung in der Kirche, die uns ungelegen kommt, dann wird unser Opfer etwas Persönliches, das wir ihm weihen.“14
Eine Begebenheit, die unser geliebter Mitarbeiter, Elder Henry B. Eyring, einmal erzählt hat, veranschaulicht dieses Prinzip des Engagements noch tiefgreifender. Es geht um seinen Vater, den großen Naturwissenschaftler Henry Eyring, der im Hohen Rat des Pfahles Bonneville diente. Er war für die Wohlfahrtsfarm zuständig, zu der auch ein Zwiebelfeld gehörte, auf dem das Unkraut gejätet werden musste. Er war zu dem Zeitpunkt fast achtzig und litt unter schmerzhaftem Knochenkrebs. Er teilte sich selbst mit ein, das Unkraut zu jäten, obwohl die Schmerzen so schlimm waren, dass er sich auf dem Bauch liegend mit den Ellbogen vorwärts schieben musste. Die Schmerzen waren so schlimm, dass er nicht knien konnte. Trotzdem lächelte und lachte er und unterhielt sich fröhlich mit den anderen, die gekommen waren, um auf dem Zwiebelfeld das Unkraut zu jäten. Ich zitiere jetzt, was Elder Eyring darüber erzählt hat:
„Als die Arbeit beendet war und das ganze Unkraut gejätet war, sagte jemand zu ihm: ‚Henry, du meine Güte! Du hast doch nicht all das Unkrat gejätet? Es ist vor zwei Tagen eingesprüht worden und wäre sowieso eingegangen.‘
Da brüllte mein Vater vor Lachen. Er hielt es für einen herrlichen Witz und lachte über sich selbst. Er hatte den ganzen Tag das falsche Unkraut beackert. Es war besprüht worden und wäre sowieso eingegangen.
Ich fragte ihn: ‚Vater, wie kannst du darüber lachen?‘ … Da sagte er etwas, was ich niemals vergessen werde. … Er sagte: „Hal, ich war nicht wegen des Unkrauts da.“15
Kleinigkeiten können Großes bewirken. Das Fernsehen, das für die Menschheit ein großer Segen ist, wurde von einem Teenager in Idaho erfunden, der auf dem Feld seines Vaters mit einer Scheibenegge gerade Furchen pflügte. Er stellte sich vor, er könnte gerade Linien von einem Bildzerleger übertragen und mit einem anderen reproduzieren.16 Häufig können wir gar nicht sehen, was in scheinbar kleinen Dingen Großes steckt. Dieser vierzehnjährige Junge verrichtete seine gewöhnliche, tägliche Arbeit, als ihm diese außergewöhnliche Idee kam. Wie Nephi einmal sagte: „Und so sehen wir: Durch kleine Mittel kann der Herr etwas Großes vollbringen.“17
Ihr jungen Männer seid eine erwählte Generation, für die die Zukunft große Verheißungen bereithält. Die Zukunft verlangt vielleicht von euch, dass ihr euch auf dem weltweiten Markt mit anderen jungen Männern messt. Ihr braucht eine spezielle Ausbildung. Ihr werdet vielleicht für eine Ausbildung ausgewählt, und zwar nicht wegen irgendeiner herausragenden Leistung oder etwas Großem, sondern weil ihr Adlerscout seid, weil ihr euer Abzeichen „Pflicht vor Gott“ erworben habt, weil ihr den Seminarabschluss gemacht oder eine Mission erfüllt habt.
Im Gleichnis von den Talenten wurde denen, die ihre Talente gemehrt hatten, gesagt: „Sehr gut, du bist ein tüchtiger und treuer Diener. Du bist im Kleinen ein treuer Verwalter gewesen, ich will dir eine große Aufgabe übertragen. Komm, nimm teil an der Freude deines Herrn.“18 Mögen wir alle glaubenstreu die täglichen, gewöhnlichen Dinge tun, die unsere Würdigkeit unter Beweis stellen, denn sie führen uns zum Großen und machen uns dafür würdig. Im Namen Jesu Christi. Amen.