Warum wir Jesus Christus brauchen
Nach der Ansprache „A Message at Christmas“, die am 12. Dezember 2017 bei einer Andacht an der Brigham-Young-Universität gehalten wurde
Kommen wir doch in der Weihnachtszeit zur Ruhe und sinnen wir über die herrliche Erhabenheit des Gottessohnes nach.
Ich bin dankbar, dass wir im Dezember nicht nur Weihnachten feiern können, sondern auch die Gelegenheit erhalten, über das Leben und Wirken des Propheten Joseph Smith nachzusinnen, dessen Geburtstag sich ja am 23. Dezember jährt. Was er als Werkzeug in den Händen des Herrn in einem Umfeld erreicht hat, das von Widerstand, Verfolgung und Anfechtung geprägt war, lässt sich kaum vollständig würdigen. Es wird eine Zeit kommen, da wir sehen werden, wie der Prophet Joseph Smith als würdiger Anführer dieser großen und letzten Evangeliumszeit geehrt wird. Nur dieser letzten wird Erfolg beschieden sein – sämtliche Evangeliumszeiten zuvor haben ja mit dem Abfall vom Glauben geendet.
In der jetzigen Evangeliumszeit ist es meines Erachtens niemandem besser gelungen als dem Propheten Joseph Smith, Gott mehr zu fürchten als die Menschen (siehe Lehre und Bündnisse 3:7,8). Einiges von dem, was der Herr ihm abverlangt hat, war äußerst schwierig. Er hat getan, was ihm aufgetragen war, und wir alle sind die Nutznießer davon.
Die Übersetzung und Veröffentlichung des Buches Mormon war eine beachtliche Leistung, die den Grundstock für den Erfolg der Sache des Herrn in unserer Zeit – der letzten Evangeliumszeit – gelegt hat. Dieser neuzeitlichen Epoche hat Joseph Smith durch das Buch Mormon sowie durch seine Visionen und Offenbarungen aufgezeigt, wer Jesus Christus wirklich ist – der einziggezeugte Sohn Gottes und Erlöser der Menschheit.
Besonders zur Weihnachtszeit denken wir an die persönliche Beziehung des Propheten zum Erretter und dass er „als letztes von allen … Zeugnis … von [Christus gegeben hat]: Er lebt!“ (Lehre und Bündnisse 76:22.) Joseph Smiths Zeugnis, dass Christus lebt, ruft mir eine Aussage von Präsident Gordon B. Hinckley (1910–2008) ins Gedächtnis: „Es gäbe kein Weihnachten, wenn es kein Ostern gegeben hätte. Der kleine Jesus in Betlehem wäre nichts weiter als ein gewöhnliches Baby gewesen, wenn es Getsemani und Golgota und seine triumphale Auferstehung nicht gegeben hätte.“1
Warum brauchen wir Jesus Christus?
Vor einiger Zeit fragte mich jemand, der schon seit langem der Kirche angehört: „Wozu brauche ich Jesus Christus? Ich halte die Gebote und bin ein guter Mensch. Wofür brauche ich also einen Erretter?“ Ehrlich gesagt musste ich erst einmal nach Luft schnappen. Dieses Mitglied hatte offenbar den wichtigsten Teil unserer Religion, diesen grundlegenden Bestandteil des Erlösungsplans, nicht verstanden.
„Zunächst einmal“, entgegnete ich, „ist da eine Kleinigkeit, die man Tod nennt. Ich nehme an, Sie wollen nicht auch in der Ewigkeit tot sein. Ohne Jesus Christus gäbe es keine Auferstehung.“
Ich erwähnte auch andere Aspekte, beispielsweise dass selbst die besten Menschen der Vergebung und Reinigung bedürfen, was nur durch die sühnende Gnade des Erretters möglich ist.
Man könnte die Frage aber auch anders formulieren: „Gott kann doch tun, was er will. Kann er uns dann nicht einfach erretten, weil er uns liebt – ohne dass es dazu eines Erretters bedarf?“ So formuliert, würden sich diese Frage heutzutage wohl nicht wenige Menschen stellen. Sie glauben an Gott und ein Leben nach dem Tod, gehen aber davon aus, es komme nicht so sehr darauf an, was sie tun oder lassen. Schließlich würde Gott sie ja lieben und daher schon alles regeln.
Diese Weltanschauung gibt es schon seit Urzeiten. Nehor beispielsweise „bezeugte dem Volk auch, alle Menschen würden am letzten Tag errettet werden, und es brauche sich nicht zu fürchten und nicht zu zittern, sondern es solle das Haupt erheben und sich freuen; denn der Herr habe alle Menschen erschaffen und habe auch alle Menschen erlöst; und am Ende würden alle Menschen ewiges Leben haben“ (Alma 1:4).
In dem, was Nehor da verkündet, klingt die Art von Errettung an, die Luzifer im Sinn hatte, ein „Sohn der Morgenröte“. Von allen traurigen Gestalten ist er sicherlich die tragischste (Jesaja 14:12; siehe auch Lehre und Bündnisse 76:25-27). Gott erklärte einst, Luzifer sei „derselbe, der von Anfang an gewesen ist; und er trat vor mich und sprach: Siehe, hier bin ich, sende mich; ich will dein Sohn sein, und ich will die ganze Menschheit erlösen, dass auch nicht eine Seele verlorengeht, und gewiss werde ich es tun; darum gib mir deine Ehre.
Aber siehe: Mein geliebter Sohn, der mein Geliebter und Erwählter von Anfang an war, sprach zu mir: Vater, dein Wille geschehe, und die Herrlichkeit sei dein immerdar.“ (Mose 4:1,2.)
Hier ging es nicht einfach nur darum, dass Jesus den Plan des Vaters unterstützte und Luzifer lediglich etwas leicht abändern wollte. Luzifers Vorhaben hätte den Plan zunichtegemacht, weil er uns der Möglichkeit beraubt hätte, selbst Entscheidungen zu treffen. Der Plan Luzifers beruhte auf Zwang und hätte alle anderen Söhne und Töchter Gottes – jeden von uns – im Grunde zu seinen Marionetten gemacht. Unser Vater fasst es so zusammen:
„Darum, weil jener Satan sich gegen mich auflehnte und danach trachtete, die Entscheidungsfreiheit des Menschen zu vernichten, die ich, Gott, der Herr, ihm gegeben hatte, und weil ich ihm auch meine eigene Macht geben sollte, ließ ich ihn durch die Macht meines Einziggezeugten hinabwerfen;
und er wurde der Satan, ja, nämlich der Teufel, der Vater aller Lügen, die Menschen zu täuschen und zu verblenden und sie nach seinem Willen in Gefangenschaft zu führen, ja, alle, die nicht auf meine Stimme hören wollen.“ (Mose 4:3,4; Hervorhebung hinzugefügt.)
Im Gegensatz dazu eröffnet uns der Plan des Vaters die Erfahrung des Erdenlebens, die unerlässlich ist. Mit „Erfahrung des Erdenlebens“ meine ich, dass wir entlang unseres Wegs „das Bittere [schmecken], damit [wir] das Gute zu würdigen wissen“ (Mose 6:55); dass wir lernen, umkehren und heranreifen, zu Geschöpfen werden, die fähig sind, selbst zu handeln, statt einfach auf sich einwirken zu lassen (siehe 2 Nephi 2:13). All dies, um letztendlich das Böse zu überwinden und zu zeigen, dass wir willens und fähig sind, ein celestiales Gesetz zu befolgen.
Voraussetzung hierfür ist, dass wir erkennen, was gut und was böse ist, und imstande sind, zwischen den beiden Möglichkeiten zu wählen. Dazu gehört auch, dass wir für getroffene Entscheidungen Rechenschaft ablegen müssen. Sonst wären es keine Entscheidungen im eigentlichen Sinn. Um eine Entscheidung treffen zu können, sind wiederum Gesetze vonnöten, die in vorhersehbare Ergebnisse münden. Wir müssen in der Lage sein, ein bestimmtes Ergebnis oder Resultat zu erzielen, indem wir eine Entscheidung treffen und etwas Bestimmtes tun. Sich gegensätzlich zu entscheiden muss auch ein entgegengesetztes Ergebnis nach sich ziehen. Wenn eine Tat keinerlei festgelegte Folgen nach sich zieht, hat man das Ergebnis nicht im Griff und die Entscheidung an sich ist belanglos.
Gesetz und Gerechtigkeit
Alma hat Gerechtigkeit und Gesetz bedeutungsgleich verwendet: „Nun kann das Werk der Gerechtigkeit [also die Anwendung des Gesetzes] nicht zerstört werden; denn sonst würde Gott aufhören, Gott zu sein.“ (Alma 42:13.) Gottes Macht erwächst aus seinem vollkommenen Verständnis des Gesetzes – mit anderen Worten, von seiner Gerechtigkeit – und dessen Anwendung. Wir brauchen die Gerechtigkeit Gottes. Sie besteht aus einem System fester, unveränderlicher Gesetze, an die er selbst sich hält und die er anwendet. Nur dadurch haben wir Entscheidungsfreiheit und können sie ausüben.2 Diese Gerechtigkeit bildet die Grundlage unserer Handlungsfreiheit und ist der einzige Weg, der uns letzten Endes zum Glück führt.
Der Herr sagt hierzu: „Was durch Gesetz regiert wird, das wird auch durch Gesetz bewahrt und durch dasselbe vollkommen gemacht und geheiligt.“ (Lehre und Bündnisse 88:34.) Allerdings müssen wir eingestehen, dass niemand von uns stets und ausnahmslos „durch Gesetz regiert“ wird. Wir können nicht ernsthaft erwarten, dass Gesetz und Gerechtigkeit uns bewahren und vollkommen machen, denn wir haben das Gesetz gebrochen (siehe 2 Nephi 2:5). Da unser Vater im Himmel nicht nur gerecht, sondern auch von Liebe bewegt ist, hat er als Ausweg die Barmherzigkeit geschaffen. Zu diesem Zweck hat er seinen einziggezeugten Sohn als Sühne für unsere Sünden dargeboten. Mittels seines Sühnopfers konnte Jesus Christus die Forderungen erfüllen, die die Gerechtigkeit an uns stellt, und uns mit dem Gesetz in Einklang bringen. Somit unterstützt und bewahrt es uns wieder und spricht uns nicht schuldig. Alma hat erklärt:
„Und nun konnte der Plan der Barmherzigkeit nicht zuwege gebracht werden, wenn nicht ein Sühnopfer gebracht wurde; darum sühnt Gott selbst für die Sünden der Welt, um den Plan der Barmherzigkeit zuwege zu bringen, um die Forderungen der Gerechtigkeit zu befriedigen, auf dass Gott ein vollkommener, gerechter Gott sei, und auch ein barmherziger Gott. …
Aber es ist ein Gesetz gegeben und eine Strafe [also eine Folge] festgesetzt und eine Umkehr gewährt; auf diese Umkehr erhebt Barmherzigkeit Anspruch; andernfalls erhebt die Gerechtigkeit Anspruch auf das Geschöpf und wendet das Gesetz an, und das Gesetz verhängt die Strafe; wäre es anders, so würden die Werke der Gerechtigkeit zerstört, und Gott würde aufhören, Gott zu sein.
Aber Gott hört nicht auf, Gott zu sein, und die Barmherzigkeit erhebt Anspruch auf die Reumütigen, und die Barmherzigkeit wird wegen des Sühnopfers zuteil.“ (Alma 42:15,22,23.)
Die Reumütigen sind natürlich all jene, die Verantwortung übernehmen und durch ihre Umkehr für sich seine Barmherzigkeit in Anspruch nehmen.3 Anders ausgedrückt heißt das: Indem wir umkehren, nehmen wir für uns das gnadenreiche Geschenk der Vergebung in Anspruch, und dieses wiederum kann der gerechte Vater im Himmel uns anbieten, weil sein geliebter Sohn für unsere Sünden gesühnt hat.
Das Sühnopfer Jesu Christi
Durch das Sühnopfer Jesu Christi können wir uns von schlechten Entscheidungen wieder erholen. Auch werden durch das Sühnopfer Jesu Christi die Auswirkungen der Sünden und Fehler unserer Mitmenschen sowie sämtliche anderen Ungerechtigkeiten wiedergutgemacht. Um vollständig geheilt und geheiligt zu werden, brauchen wir einen Erretter. Die Antwort auf unsere Frage lautet also: „Nein, Gott kann, um jemanden zu erretten, nicht einfach handeln, wie es ihm beliebt. Willkür und Gerechtigkeit schließen einander aus. Wäre er nicht gerecht, wäre er nicht Gott. Daher müssen Errettung und Erhöhung so zustande gebracht werden, dass dem unveränderlichen Gesetz, also der Gerechtigkeit, entsprochen wird und es beibehalten wird. Dank sei Gott, denn er hat die Gerechtigkeit beibehalten, indem er einen Erretter vorgesehen hat!“
Hierzu sei angemerkt, dass sich Luzifer in der großen vorirdischen Ratsversammlung nicht als unser Erretter angeboten hat. Er wollte nicht stellvertretend für uns leiden oder sein Blut vergießen oder gar für uns sterben. Ihm lag nicht daran, die Gerechtigkeit zu verkörpern, sondern er wollte selbst zum Gesetz werden.4 Luzifer sagte zum Vater: „Gib mir deine Ehre.“ (Mose 4:1.) Meiner Meinung nach wollte er damit sagen: „Gib mir das Recht zu herrschen“, wobei er beabsichtigte, diese Macht willkürlich auszuüben. Was immer er zu einem bestimmten Zeitpunkt festgelegt hätte, wäre dann Gesetz gewesen. So wäre keiner in der Lage gewesen, eigene Entscheidungen zu treffen. Luzifer wäre der Höchste gewesen, und niemand sonst hätte sich weiterentwickeln können.
Jesus hingegen hatte verinnerlicht, dass seine Brüder und Schwestern nur dann vorankommen können, wenn unveränderliche Gerechtigkeit mit unveränderlicher Barmherzigkeit Hand in Hand geht. Der Vater und er legten Wert darauf, keinen Zwang auf uns auszuüben oder uns zu beherrschen, sondern uns vielmehr zu befreien und aufzurichten, damit wir „über allem [sind]“ und beim Vater „alle Macht haben“ (Lehre und Bündnisse 132:20).
Wie sehr sollten wir uns doch freuen, dass der Erstgeborene im Geist bereit war, zum einziggezeugten Sohn im Fleisch zu werden, auf unfassbare Weise zu leiden und einen schmachvollen Tod zu sterben, um uns zu erlösen! In vollkommener Weise führt er Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zusammen. Er errettet uns von – und nicht in – unseren Sünden (siehe Helaman 5:10,11; siehe auch Matthäus 1:21).
Zudem erlöst er uns vom Fall – vom geistigen und vom körperlichen Tod. Er stößt die Tür zu Unsterblichkeit und ewigem Leben auf. Seine Liebe ist so tief, dass niemand sie ermessen kann. „Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. …
Er wurde durchbohrt wegen unserer Vergehen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Züchtigung auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jesaja 53:4,5.)
Ehre sei Gott
Nun steht Weihnachten vor der Tür, und mir ist klar, dass sich manch einer vielleicht Sorgen macht und auch ein wenig Zukunftsangst hat. In Ihrem Alltag mag es laut und geschäftig zugehen. Vielleicht sind Sie – ohne jemals zur Ruhe kommen zu können – beinahe immer online. Ihnen fehlt vielleicht die Zeit, innezuhalten, nachzudenken und nachzusinnen, in sich zu gehen und zu erkennen, wo Sie sich befinden und wohin Ihr Weg Sie führen soll. Möglicherweise lassen Sie sich ja von unrealistischen Erwartungen beeinflussen – etwa „Vollkommenheit muss sofort erreichbar sein“ oder „Glück und Erfolg ohne Unterlass müssen der Normalfall sein“.
Ich hoffe, Sie entledigen sich dieser irrigen Vorstellungen, kommen zur Ruhe und wenden in der Adventszeit mindestens eine Stunde auf – es darf auch ruhig ein wenig mehr sein –, um über „die herrliche Erhabenheit des Gottessohnes“5 nachzudenken. Möge diese Stunde Ihnen Zuversicht und Erneuerung bringen.
Vor einigen Jahren schrieb ich in der Vorweihnachtszeit:
„Wenn wir über die Geburt Jesu Christi sprechen, richten wir unser Augenmerk gewöhnlich auf das, was folgte. All das, was er erfahren und erleiden sollte – bis hin zu seiner Kreuzigung und seiner Auferstehung –, damit er uns besser beistehen könne (siehe Alma 7:11,12), machte seine Geburt so bedeutsam. …
[Doch] halte ich es [auch] für angebracht, zur Weihnachtszeit einfach nur an das Kind in der Krippe zu denken. Lassen wir uns nicht zu sehr von dem erdrücken oder vereinnahmen, was die Zukunft bringt. … Schaffen Sie sich einen ruhigen, friedlichen Moment und sinnen Sie über den Beginn des Lebens Jesu nach – den Höhepunkt himmlischer Prophezeiung und den Anfang seines Wirkens auf der Erde.
Nehmen Sie sich Zeit, sich zu entspannen, Frieden einkehren zu lassen und sich das Jesuskind vorzustellen. Lassen Sie sich nicht zu sehr von dem einnehmen, was später in seinem Leben geschieht – oder was in Ihrem Leben [anstehen mag]. Gönnen Sie sich stattdessen einen ruhigen Moment, um über den wohl friedevollsten Augenblick der Weltgeschichte nachzudenken, als sich der ganze Himmel über die Botschaft freute: ,Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens.‘ (Lukas 2:14.)“6